Sibiriens wilder Osten

 

Es war einmal im fernen Osten, da begab es sich, dass ein einzelner Kosak die Steppen und die Taiga des schier unendlich weiten Russlands durchstreifte. Er war einer von fünf Brüdern, die von zu Hause fort gegangen waren, um ihr Glück in der Welt zu machen. Drei dieser Brüder sind in der heutigen Welt noch weithin unbekannt. Ihre Geschichten müssen erst noch entdeckt werden. Einer von ihnen ist aber als ein fahrender Zahnarzt auf Urlaub in die Heldengeschichten des Wilden Westens eingegangen. Und so wird es auch dieser Kosak. Sein Name war Juri, Juri Petrowitsch Janow, Jura kurz genannt, aber das nur von guten Freunden und ärgsten Feinden. Doch bekannt wurde er später im Ausland erst als Jurijanoff, vor allem weil Vatersnamen nur in Russland wichtig sind und weil man diesen Namen als Kürzel ansah, denn er ging so melodisch über die Zunge.

Es handelte sich um die Zeit des großen Aufbruchs. Mächtige Städte wie Irkutsk, Omsk, Tomsk oder Krasnojarsk waren bereits blühende Zentren an den Handelsknotenpunkten, Nowosibirsk kurz vor seiner Gründung und so manchen, ehrlichen Goldgräber und Diamantenschürfer zog es immer weiter in den Osten. Doch auf jeden aufrechten Mann kamen zwei Schurken, ein Soldat, vier Bauern, drei Händler, fünf Handwerker und eine halbe Hure.

Nahe Omsk hatte es sich vor nicht allzu langer Zeit zugetragen, dass ein gewisser Mikael Strogoff, seines Zeichens selbsternannter Kurier des Zaren, das Riesenreich zwischen zwei Ozeanen vor bösen Intrigen errettete. Nun hatte dieser Kosak hier nicht das Gleiche im Sinn, ja nicht einmal ansatzweise. Aber Omsk erschien ihm als lohnenswerter erster Halt, um die Möglichkeiten des Glücks auszuloten – seines eigenen Glücks natürlich. Daher zog es ihn auch sogleich in eine dunkle Ecke der matschigen Straßen, wo den Besucher die Fenster nicht mehr reich verziert und in freundlichen Farben einluden, sich aber allerlei Gesindel herumtrieb. Natürlich besaß ein Kosak auch ein Pferd und zwar ein stolzes! Nichts sonst zeichnete ihn aus als dieses brave Tier. Daher band er es auch sogleich und versorgte es mit frischem Hafer, noch bevor er selbst etwas aß. Seine schweren Stiefel verteilten den Matsch in alle Richtungen und die umstehenden Beobachter erfreute das nicht gerade, doch nicht zuletzt sein mächtiger Säbel hielt sie davon ab es ihm allzu übel zu nehmen. Die Spelunke betretend entledigte er sich nur seiner dicken Bärenfellmütze, behielt die geknöpfte Jacke dagegen an.

„Wodka!“, war das einzige Wort, das er dem Gastwirt zurief, als er noch nicht ganz in der Stube stand. Sein Blick schwiff umher um brauchbare Gestalten auszumachen, doch niemand von Wert saß hier in diesem Schuppen und so beließ er es vorerst bei der gebrannten Flüssigkeit. Flüchtig fiel ihm dabei eine Frau im Augenwinkel auf, die in einer dunklen Ecke vorbeihuschte. Oder hatte er sich nur getäuscht? Wenig später wurde jedoch „Nadeschda“ angekündigt, als großes Highlight des Abends. Viel Platz zum Tanzen gab es nicht, kaum dass sie ihre samtenen Beine richtig zeigen konnte. Doch es reichte um bereits nach wenigen Minuten die Meute hungrig auf mehr zu machen. Und wo Alkohol auf Männergelüste trifft, da vergreift sich auch schnell einer im Rock, was ihm allerdings schlecht bekam. Denn schon kriegte er es mit ihren wirbelnden Absätzen der Stiefeletten zu tun und schmeckte die Folge seines Tuns. Als es dem nächsten ebenso erging murrt die Menge auf und erst der Säbel eines Kosak war nötig um sie zurück zu halten.

„Bevor wir jetzt alle verrückt spielen“, sprach Juri bestimmt, „vergessen wir mal kurz unseren Anstand nicht.“ Die Meute kuschte, während sich Nadeschda von dannen machte, doch lange konnte er die aufgebrachten Männer so nicht beschäftigen, weshalb er sich mit vorgehaltenem Faltstahl aus edler Schmiede seines ehrenwerten Großvaters, eines weitläufigen Verwandten eines jener Zarensoldaten, die einst… na ja, jedenfalls schuf er sich den nötigen Raum in Richtung des Ausganges. Das Pferd war zum Glück gesattelt und gefüttert, so dass er sich ohne weiteres absetzen konnte.

Nun gut, erfolgreich geht anders, zumindest aber hatte er seine Ehre bewahrt. Demnächst musste aber Geld her, denn seine Vorräte neigten sich bedenklich und dann könnte er die Ehre nicht länger beachten. So trug es sich allerdings zu, dass auf seinem Weg ein Mann vor einem Leichnam kniete. Er hielt eine Kette mit einem Kreuz daran befestigt in der Hand, so viel konnte Juri erkennen, da er achtsam vorbei ritt. Weil sich sonst niemand umher aufhielt, wollte er dieses Leid erfahren und vielleicht teilen helfen, denn es erschien dem Kosak wie Schicksal, dass er diesen Gesellen hier traf:

„Sprich zu mir: was ist geschehen?“

Der Knieende vollendete sein Gebet und drehte den Kopf empor:

„Sie war meine Tochter bis vor wenige Stunden, als man sie steinigte, weil sie sich einem Manne hingab, der ihr die Heirat versprach, selbst aber schon ein lebendiges Weibe hat.“

„Und du warst der Priester dieser Gemeinde?“, versuchte Juri den Sachverhalt zu klären, denn er erkannte den Talar.

„So ist es. Doch nicht länger kann ich der Hirte dieser schwarzen Schafe sein! Sie haben sich an der Menschlichkeit vergangen. Mögen ihre Werte auch biblischer Herkunft sein, aber menschliche Vernunft, wie sie Kant erkannte, ist das nicht länger!“, machte er seinem Zorn Luft. Juri sann kurz nach, dann meinte er:

„Was wirst du also nun tun? Eine neue Gemeinde suchen?“

„Mein Leben ist an einem Scheidepunkt, wie mir scheint. Gott straft mich oder prüft mich. Den Unterschied kann ich gerade nicht erkennen. Aber er wird weiterhin mein Mittelpunkt bleiben, mehr denn zuvor, als mein Töchterlein noch lebte. Aber zu predigen fehlt mir die Kraft.“

Er stand mühevoll auf, legte den Talar ab und bat:

„Hilf mir ihre Gebeine zu beerdigen, dass sie in Anstand ruhen kann. Dann hält mich hier nichts mehr, besonders nicht bei Leuten, die dem Alten Testament zu sehr verfallen sind.“

Juri stieg also ab und nahm ernst und behutsam den Leichnam auf, um ihn zu einem nahen Hügel zu tragen. Gemeinsam hoben sie das Grab aus und beschwerten es mit Steinen, während der alte Priester noch ein paar letzte Verse sprach und seinen geweihten Umhang hinterher warf.

