Урал

Erst der Anfang von Russlands Weite und Zeugnis uralter Kontinentalität

Prolog

Uralreise
Uralreise

Die Ziele werden nun immer riskanter. Nachdem unsere Reisegruppe um Steffen, den Extremphysiker auf der Suche nach immer neuen Grenzbereichen, in der Vergangenheit in Gebiete vorgestoßen ist, die abseits der meisten bekannten Touristenorte lagen oder zumindest selbst im Insiderbereich der wagemutigsten Überlebenskünstler als schier suizidäre Herausforderung galten, sucht er permanent weiter nach noch gefährlicheren Erfahrungen im Leben. Ich fürchte am Ende erwartet uns alle der Tod. Mit dieser Gewissheit folgen wir ihm erneut ins Ungewisse.

Es war dieses Mal schwer Leute für diese Expedition zu überreden. Die Mannschaft besteht nur aus den erprobtesten aller Verrückten. Keiner von uns hat mehr etwas zu verlieren. Allein deshalb zieht es uns auf dieses Himmelfahrtskommando. Dass unser Anführer sein Leben der unbedingten Wissenschaft gewidmet hat, dürfte der Öffentlichkeit nach zahlreichen Abenteuern hinreichend bekannt sein. Aber wie steht es um die Gefolgschaft? Zumindest ich habe mich das gefragt. Wer sind diese zukünftigen Helden und was treibt sie an? Nun, es ist nicht viel über sie bekannt und wie bei allen guten Figuren der großen Geschichten werden sie umrankt von allerlei Geheimnissen und dunklen Vergangenheiten, die nur bruchstückhaft zu Tage treten, im Laufe der folgenden Geschehnisse. Ich werde sie nur kurz vorstellen, denn wer könnte sie besser beschreiben als ihre eigenen Taten!

 

Die auftretenden Hauptpersonen

Aus jugendlichem Leichtsinn freiwillig gemeldet hat sich Stephen, der III. Er kennt seinen Namensvetter noch nicht so lange wie wir anderen. Deshalb war er leicht zu überreden und die Abenteuerlust übertraf noch seine Angst, die ehemalige Mitglieder früherer Forschungsreisen zur sofortigen Absage bewogen hatte. Als Nachwuchsphysiker eifert er seinem großen Vorbild und Expeditionsleiter nach und hofft einmal von dessen Glanz einen Strahl reflektiert zu bekommen. Immerhin stößt er nicht ohne einige Reiseerfahrung dazu. Mit Nicaragua, London und zuletzt Spitzbergen weist er zumindest Mut auf. Möglicherweise wird er überleben. Wir werden sehen.

Johann ist das nächste Gruppenmitglied. Was ihn antreibt? Religiöse Überzeugung oder die Langeweile seines Bürojobs… ich weiß es nicht. Aber als Ältester dieser Gefolgschaft wird ihn vielleicht seine Erfahrung und sein Wissen retten. Jedenfalls hat er den „Bulgarien“-Einsatz damals überlebt. Eine denkwürdige Geschichte war das.

Weil Russland bekanntermaßen so dermaßen fürchterlich erscheint, solange man selbst kein Russe ist, heuern wir eine Einheimische an, die die entlegensten Winkel und seltsamsten Gebräuche kennt, falls wir auf Menschen stoßen sollten. Marina organisiert alles Notwendige vor Ort und ohne ihre Hilfe könnten wir das Erlebte wohl nie erzählen.

 

Anmerkung:

Einige meinen, es ist nicht gut ein Weibsbild dabei zu haben. So manche Expedition sei nicht wiedergekehrt oder verschollen, weil Frauenzimmer der Mannschaft den Verstand zerstörten. Hoffen wir, dass uns dieses Unheil erspart bleibt. Leider versteht Marina nur Russisch. Das heißt nur Steffen kann sich mit ihr unterhalten. Der Rest benutzt nonverbale Kommunikation. Vielleicht können wir so die nötige Distanz waren und dem ansonsten unvermeidlichen Schicksal weiblichen Charmes auf diese Weise entkommen, selbst wenn Steffen ihr verfallen sollte.