„Komm mit mir in den Osten. Mein Ziel ist fern, denn bis jetzt kenne ich es noch nicht und vielleicht findest du auf dem Weg dorthin deinen Frieden oder zumindest neue Zuversicht. Ich bin Juri Petrowitsch Janow.“ Die raue Kosakenstimme sprach freundlich und wie immer bestimmt, aber konnte den Priester nicht erschrecken. Dieser erwiderte so freundlich er an einem solchen Hiobstag sein konnte:

„Jewgenij Dimitrewitsch Zergin. Danke für dein Angebot, ich werde es vorerst annehmen, doch kann ich keine Werte beisteuern außer seelischem Bestand und Fürbitte an den Herrn.  Ich besitze noch nicht einmal ein Ross.“

„Plage nicht dein Gemüt mit derlei Nichtigkeit. Wir werden dir ein gutes Pferd beschaffen. Bis dahin hat mein Brauner allemal die Kraft dich mit zu tragen.“

Schon bald führten sie die Wege des Herrn auf ein altes Gut, das schon seit Jahren verlassen schien. Die Taiga wächst langsam, aber hier hatte sie sich den Hof angeeignet. Nur die Scheune stand noch einigermaßen wettertauglich umringt von weißen Stämmen. Der Hunger trieb sie voran, doch die Nacht war schon nah, weshalb Juri sprach:

„Komm, Schenja, lass uns ein paar Stunden ruhen. Der Hunger wird uns in dieser Zeit wenigstens nicht plagen.“

„Mir soll’s recht sein. Das Reiten noch dazu auf einem einzigen Sattel ist meinen Knochen noch nie lange wohl gewesen“, gab der Geistliche zur Antwort.

Das Erkunden des Gutes ergab erstaunlicherweise ein menschliches Anwesenheitszeichen, denn drinnen standen fünf Pferde angeleint und wohl genährt. Solange sich beide noch nicht darüber einig waren, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen sein möchte, wollten sie doch die Nacht ruhig im Heu verborgen verbringen und der Dinge harren, die kämen.

Und so erschienen mit der Dämmerung auch fünf zu den Pferden gehörende Männer. Zwei von ihnen hatten Soldatenuniform an, doch Deserteure waren es wohl nicht, die sich vielleicht anderen Banditen angeschlossen hatten. Vielmehr schienen sie drei Gefangene zu eskortieren. Denn beide setzten sich abseits der unbeweglichen Gestalten in eine andere Ecke und sprachen nur untereinander. Sie machten ihrem Unmut darüber Luft mit diesem Gesindel im Nacken auch noch nach Omsk zu müssen! Wo es doch von aufsässigen Dekabristen dort nur so wimmelte. Juri dagegen sah in diesem Gespräch eine Gelegenheit:

„Schön, sie wollen in die andere Richtung. Das bedeutet, man wird uns nicht folgen, wenn wir uns eines ihrer Reittierchen bemächtigen und es nach Tomsk zurückschaffen.“

„Du willst kaiserliche Pferde stehlen? Die Strafe für solchen Verrat am Zaren wird fürchterlich sein!“, erwiderte der Pfaffe bestürzt.

„So willst du dir den Arsch weiter wundreiten?“, entgegnete Juri, „Und ich werde dir noch etwas sagen: wir werden zwei Pferde mitnehmen, dass sich diese Verbrecher allesamt ihrerseits auf einem Gaul den Hintern zerscheuern.“

Je mehr Jewgenij darüber nachdachte, umso weniger missfiel ihm der Gedanke. Und so warteten sie bis die Soldaten das Feuer gelöscht hatten und allesamt im Schlummer versunken waren. Kurz bevor sie sich ans Werk machen wollten, erklang die Stimme einer der beiden:

„Mir macht es Sorgen, dass wir die anderen zwei entkommen ließen.“

„Das erzählen wir einfach nicht dem Hauptmann“, beruhigte ihn der andere.

„Das sowieso nicht, nur was ist mit den Rachegelüsten, wenn sie uns des Nachts meucheln?“, sorgte sich der erste Soldat weiter.

„Morgen sind wir in Omsk und ohne Pferde werden sie uns heute Nacht nicht erreichen“, mahnte ihn sein Kamerad und schnarchte sich in den Schlaf.

Das war noch mal gut gegangen. Nicht nur, dass die noch unentdeckten Wanderer nicht aufgespürt wurden, auch die unnötigen Probleme mit abwechselnden Wachen wurden ihnen erspart. Rasch waren Pferde, Waffen und Proviant umgesattelt und zwei behaarte Seelen samt ihren Reitern nach Tomsk unterwegs.

„So werden die Soldaten denken, die anderen beiden Gauner hätten sich ihre Pferde zurückgeholt und die Kameraden ihrem Schicksal überlassen“, erklärte Juri genüsslich dem immer noch wenig erfreuten Priester. Dieser erwog hingegen:

„Warum haben sie dann aber nicht alle Pferde mitgenommen, jedoch genügend Wegzehrung für den Ritt nach Omsk übrig gelassen? Nein, was immer auch passieren wird, unser Handeln wir nicht folgenlos bleiben“, und nach einer Weile fügte er noch hinzu: „Aber mein Gesäß dankt es dir trotzdem.

In Tomsk dagegen erkannte man die Pferde und niemand wollte eines abkaufen, um sich nicht an Diebesgut der Hehlerei mitschuldig zu machen. Sein eigenes Ross zu versetzen brachte der Kosak Juri aber auch nicht übers Herz und so zogen sie noch immer mit zu wenig Ausrüstung und Mahlzeiten, aber zumindest einem Ersatzgaul weiter gen Osten nach Mariinsk.

 

Die Sonne schien mit jedem Tag weniger, der kurze Sommer neigte sich dem Ende und so musste der lange Winter möglichst weit südlich verbracht werden. Dazu aber war es nötig Geld oder Nahrung aufzubringen. Denn bei Schnee lässt sich nur schwer jagen. Immer wieder unternahmen die beiden daher Streifzüge durch die Taiga um mit Fallen und selbst gebauten Bögen Kleintiere zu erlegen. Nur in seltenen Fällen, wenn ein Hirsch ihren Weg kreuzte, griffen sie zur Muskete oder wenn sie sich gegen Raubtiere beziehungsweise Menschen hätten erwehren müssen. Obwohl es eher Juri war, der solcherlei Arbeit erledigte und allenfalls dem Priester ein paar Lektionen gab, damit dieser nicht auf der Stelle von einem Bären gefressen oder von Wölfen zerfetzt wurde.

An einem Tage im Herbst zwischen Tomsk und Mariinsk, fernab von Dörfern oder Wegen vernahmen sie immer wieder eine Art Brüllen in den höher gelegenen Regionen, mieden jedoch diese Laute, bis es von Westen her zu schneien begann. Die aufziehende Kälte trieb sie daher ins östliche Bergland, wo das dumpfe Brüllen verschwand. Ein Fels diente ihnen dort der Rast und des Ausblicks über die Wälder – durchaus ein erhabener Anblick. Als erneut ein nun umso heftigeres Brüllen einsetzte. Verwundert schauten sie über den Rand des Felsens und erkannten etwa dreißig Meter unter ihnen einen mächtigen Braunbären aufrecht auf den Hinterbeinen stehen und nach einem umso kleiner wirkenden Manne schlagen. Dieser aber, oberkörperfrei und ohne Waffe, wich nur ab und an den mächtigen Tatzen aus und schien auf etwas zu warten.

„Wo ist die Muskete? Wir müssen dem Kerl helfen“, forderte Jewgenij erregt.

„Lass die Waffe vorerst ruhen“, meinte Juri vom Kampf gebannt, „mir scheint wir gehören nicht in dieses Stück.“

„Aber der da unten wird zerfetzt werden! Er ist unser Nächster und wir versündigen uns vor Gott, wenn wir nichts tun.“

Jewgenij sprang energisch auf.

„Dies hat nichts mit deinem Gott zu tun. Nicht alle glauben an das gleiche. Der Kerl da unten scheint mir genau zu wissen, was er tut und wahrscheinlich geht dieser Kampf schon einige Zeit, wenn du dich an das Brüllen heute Morgen erinnerst.“

Jewgenij konnte das aber nur schwer akzeptieren und während er überlegte, wer nun Recht hätte und was zu tun sei, stieß er mit seinen hektischen Bewegungen einen ellendicken Steinbrocken von der Klippe. Krachend polterte dieser die Felswand herab und blieb vor den Füßen der beiden Streiter liegen. Diese schauten beide ob der Dinge, die da noch kommen mochten und während der Mensch andere Artgenossen droben zu erkennen glaubte, hieb der Bär erneut einen mächtigen Schlag. Der haarlosere beider Krieger konnte nur noch reflexartig ausweichen, wurde aber trotzdem von der Wucht der Bärenpranke hinfort geschleudert. Während er so einige Momente besinnungslos lag, näherte sich Meister Petz – selbst für einen solchen Gefährten riesig anzusehen und jetzt erst als solches zu erkennen, als er seine Länge für die Beobachter droben auf vier Beinen zeigte. Nun wollte auch Juri zum Gewehr greifen, da er glaubte den Kampf durch Jewgenij unrechtmäßig beeinflusst zu haben. Doch ein ergrimmter Brüllschrei und das Aufbäumen des Bären ließ ihn erschrocken innehalten. Da sah er auch schon einen langen Holzpflock aus dem Rücken von Meister Petz ragen, bevor dieser heftig zu Boden sank. Schnellstmöglich suchten die zwei Beobachter einen Weg hinunter um nach dem schwer verletzten Sieger zu sehen. Unten schließlich, nach einigen, beschwerlichen Minuten des Kletterns angekommen, sahen sie den Menschen über dem Bären knien und einige Worte murmeln, die nicht ansatzweise Russisch klangen. Die langen Haare des Mannes schimmerten schwarz und waren auf dem Rücken nur rasch zusammengebunden. Seine Füße steckten in Fellstiefeln und die Hose schien aus ähnlichem Material zu sein, nur außen glatt. Sein Oberkörper dagegen war an einigen Stellen bemalt, an manchen dauerhaft, wie es schien. So auch im Gesicht, das sie besser sahen, als er sich umdrehte und auf die beiden Wanderer zu sprechen kam. Den ersten Falten nach zu urteilen mochte er vielleicht einige vierzig Winter zählen.

„Gruß euch. Mich rufen Manhoki, Ewenke“, begann er, „Haben ihr Stein schleudern?“

„Nun ja“, erwog Juri noch, ob er es zugeben sollte, denn einige unschöne, blutige Kratzer klafften im Gesicht des Ewenken, die vermutlich dicke Narben werden würden. Doch schon kam Jewgenij in ehrlicher Priestermanier ihm zuvor:

„Ja und es war keine unserer Absichten, denn auch Sie hätten ja getroffen werden kön…“

„Kann euch nicht Dank sagen, aber auch nichts Schuld. So ich treffen Bär in Herz, was sonst schwer zu tun.“ Währenddessen streift Manhoki sich die Jacke über, denn es war Herbst und der anstrengende Kampf vorüber, als der Schnee die drei Menschen auch schon eingeholt hatte und zu fallen begann. „Bär und ich nicht von hier. Lange Verfolgung von Süden, von Dungoska. Bären dort schon immer schrecklich. Aber dieser wild unter meinem Volk. Große Unruhe in letzter Zeit. Weissagung bald kommen.“

Juri wunderte sich und Jewgenij spitzte ungläubig die Ohren:

„Welche Weissagung?“

„Großes Sterben werden kommen. Wenige Winter noch übrig. Doch Ewenken werden bleiben, denn das unsere Aufgabe um dieses Gebiet schützen.“ Die Worte Manhokis erschreckten Juri nicht so sehr, denn er dachte: ,Solange es nur die Dungoska-Region betrifft, kann es dem Rest der Welt ziemlich egal sein.‘ Jewgenij allerdings hatte theologische Einwände:

„Derlei Weissagungen stehen dem unchristlichen Heiden nicht zu! Nur vom Allmächtigen selbst auserwählte Propheten können den Willen des Herrn verkünden.“

„Wer glaubt dieser Mann ist er, das zu wissen?“, erkundigte sich der Ewenke ruhig. Noch bevor der Priester einen Glaubenskrieg vom Gatter brechen konnte, schritt Juri ein und stellte sich vor:

„Ich bin übrigens Juri Petrowitsch Janow, ein Kosak auf dem Weg nach Osten. Und mein Gefährte hier ist Schenja, ein hoher Priester des orthodoxen Glaubens.“

„Ich kein Schaman‘ wie du, Schenja hoher Priester, aber auch Götter mir helfen, wenn sie mögen. Und du Jurijanow, nicht auf Suche nach glänzend Metall?“

Manhoki bewies eine bemerkenswerte Menschenkenntnis und Juri fühlte sich beschämt über das Verlangen nach Materiellem, diesem Naturmenschen gegenüber. Manhoki aber fuhr fort:

„Keine Lügen! Alle auf Suche nach etwas. Unser Wille gleich wie unser Antrieb, egal was. Es zeigen unsere Herkommen und Leben. Das nicht gut oder schlecht.“

Jewgenij war am Ende! So viel Heidentum auf einmal ließ sich kaum ertragen, aber er wusste nicht, was er dem entgegen halten sollte, denn hier wurde ganz bewusst das zentrale Dogma der Kirche von einer Unterteilung der Welt in recht und schlecht geleugnet. Noch dazu befand er sich in tiefster Wildnis, fernab jeder geweihten Stätte und beschloss daher sich zunächst zu fügen und nachzudenken. Denn es schienen auch christliche Werte in diesen Worten zu stecken, wenn er das auch freilich nicht zugeben konnte. Die nächste Zeit aber waren sie ohnehin beschäftigt damit den Bären zu zerlegen und seine Einzelteile zu den Pferden zu schaffen. Manhoki behielt nur die Klauen, die Fänge und die Kopfhaut für sich. Alles andere teilte er gleich mit Juri und Jewgenij. Juri wollte ihm dafür das dritte Pferd anbieten, aber der Ewenke sprach:

„Du sagen, ihr wollen nach Osten? Ich mitkommen. Meine Aufgabe hier fertig. Nun zu heilig Insel und großen Geist fragen Schicksal zu ändern.“

„Wohin willst du genau?“, fragte Jewgenij nun interessiert

„Dort, wo alt Wasser weit nach Norden gehen. Dort auch glänzend Metall, was ihr lieben“, lautete die Antwort.