 

Wo ist der Rest, wird man sich später vielleicht fragen? Nun, ich erwähnte ja schon, dass es schwer war gute Leute zu finden. Deshalb bin ich der restliche Rest: Expeditionsphotograph, lang gedienter Veteran der ersten Stunde unter Steffens Kommando und verantwortlich für die Gesundheit der Truppe – wenn man das überhaupt sagen kann, denn den Verstand hatten wir schon vorher verloren. Was wohl auch nötig war um sich überhaupt auf solch ein Unterfangen einzulassen! Die schiere Ausweglosigkeit unserer europäischen Gesellschaft treibt mich jedenfalls dazu diesen verzweifelten Ausbruchsversuch zu unternehmen. Die späteren Generationen mögen es mir nachsehen. Vielleicht kommt einmal die Zeit, in der man unsere Gründe versteht.

 

Erstes Kapitel: Aufbruch

Waggonwechsel in Weißrussland
Waggonwechsel in Weißrussland

Der Kalender verzeichnet den 24. August, ein in Zukunft wohl historischer Freitag. Allein zu dieser Jahreszeit aufzubrechen grenzt an purem Wahnsinn. Die Nordostpassage ist bereits unpassierbar. Der Nachtzug bringt uns zur ersten Station: Moskau. Bis dorthin sind es bereits zwei Tage Fahrt. Doch nun sind wir eingestiegen und eine Umkehr ist ausgeschlossen. Das Abenteuer beginnt, unaufhaltsam.

Unterwegs merken wir, dass wir schon eine irrwitzige Verspätung haben. Ich vermute die Sherpas in der Lokomotive wissen um ihr kommendes Verderben. Sie wollen es noch hinauszögern. Doch wir liegen unaufholsam in unserem Zeitplan zurück und das schon zu Beginn der Reise. Dass wir einen Teil unserer Reisekosten dadurch eventuell erstattet bekommen, wird uns wohl nicht mehr viel nützen. Denn „ein toter Gaul trägt niemanden mehr“ - altes Indianersprichwort eines Urgroßbekannten. Stephen III. steigt zu als die Welt im Dunkeln liegt. Es ist Nacht in unserem Staat. Gut, dass wir das ganze Elend nicht mehr sehen müssen und hinter uns lassen!

Tee aus dem Samowar in der Transsib
Tee aus dem Samowar in der Transsib

Die Überfahrt läuft ansonsten ruhig, trotz des geschmuggelten Geigerzählers und der verbotenen Aufklärungskarte. Die Strahlungsintensität und Unzugänglichkeit des Zielgebietes nötigen uns diese Maßnahmen ab. Nur an der weißrussischen Grenze müssen die Waggons in der Relaisstation ausgetauscht werden. Sie sind schon nicht mehr zu gebrauchen. Die Spur verbreitert sich. Hier merken wir zum ersten Mal die Tragweite unserer Reise. Dennoch genießen wir noch die Fahrt. Preisgünstiger Tee wärmt uns und feuert unsere Hoffnungen auf ein Überleben und eine Wiederkehr an.

Zweites Kapitel: Versorgungsstation und Abfahrt zum Basislager

Basiliuskathedrale1                                                                     GUM2 (Glawnij Uniwersalnij Magasin)                                                   Kreml und Lenin-Mausoleum3