 

Dies war dann also das Dreiergespann, dessen beide Flanken aus entgegen gesetzten Religionen bestand, während in der Mitte ein Ungläubiger die Gruppe zum gemeinsamen Ziel führte: noch weiter nach Osten. Zu Essen hatten sie nun reichlich und wenn es demnächst auch irgendwann knapp werden sollte, wusste Manhoki Neues aus den Wäldern zu beschaffen. Aber auch er konnte der harten Kälte nicht gänzlich trotzen. Während sie Mariinsk lange hinter sich gelassen hatten und Krasnojarsk als nächster Wegpunkt voraus lag, traf sie das Schneetreiben doch allzu hart. Mächtig zog es vom Altai-Gebirge heran und warf alles ringsumher in einen weißen Wattebottich. Da kam ihnen eine aufgegebene Goldgräbersiedlung gerade Recht, die sich in einen Talkessel versteckte vor den rauen Winden des Kontinents. Ein halbwegs erhaltenes Häuschen mitten in der Ortschaft, geschützt vor Wind und Wetter wurde von den dreien mit einer zusätzlichen Schicht Holz verstärkt und am Dache mit übrigem Bettzeug ausgestopft, um die Wärme des aus dem Nachbarhauses beschafften Ofens hinne zu halten. Das Bärenfleisch wurde raus gehangen, sorgfältig in Stücke zerteilt, um dort vom Frost getrocknet zu werden. Feuerholz gab es noch reichlich zwischen den Hütten. Doch andere nützliche Gegenstände waren rar. Nur mit Mühe ließ sich ein Bestecksatz für zwei Leute finden, denn einer von ihnen kannte derartiges ohnehin nicht. Anscheinend haben die vorigen Bewohner diesen Ort nicht überstützt verlassen. Aber eine weitere Muskete fand sich zwischen altem Gerümpel, wohl als Müll deklariert, da das Zündschloss fehlte und auch der Rest ziemlich verrostet war. Doch nach einigen Tagen Reparatur hatte Juri als erfahrener Schütze diese Makel behoben und zeigte dem Priester, wie damit umzugehen sei, denn ohne Waffe in Sibirien solch weite Strecken zurückzulegen konnte in dieser Zeit nicht als ratsam gelten. Manhoki wiederum lehrte die beiden den Umgang mit Speer und Fallen und verbesserte Juris Bogentechnik. Das Bärenfleisch war zwar nach einigen Wochen aufgebraucht, aber die ewenkische Jagdkunst sorgte stets für Nachschub. Und so hätte der ganze Winter vergehen können, wenn nicht Manhoki eines Abends von der Jagd frühzeitig zurückgekehrt wäre und verlauten ließ:

„Fremde kommen in großer Zahl aus Richtung, wo wir im Vorwinter Sieg über Bären!“ Juri hakte nach:

„Welcher Art sind sie?“ und bekam Antwort:

„Alle tragen gleiche Kleider, außer Gefangene. Du dich zeigen wollen oder ruhig bleiben?“

„Das sind Soldaten des Zaren. Solange sie nicht von uns wissen, umso besser. Die Gefangenen gehen uns nichts an. Die meisten sind vermutlich Dekabristen. Doch in die Politik will ich mich nicht einmischen und mit Geheimbünden schon gar nichts am Hut haben“, erklärte er die Lage, „Löscht das Feuer, dass kein Rauch mehr aufsteigt.“

So zog der Tross langsam und ruhig, fast gespenstisch durch diese Geisterstadt und würde nur Fußspuren und den einen oder anderen Pferdeapfel der Offiziersgäule hinterlassen haben, wenn sich nicht eine kleine Gruppe Gefesselter hätte losreißen können und zwischen die Häuser entflohen wäre. Ein paar Soldaten konnten sie dabei überwältigen, einige wohl gar endgültig, bevor sich die gesamte Kompanie mit Geschrei von Befehlen und Schüssen in der Ortschaft versprengte. Die drei Einwohner harrten erst einmal der Geschehnisse, bis die Flüchtenden auf die Idee kamen in  ihrem Häuschen ausgerechnet Zuflucht zu suchen.

„Wer seid ihr?“, fragte Juri indes scharf und schob gleich hinterher: „Verschwindet wieder!“

„Du kannst doch niemanden von der Türe weisen, schon gar nicht in solcher Situation der Not!“, hielt ihn Jewgenij an. Während Juri ihm einen ernsten Blick zuwarf, klickte schon der Spannhahn eines zaristischen Vorderladers in Banditenhand. Die passenden Worte dazu:

„Genau. Kannst du nicht, Jura. Komm schon, leg das rostige Ding einer altertümlichen Muskete weg, sonst verletzt du noch jemanden! Deinen Säbel kannst du ja behalten.“

Woher kannte er diesen Kerl und noch viel wichtiger: Woher kannte dieser Juri?

„Erinnerst du dich an Omsk vor ein paar Monaten? Da hast du für diese Kleine eine große Lippe riskiert. Dabei hat sie mir den verdammten Kiefer gebrochen mit ihren Absätzen! Ach ja…“ mahnte die verbissene Stimme, „Falls du versuchst die Soldaten für dich zu gewinnen, werden wir die Waffen strecken und behaupten, ihr hättet uns geholfen zu fliehen, was ihr in gewisser Weise ja auch getan habt.“ Ein Grinsen flog über die schiefe Gusche, wurde jedoch jäh von einem ewenkischen Akzent und einem Geschoss gestört, das knapp daneben im Gesicht eines seiner Begleiter einschlug:

„Nicht, wenn ich auch schießen.“

Wenig später erscholl aber noch ein Schuss und Manhoki stürzte seinerseits zu Boden. Doch wenn die nunmehr nur noch zweieinhalb ursprünglicheren Einwohner nicht wegen Pferdediebstahls am Zareneigentum von den Soldaten gleich mitgenommen werden wollten, mussten sie wie die entflohenen Gefangenen jetzt auch handeln und das Weiteste suchen, das sich finden ließ. Fix war der blutende Ewenke aufgeladen und die Pferde gesattelt, ehe die Soldaten das Überwinterungsquartier stürmten. Jewgenij konnte gerade noch sehen, wie sich die Banditen mit den Soldaten ein Gemetzel lieferten. Doch sicher wähnte sich die Gruppe darüber nicht, welche der Parteien den Sieg davon tragen würde, zumal sich die restlichen Gefangenen aus Unwissen über die wahrhaft verbrecherischen Hintergründe der Aufrührer auf deren Seite schlagen würden.

„Wenigstens kennen uns die Soldaten nicht“, ermunterte Juri die angeschlagenen Kameraden.

„Nur haben wir unseren Jagdexperten fast verloren und Gebete helfen bei dieser prekären Wunde leider nicht viel“, gab Jewgenij zu bedenken.

„Na, du wirst doch kein Mitgefühl für diesen ewenkischen Heiden entwickeln, was Schenja?“, erheiterte sich Juri. Doch in Wahrheit machte er sich ernsthaft Sorgen was Manhokis Durchhaltefähigkeiten anging, denn nach Krasnojarsk war es noch ein weites Stück Weg. Eine Stunde Galopp im Schnee später meinte Jewgenij:

„Halten wir kurz, Manhokis Wunden hören nicht auf zu bluten. Wir müssen es zumindest noch einmal verbinden.“

„Du hast Recht“, sprach Juri und streifte den schweren Wintermantel ab um sein Hemd von der Brust zu reißen und damit die linke Schulter des stark geschwächten Freundes so gut es ging zu verarzten. Kaum dass sie fertig waren, als schon das Gezeter von Reitern und schnaubenden Rössern im Schnee vernommen werden konnte. Juri wusste, dass es zu spät und zu weit für eine Flucht war. Daher suchte er fieberhaft nach einer schnellen Idee, als sein Blick auf ein Seil in seiner Satteltasche fiel. Die Pferde wurden von Jewgenij weiter vorgeschickt um nicht aufzufallen und im rechten Augenblick spannte Juri das an zwei Bäumen quer über den Weg verlegte Ende um den Reitern abrupt aus dem Sattel zu helfen. Doch hatte er nicht mit derart vielen gerechnet. Von den fast zwei Dutzend Pferden hatte er vielleicht acht zu Fall gebracht. Der Rest stand nun vor ihm und lachte ob der vorgehaltenen Muskete.

„Was nun?“, fragte einer höhnisch, „Willst du uns alle mit einer Kugel aus deinem Vorderlader wegpusten?“ Da krachte auch schon der erste Schuss und der Sprecher kippte vom Pferd. Doch Juri hatte nicht geschossen, nur denken konnte er sich, dass Jewgenij zurückgekommen war und aus dem Hinterhalt gefeuert hatte. ‚Hoffentlich nur lädt er schnell genug nach‘, dachte Juri bei sich, damit die Meute glaubte, dass nicht nur einer ihm den Rücken stärkte. Als der zweite Schuss einen Banditen aus der Mitte der Ansammlung traf, merkte schon keiner mehr, dass der dritte Schuss aus Juris Muskete gleich danach stammte. Schon stoben die Meuchler von dannen und der am Boden krepelnde Rest wurde vorsorglich aus seinem derzeitig bewussten Erleben beseitigt. Zwei der Pferde hatten sich dagegen wieder aufrichten können und dienten kurzer Hand als Reserve für die Reise. Noch aber lag einige Stunden nächtlicher Ritt vor ihnen und mindestens ein weiteres Dutzend Verfolger hinter ihnen, sobald diese wieder eine Formation gefunden hatten. Ein kurzes „Gut gemacht“, seitens Juris an seinen erfolgreichen Schülerschützen musste hierbei reichen um dessen Wertschätzung auszudrücken.

In Krasnojarsk schließlich noch vor Sonnenaufgang angekommen wurde der erstbeste Arzt aus dem Bett geholt, nachdem man dem Nachtwächter die Situation erklärt hatte und vorsorglich das zaristische Brandmal der Pferde verbarg. Es war ein Chinese, dessen Hilfe man hier zu dieser Tageszeit nur bekam, aber solange er tat, was zu tun war, um Manhoki ins Reich der Lebenden zurückzuholen, waren alle auch noch so fernöstlichen Methoden recht. Teng Hin lautete sein Name und jung war er obendrein, aber seine Bemühungen waren ohne Nachahmung, zumal zu solch unchristlicher Stunde. An eine Weiterreise konnte seiner Meinung nach jedoch nicht gedacht werden. Daher bot er an, nachdem er die Umstände gehört hatte, den Verfolgern mit Gift beizukommen. Zwar würde sein Ruf in dieser Stadt dann dahin sein, aber sie hatten ihm ohnehin nicht getraut. Doch es dauerte einige Tage, bevor die ersten Reiter in Krasnojarsk ankamen und Juri entschied sie ziehen zu lassen, denn hinter sich würden die Banditen niemanden vermuten, zumal in der Stadt niemand von ihnen Notiz genommen hatte. Zu früh am Tage waren sie letzte Woche angekommen und bei Teng Hin untergetaucht, nur angelockt vom Schild mit dem Äskulapstab über der Tür, der sich durch das Tai-Chi-Symbol für Yin und Yang schlängelte. Ohne die Bedeutung dieses Symbols zu erkennen, kamen auch die Gegner hier hindurch.

„Kommt geschwind, wir wollen euch alsbald gesunden lassen. Eure Freunde haben schon Bescheid gegeben, dass ihr Hilfe bedürft. Aber sie mussten rasch weiter“, erklärte sich ihnen Teng Hin und seine Absichten. Etwas verwundert über die wohl ungewohnte Fürsorge zögerten die Schelme, willigten jedoch ein, schon weil sie hier keinen andern Arzt kannten und die Behandlung schon bezahlt schien.

„Ich würde euch ja am liebsten länger hier behalten, aber die anderen Reiter wollten euch schnellstmöglich in Irkutsk treffen und sie haben nur Geld für einen Tag da gelassen“, fügte Teng Hin zu, als er ihr Zögern interpretiert hatte. Tatsächlich ließ sein scheinbar krämerischer Profitgedanke die Verwundeten schon sehr viel entspannter werden. Noch entspannter sahen sie aber erst aus, als das Gift gewirkt hatte und ihre Köpfe auf den Tischen lagen – zwar noch mit dem Körper physisch verbunden, doch so leblos als seien sie es nicht länger. Wieder einmal war es Jewgenij, der sich allerdings dafür eingesetzt hatte, dass eine nicht letale Substanz zum Einsatz kam, zum Verdrusse Juris.

Da waren es nur noch neun und der Ewenke hatte sich auch wieder gut genug erholt um reiten zu können. So brachen sie denn erneut auf, bevor der Rest der Meute kam, dennoch zwischen den Fronten. Der Winter zeigte sich in seiner Hochphase und mit dicken Zelten aus Rentierfellen trotzten sie dem Frost. Selbst Manhoki tat sich schwer noch Wild zu finden und so blieben sie oft Tage an gleichen Ort. Doch es schneite nicht mehr. Denn dafür war es bereits zu kalt geworden. Nun aber kamen sie besser voran als im Tiefschnee. Die Meute vor ihnen schien Irkutsk noch vor dem harten Teil des Winters erreicht zu haben, denn weder Fußspuren noch Kadaver von Pferd oder Mensch waren zu sehen. Teng Hin hatte gut zu tun Frostbeulen zu heilen und die seine Mitstreiter vor Erfrierungen zu bewahren. Nur Jewgenij fühlte sich oft nutzlos, denn niemand brauchte hier einen Diener Gottes. Entweder andere Religionen erfüllten diese Aufgabe oder ein Allmächtiger wurde komplett von Juri verleugnet. Nur ab und zu konnte er Juri mit einem Rat zur Seite stehen oder einfach seine Gedanken verstehen, weil sie dem gleichen Kulturkreis entstammten. Daher hatte es für sie auch von Bedeutung das heilige Jolkafest in einer Siedlung mit anderen zu feiern, gerade Jewgenij als Priester und Zeremonienmeister käme dann wieder eine bedeutendere Aufgabe zu. Entsprechend trieben sie die Gemeinschaft voran, wenn auch der Ewenke das nicht recht verstehen konnte, doch auch Teng Hin sehnte sich wieder nach einer Stadt. So schafften sie es tatsächlich zur Jahreswende Irkutsk zu erreichen. Was für ein Anblick erwartete sie dort! Der glitzernde Schnee auf den Dächern der zahlreichen Holzhäuser mit reichen Schnitzereien und Verzierungen. Dazwischen golden blinkende Kuppeln der Zwiebeltürme und natürlich die einzigartige Kusnezow-Kathedrale zur Ikone der Gottesmutter von Kasan, die seinerzeit noch stand. So hatte denn auch der Bürgermeister der Stadt zu einer großen Feier auf seinem Anwesen geladen (damals noch etwas entfernt vom Zentrum). Jewgenij ging wahrlich fast das Herz über beim Anblick derlei mannigfaltiger Variation von Gotteshäusern, wenngleich es ihn auch nachdenklich stimmte, dass der Prunk wiederum vom eigentlichen Zweck, nämlich der Verehrung Gottes, ablenkte. Dennoch knüpfte er sogleich erste Kontakte mit der örtlichen Gemeinde und organisierte der Reisegruppe Quartier und Kost in einem der Pfarrhäuser. Natürlich ließ er es sich auch nicht nehmen das Angebot der Irkutsker Kirchenvertreter über eine Gastpredigt anzunehmen, in der er zunächst noch die Schandtaten der dekabristischen Halunken anprangern wollte. Als man ihm dann aber deutlich machte, wie angesehen diese Menschen hier aufgrund ihres Kulturbeitrages zur Architektur, Malerei, Musik und Theater sowie zur Entwicklung der Stadt zum Herzen Sibiriens gewesen ist, musste er sein vorschnelles Urteil über die gemeinsame Verdammung der Dekabristen mit gemeinen Verbrechern einsehen. Daher stellte er sein Vorhaben kurzer Hand um und sprach stattdessen von der Gefahr der Vorverurteilung aller aufgrund von Taten Einzelner und von den edlen Tugenden, die im einfachen Leben auf dem Land und unterwegs auf Reisen in den Menschen hervortreten können.

Derweil sah sich Teng Hin nach den Zutaten für seine zweite große Leidenschaft neben der Medizin um; dem Feuerwerk. Die wenigen chinesischen Einwohner hatten nur ein Geschäft, wo er die meisten der nötigen Ingredienzien erstehen konnte, den Rest aber musste er selbst improvisieren. Manhoki hatte mit dieser Stadt nichts weiter zu schaffen, darum bereitete er sich auf die Zeremonie auf Olchon vor und beschuf alles Nötige mit Hilfe von Fellen zum Tausch. Und Juri hörte sich nach jüngsten Berichten von Goldfunden um und genoss nebenher das Tavernenleben der festlichen Stadt.

Wie auch jeden Abend zu dieser Zeit im Pfarrhaus fanden die Kameraden auf der großen Abschlussgala des Bürgermeisters Sukatschow wieder zusammen, und Juri staunte nicht schlecht, als er dort tatsächlich Nadeschda tanzen sah. Doch bevor er sie nach ihrem Auftritt sprechen konnte, zündete Teng hin seine Raketen und die Menge stand unbeweglich mit den Augen gen Himmel gerichtet, so dass für den kräftigen Kosaken trotz aller Anstrengung kein Durchkommen war. Also nahm er das prächtige Farbenspektakel über der verschneiten Stadt eher als störend wahr, denn es lenkte seinen Blick auf Nadeschdas Verbleib empfindlich ab. Doch seine Bemühungen wurden belohnt, als er sie an ihrem Kleid in einer Seitenstraße erkannte und ihr heim nachfolgen konnte. Es handelte sich um eine heruntergekommene Behausung, wie man sie so in Irkutsk nicht erwartet hatte, aber wie er sie auf seinen Streifzügen in den letzten Tagen des Öfteren sah. Allerdings konnte er Nadeschda nicht mehr erreichen, bevor sie die Tür hinter sich versiegelte. Zwar wollte er schon klopfen, doch dann erklang eine weitere bekannte Stimme:

„Ich sagte zwar, dass du sofort nach dem Tänzchen herkommen solltest, aber das Feuerwerk hättest du dir schon noch ansehen können“, sprach der Wicht aus Omsk, den Juri hinter Marriinsk verladen hatte, „Meine zukünftige Braut soll schließlich nicht aller Freuden entbehren.“ Diese Worte zu vernehmen stachelte ihn nur noch mehr an sich irgendwie bis zum Fenster heran zu wuchten, um sich zu vergewissern und ihr Gesicht dabei zu sehen. Denn er konnte sich partout nicht vorstellen, dass sie diesen Knilch freiwillig ehelichen sollte.

„Ich habe gehört dieser Kosak sei auch in der Stadt“, sprach er und es hörte sich dumpf an, wie aus einem anderen Zimmer.

„Und?“, vernahm er sie unüberrascht fragen.

„Und überrascht dich das nicht? Ich dachte du freust dich“, hatte dieser Kerl das gerade wirklich gesagt?, „zu hören, dass ich weiß, wo er sich versteckt hält und gleich nachher noch vor dem Morgengrauen mitsamt dem Pfaffen und diesem ewenkischen Bastard erledigen werde.“ Ah, das klang schon anders… aber Moment! Das bedeutete ja schon wieder Flucht, oder konnte er diesem verfluchten Sauhund vielleicht einen Hinterhalt legen? Während er so darüber nachdachte, öffnete sich unter ihm die Haustür und noch bevor er sich zu einer schnellen Tat hinreißen lassen konnte, verschwand der Schurke in der Nacht. Jewgenij wäre vermutlich stolz gewesen auf seine Zurückhaltung der Affekthandlung gegenüber, aber Juri fluchte über sich selbst. Wenigstens konnte er nun mit Nadeschda reden und klopfte ans Fenster:

„Nadeschda, Nadeschda! Nun öffne schon, es ist eisig hier draußen!“

Es brauchte einen Moment, bevor sie begriff und dann riss sie rasch das Doppelglas auf.

„Wie kommst du hier her?“, erstaunte sie sich.

„Das wollte ich dich auch fragen! Zuletzt sah ich dich in Omsk dieses Nichtsnutzes erwehren und nun feierst du bald Hochzeit mit ihm? Eigentlich kam ich aber, weil ich dich vorhin tanzen sah und mit dir reden wollte!“ Diese Erklärung ließ sie erröten. Doch setzte sie an:

„Nachdem du aus Omsk flohst, hat mich niemand mehr beschützt und er hat es noch mal probiert mich zu erobern, nur dann mit Charme und ich verzieh ihm.“

Verblüfft stand Juri im Raum. Das passte nicht in sein Weltbild von gut und böse und er stand fassungslos da:

„Das heißt er hat dich nicht erst entführt, dann noch verführt und ich hab also umsonst damals meinen Hals riskiert?“

„Nun, woher sollte ich denn wissen wo du warst? Wenn er mich wollte, hätte er mich auch anders bekommen und so zog ich meinen Vorteil daraus. Sie schaute Mitleid erregend. „Aber nun weiß ich, dass du lebst und dir was an mir liegt. Daher und weil du schon vorher für mich gekämpft hast, will ich mit dir gehen.“ So recht wusste er nicht, was von diesem Verhalten zu halten sei, aber sie war die einzige Frau weit und breit, die ihm zugesagt hatte und so wollte er diese Gelegenheit nicht vergeuden. So einfach denkt nun mal der Mann. Dass aber eine Frau derart abwägend nicht dachte und das gleich gar nicht ihrem Liebsten mitteilen würde, kam ihm bei weitem nicht in den Sinn. Also konnte er sich auch im Traum nicht vorstellen, dass sie ihn vielleicht nur benutzen könnte, aus welchem Grund auch immer und daher nahm er sie mit ins Pfarrhaus und sie berieten sich mit seinen Gefährten.

„Wenn der Spitzbube heute Nacht also hier auftaucht, werden wir ihn zunächst einlassen und wenn er nichts ahnend meucheln will, schlagen wir zu“, so Juris Plan.

Manhoki stimmte nickend zu, er mochte Fallen und wollte Rache für seine Wunde. Aber Jewgenij und Nadeschda waren dagegen. Nadeschda widersprach zuerst:

„Ist das nicht zu grausam? Einen Mann einfach hinterrücks zu erschlagen?“

„Er hatte dasselbe mit uns vieren vor!“, verteidigte sich Juri.

„Sie hat Recht“, hakte Jewgenij ein. „Selbst wenn er es so plant, dürfen wir uns nicht auf das Schlechte einlassen und uns auf seine Stufe stellen.“ Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Darum fragte Juri den Chinesen:

„Teng, was hältst du von meinem Plan?“

„Frage mich nicht. Ich habe weder dafür noch dagegen Argumente. Mich berührt sein Tun nicht.“

So stand es unentschieden. Juri aber wollte eine schnelle Entscheidung treffen und bohrte nach:

„Du musst doch aber eine Meinung dazu haben. Immerhin hätte es dich auch getroffen, wenn ich das nicht zufällig erfahren hätte.“

„Aber es ist noch nicht geschehen und wir wissen nicht sicher, ob er es getan hätte. Wie können wir ihn also für etwas verurteilen, das er noch nicht begangen hat? Im Zweifel will ich keines Menschen Leben nehmen. Deshalb bin ich dagegen, so du eine schnelle Antwort willst.“

Das bedeutete also erneut die Flucht. Juri behagte es gar nicht derart gehetzt zu sein, denn eigentlich fühlte er sich als Jäger. Aber da auch seine erwählte Nadeschda dagegen war, fügte er sich. Noch im Dunkeln brachen sie auf und niemand bemerkte, wie ein Zettel mit den Worten „Ольхон“ und „Байкал“ auf einer Kommode liegen blieb.

Wären sie unterwegs nicht alle so in Gedanken gewesen, Juri im Sinnen über Nadeschdas Verhalten und im Zweifel seiner Autorität, Jewgenij über die Dialektik von Gut und Böse und das Für und Wider von notwendigen Morden, Manhoki über die Rituale auf der heiligen Insel und Nadeschda hin und her gerissen zwischen zwei Männern, sie hätten die wunderbare, wenngleich bizarre Landschaft des Baikals erlebt: Im mittäglichen Sonnenschein lag eine weiße Ebene vor ihnen, nur am Rand mit dunklen Bäumen bestanden. Ab und zu tauchten an den Rändern wirre Eiszapfen auf, wie ein Nadelkissen hingesetzt. Wo der gefrorene See das Ufer traf, schoben sich manchmal Schollen Meter hoch empor und Baikalrobben tummelten sich dort drauf des Öfteren. ‚Wegzehrung‘, dachte sich Manhoki jedes Mal bei ihrem Anblick und lud Juri zur Süßwasserrobbenjagd. Da die Gefolgsleute auf dem gefrorenen See lief um schneller voran zu kommen, mussten sie auch unter Eishöhlen und mächtig in den See ragenden Felsen hindurch und konnten sich ein Loch ins Eis bohren, um frischen Omul zu angeln. Klar wie ein Spiegel erschien dann die erstarrte Wasseroberfläche und nicht einmal Manhoki wusste von den Wassermassen und der Wassertiefe, über die sie dort stapften. Die Woche Reisezeit verflog so wie der kalte Atem im Wind und bevor sie die heilige Insel Olchon erreichten, mahnte Manhoki vor dem Zorn des einheimischen Geistes:

„Bedecken Hufe von Gäule mit Wolle oder Fell, damit Geist nicht erwecken und machen auch sonst kein Lärm.“ Seine Stimme erklang ernst und feierlich. „Niemand das dürfen: Höhle von Schamanka zu betreten, worin Geist ‚Hute Babaj‘ wohnt. Dennoch ich müssen das wagen ihn bitten um Hilfe gegen Prophezeihung und ihn dort besuchen. Ihr draußen warten, auf Berg Zhima, Jungfrauenfels und Kap Choboj dort darauf achten, dass niemand mit Lärm stören.“

So geschah es denn, dass Manhoki die Höhle betrat, Nadeschda das Kap aufsuchte, Teng auf den Berg Zhima kletterte, Jewgenij vor der Höhle wartete und Juri den Jungfrauenfels bestieg, so die vereinbarte Aufteilung. Manhoki würde mit seiner Besänftigungszeremonie und dem Beschwörungsritualen ohnehin einige Stunden, wenn nicht einen ganzen Tag brauchen. Juri derweil wählte nicht umsonst den Jungfrauenfels. Seine Erkundigungen in Irkutsk hatten ergeben, dass dort große Goldadern existieren sollten, sich bis jetzt aber noch niemand getraut hatte sie auszubeuten, da keiner wagte den Zorn des Geistes auf sich zu ziehen. Nun aber war dieser beschäftigt, wenn man an Geister glauben mochte, und außerdem würde Juri ohne Werkzeug sowieso keinen Stein brechen können.

Doch nach einer Weile des Suchens fand sich kein korngelbes Metall und da auch kein Eindringling am Horizont zu erkennen war – wer sollte sich auch im tiefsten Winter hierher verirren? – blieb Juris Blick an etwas anderem hängen. Dort auf der anderen Seite der Insel, im so genannten „Kleinen Meer“ schien ein Schiff zu liegen. Das musste er sich genauer ansehen und merkte dabei gar nicht wie die Stunden auf dem Weg dorthin verrannen. Denn seine Aufmerksamkeit war von dem Boot wie gefesselt. Es musste sich wahrhaftig um ein gesunkenes Wikinger-Drachenschiff handeln. Er kannte solche Überreste vom Schwarzen Meer, wo die Nordmänner ebenfalls ihr Unwesen getrieben hatten. Und auch er selbst entsprach in seiner Erscheinung mit dem dunkelblonden Schopf, der stämmigen Figur und dem Barte eher einem Angehörigen dieses Volkes. Vielleicht waren sie über das Nordmeer in den Jenissej und dann den Angara als einzigen Ausfluss des Baikal hier her gelangt und anschließend gestrandet. Oder hatten sie hier in Wirklichkeit die ersten Siedlungen oder gar Irkutsk gegründet? Bei Erkundung des Schiffes war jedenfalls nicht allzu viel zu finden, denn bestimmt zwei Drittel davon lagen unter Wasser im Eis eingeschlossen. Aber ein paar güldene Ringe und Kriegsgegenstände konnte er sich aneignen. Selbst schmückte er sich so mit einer mattgoldenen Gürtelschnalle und Armreifen, bevor er wieder zur Höhle aufbrach.

Dort erwartete man schon seine Ankunft, allerdings nicht, wie er sich erdacht hätte, bereit zum Aufbruch, sondern sein Erzrivale harrte am Eingang bereit.

„Falls du dachtest du kannst mir die Frau stehlen und damit durchkommen, hat deine Einfältigkeit nun am Höhepunkt hier ihr Ende“, bekam Juri zu hören und sah, wie weitere Helfer umher standen und die anderen festhielten. Doch wenn der Gegenüber von Einfalt sprach, hatte er dabei nicht in Betracht gezogen, dass auch seine eigenen Leute damit geschlagen sein könnten. Denn just jetzt erklang zuerst ein Grummeln in der Höhle und gleich darauf ein Feuerschein, von verschiedenen Tierstimmen begleitet. Neben denen von Elchen und Falken konnte man auch Wölfe und Bären hören, so dass die Irkutsker Gefolgschaft und bald auch die anderen Anhänger des Feindes es mit der Angst bekamen, ihre Gegenstände und Pflichten als Gefangenenwärter fallen ließen und das Weite suchten. Da sich der Oberschurke nun allein sah, musste zur Abwechslung nun einmal er die Flucht vor der Übermacht ergreifen und Nadeschda zurücklassen:

„Nun gut, diese Mal habt ihr gewonnen, aber ich werde mir wiederholen, was mein ist, nicht war meine Süße?“ und küsste sie noch einmal, bevor er sich aufs Pferd schwang und verschwand. Juri hatte selbst Schuld an der Misere und war sich dessen auch bewusst, weil er seinen Posten verlassen hatte. Andererseits wäre er sonst auch gefangen worden. Also kam es aufs Gleiche raus. Daher wusste erst einmal niemand etwas zu sagen, bis Manhoki das Wort erhob:

„Durch diese Störung Hute Babaj böse und mir nicht helfen. Wir hier nichts mehr zu tun.“ Verärgert und betrübt setzte sich der Ewenke auf einen Stein neben der Höhle. Juri überkam dabei kurz der Einfall, dass es in der Höhle mehr freie Goldadern geben könnte und so wollte er einen Blick riskieren, jetzt da das Unheil ohnehin nicht mehr abzuwenden war. Doch Manhoki intervenierte:

„Dieses vorbei! Wenn du Geist noch mehr stören, Katastrophe auch noch schlimmer werden!“

„Was also sollen wir tun?“, klagte Juri.

„Nichts, außer weit weg sein“, grummelte der Ewenke.

„Also schon wieder fliehen?“, bemerkte Juri zynisch.

„Über das meiste Geschehen auf Erden haben wir nun mal keine Gewalt“, warf Jewgenij ein, „das obliegt allein Gott.“

„Oder Geister von Natur“, ergänzte Manhoki.

„Schön, dass ihr endlich mal einer Meinung seid. Zumindest die Wikinger scheinen einst Beute in diesen Landen gemacht zu haben“, erwähnt Juri und zeigte seinen Fund an Ringen. Sofort horchte Nadeschda auf und meinte: „Dann lasst uns doch deren Weg nehmen!“

„Warum nicht“, Manhoki zeigte sich interessiert, „keine zwei Werst von Seeufer Fluss Lena beginnen und gehen über Jakutien bis in Eismeer. Vielleicht wissen Tschuktschen dort Rat. Und dort weit weg von hier. Und viel Gold“, schürte Manhoki die Hoffnung, auch im Hinblick auf den enttäuschten Kosaken.

Teng Hin und Jewgenij stimmten ein und so machten sie sich auf die Quelle der Lena zu suchen, jenes mächtigen Flusses, der die gesamte Entwässerung Ostsibiriens noch immer dominiert, mit einem der größten Einzugsgebiete der Erde und der schließlich in einem 100 Kilometer mächtigen Delta ins mystische Eismeer vergeht. Da nun im Winter jedoch jegliche Wasserwege zum selben erstarrt und der Fluss nahe der Quelle ohnehin noch zu klein zum Befahren gewesen wäre, bauten sich die fünf Menschen hier ein Boot nach Chinesenart mit kosakischen Einflüssen. Es konnte mit seinen Kufen von Pferden gezogen werden, lag aber mit den dadurch entstehenden zwei Rümpfen gleichzeitig stabiler im Wasser und erinnerte nicht von ungefähr an jene polynesischen Boote, die einige Jahrhunderte zuvor zur Eroberung der Südsee verwendet wurden. Zusätzlich hatten sie eine Art Hütte auf den Rümpfen gebaut, wo man in einer mit Steinen bewehrten Feuerstelle gegen die eisigen Temperaturen anheizen konnte.

Monate vergingen auf diese Weise, während sie dem Lauf der Lena gen Osten folgten. Tatsächlich näherte sich Nadeschda nun Juri an, anfangs nur um ihren Verehrer zu trösten, dann wohl in Ermangelung eines anderen stattlichen, kaukasischen Mannes. Außerdem hätte Juri niemanden auf diesem Boot an Nadeschda rangelassen. Währenddessen fanden die anderen regen Gefallen am Austausch der Philosophien, die mit einem abendländisch-abrahamischen Kirchenvertreter, einem buddhistisch angehauchten Daoisten und einem heidnischen Naturreligionsschamanen im Beginnerstadium (da Manhoki sich jetzt zwangsläufig ob der drohenden Gefahr mit dem Schamanismus auseinandersetzen musste) nicht unterschiedlicher sein konnte. Philosophisch lernten sie jeder für sich etwas dazu, vor allem aber lernten sie technisch aus einer anderen Sichtweise auf die Welt zu blicken.

Nirgends jedoch konnte Juri geeignete Felsen erblicken, die Gold enthalten hätten und irgendwo mitten in der Wildnis, tausende Meilen weg von jeglicher Zivilisation auf Gutdünken zu graben war nicht sein Verständnis von schnellem Reichtum. Daher befuhren sie den Fluss – nun aufgetaut – bis Jakutsk, wo sich ihre Wege allesamt getrennt hätten, wenn nicht bereits ein alter Bekannter bereits am Ufer bereit stünde, nun mit einer wahren Armee an Gefolgsleuten:

„Und so halte ich mein Wort. Ist das vielleicht die große Katastrophe, von der euer Schamane so gerne sprach?“ Wie hatte er wissen können…? Flucht kam dieses Mal nicht mehr in Frage. Und so hatte Juri wohl endgültig verloren. Aber da das Leben oft so viele Überraschungen bereithält, trat am anderen Lenaufer eine  weitere Versammlung von Soldaten an, die nur auf diesen Moment gewartet zu haben schien. Ein mächtiger Kanonenschuss ins Wasser zeigte wie ernst es denen war und erste Schiffe voll mit Zarensoldaten verließen das Ufer, allen voran eines direkt auf den Katamaran aus Baikalbirkenholz zusteuernd. So entschloss sich auch Juris Erzrivale zur Verhandlung und steuerte den Zweibaum an, auf dem skurriler Weise wie auf einem Eiland Juri auf seinem Braunen saß und die Ankunft der anderen beiden Parteien erwartete. Ein köstliches Bild, das später von einem Militärmaler des Zaren in Öl festgehalten wurde und heute in der Tretjakow-Galerie zu bewundern ist.

„Nichts ist wie es scheint“, begrüßte der General die beiden verdutzten Reisenden und die restliche Gefolgschaft. Er war der Vater Nadeschdas und hatte von ihr noch in Irkutsk erfahren was vor sich ging. Daher schlug sie auch die Fahrt auf der Lena vor und da die Armee ohnehin zur Stabilisierung der Situation in Alaska für die Verhandlungen des Kaufs durch Amerika ausgesandt worden war, konnte auf diese Weise gleich ein Bürgerkrieg verhindert werden (so viel zum Nutzen von Armeen zur Stabilisierung der Staatsgewalt).

Bei süßem Tee ganz nach Mongolenart in Jakutien und natürlich dem obligatorischen Wodka wurde nun geredet. Hauptverhandlungspunkt war natürlich Nadeschda. Da man sie nicht zerteilen konnte und sie sich nicht entscheiden wollte, einigte man sich darauf sie abwechselnd zu vereinnahmen. Juri wollte ohnehin hier in der Gegend nach Gold suchen und da Nadeschda von ihm auf der Lena geschwängert worden war, konnte er sie haben, solange sie Juris Spross geboren und ein paar Monde oder Winter aufgezogen hatte, bevor dieser mit Juri auf Goldsuche und Bärenjagd in die Taiga gehen würde. Danach würde sie mit dem fremden Rivalen durch die Städte tingeln und als Tänzerin auftreten, bis sie irgendwann einmal – vielleicht – wieder zu Juri zurückkäme.

„Hast du Angst, dass dieses Doppelleben nicht gut geht?“, fragte sie ihn später.

„Solange du es schaffst das zu tun ohne einen der Beteiligten inklusive dir selbst zu vernachlässigen, soll es mir egal sein“, antwortete er in einem tiefen Verlangen nach Frieden. „Denn es ist dein Leben und dein Bedürfnis mehrere Menschen zu lieben. Aber besser wäre es, ich wüsste nichts davon.“

Jewgenij blieb noch eine Weile in Jakutsk um zu missionieren und die vorläufige Scheinehe zwischen Juri und Nadeschda zu trauen (da bis heute eheliche Verhältnisse dort höher geachtet werden), bevor er wieder nach Irkutsk zurückkehrte um vielleicht Patriarch zu werden.

Manhoki indes machte sich auf zu den Tschuktschen, die Lena entlang und dann zum Kolyma. Teng Hin hingegen zog es weiter bis zu dieser entlegenen Metropole in Fernost, zuerst zur Küste und dann dort entlang mit dem Katamaran nach Magadan, für ihn hingegen fast schon in der Heimat. Von dort wollte er dann nach Kalifornien, doch was daraus wurde…

 

Wie göttlich könnte es am Schluss sein, wenn man am Ende eines Streites einsehen würde, dass nichts, aber auch wirklich rein gar nichts unserer eigenen Wünsche oder derer für unser Volk oder unsere Überzeugung oder Religion im Universum wirklich zählt und wir deshalb unseren Standpunkt nicht kompromisslos verteidigen müssen. Dann könnten wir immer zu einer friedlichen Lösung gelangen, egal wie groß unsere Verluste oder Rachegelüste sind. Aber dann hätten wir ja das Paradies und das Leben wäre langweilig. Also Schluss mit der Moral und dem Hippie-Gesülze!