26. August. Moskau. An diesem Morgen werden wir staunende Zeugen der herrlichen Basiliuskathedrale1, des GUMs2, des Kremls, des Lenin-Mausoleums und Roten Platzes3 indem wir die größte Metropole Europas betreten, die gleichzeitig Schauplatz so einiger, dubioser Geschichten darstellt. Ich weiß noch nicht was mir lieber ist: diese Großstadt oder die raue Wildnis. Allerdings kann man in dieser Stadt gar nicht erahnen, was hinter ihren Toren im Osten liegt. Ein namenloses Grauen, ein Auge, lidlos und umrandet von Feuer… nein, halt. Das war eine andere Geschichte! Das Grauen liegt in einer weiteren, dimensionalen Richtung: in einer anderen Zeit. Im Moment aber liegt hinter den Toren Moskaus nur unsere nächste und letzte Ausgangsstation: Ufa. Die Abteile des Zuges sind fusioniert, wir fahren nun in der dritten Klasse4. Entsprechend eng müssen wir uns zusammendrängen. Durch das Fenster der Eisenbahn sehen wir endlosen Wald, Steppen, Sümpfe, riesige Flussarme und einzelne Dörfer sich abwechseln. Zwei Tage wird es dauern bis wir in Ufa ankommen. Dort aber empfängt uns die einheimische Adventistendelegation und lädt uns ein bei ihnen im Gemeindehaus zu übernachten. Hinter einer Plattenbausiedlung liegt es, auf dem Berg, den die Menschen mit Stadt be- und umbaut haben5. Die Menschen, auf die wir hier treffen, haben den gleichen Glauben wie Marina. Er orientiert sich am Christentum, aber hat sich wohl im Laufe der Jahrhunderte stark verändert. Zum Beispiel betet man hier vor jedem Essen. Ich habe den Eindruck, dass es auch nötig ist. Man kann nie sicher sein, ob es nicht die letzte Mahlzeit war.

 

3. Klasse der Transibirische Eisenbahn4                                                                                                                                                                                                    Ufa5

Marina, Steffen und einige Mitglieder der Gemeinde besprechen sich des Abends noch über die geplante Reise, während wir anderen Nichtrussischsprachigen uns an die vier Stunden Zeitumstellung gewöhnen. Steffen versucht unseren neuen Freunden derweil friedlich zu vermitteln, dass wir im Ural Proben nehmen wollen. Man zuckt zusammen. Ihre Augen reißen auf und Entsetzen durchzieht ihre Blicke. Als sie versuchen den Namen dieses Gebirges zu wiederholen überlege ich noch einmal kurz, ob das so eine gute Idee war mit der Reise. Denn jedes Mal scheint eine unheilsverkündende Pause einzutreten, wenn jemand das ominöse Wort gesprochen hat. Doch es scheint einen Ausweg zu geben. Ein Sherpa namens Andrej hat die Strecke wohl schon einmal überlebt. Er sei furchtlos und könne uns führen. Dennoch raten sie uns ab dorthin aufzubrechen und bieten uns an in Ufa zu bleiben. Wir haben bereits Zweifel.

Zwar nehmen wir ihr Angebot in Ufa zu weilen zunächst an und lassen uns den botanischen Garten, die Schisprungschanze6 und viele Ehrendenkmäler zeigen. Doch am nächsten Tag wollen wir trotz allem aufbrechen. Nicht umsonst sind wir vier Tage angereist.

 

Schisprungschanze Ufas
Schisprungschanze Ufas

Wir erfahren über Marina, dass sie neben dem harten Leben als Schneiderin auch zur Köchin ausgebildet wurde. Sie kocht noch einmal für uns und neben dem traditionellen Borschtsch bereitet sie uns auch eine Süßspeise, ähnlich den uns bekannten Eierkuchen oder Pfannkuchen. Sie nennen es hier „Plini“ oder so. Wir sind aber unfähige es korrekt auszusprechen und es wird uns daher in Zukunft schwer fallen unseren Bedarf daran zu befriedigen, denn man versteht uns schlichtweg nicht.

Die Fahrt zum Busbahnhof gestaltet sich schwierig. Denn in den Siedlungen dieses Landes existieren so genannte Marschrutkas (in Ermangelung eines eigenen Wortes hat man aus „Marschroute“ ein Gefährt gemacht), deren Fahrer sehr selbstständig über den Fahrplan und das Ziel entscheiden. Daher weiß man vorher nie genau, wo man später landet.

Andrej entschied sich auf der anschließenden Busreise allerdings dazu zehn Kilometer zu früh auszusteigen. Möglicherweise hält er uns für fit genug ein größeres Pensum zu laufen. Wir fühlen uns noch geehrt. Jedenfalls finden wir uns im Nirgendwo wieder. Es wird schon dunkel. Wir müssen uns beeilen, denn noch wissen wir nicht, wo wir das Nachtlager aufschlagen können und welche Gefahren uns des Nachts erwarten. Eine letzte Ansammlung von Häusern liegt auf unserem Weg, danach gibt es vorerst nichts mehr als Wald und Berge. Das Essen hängen wir an einem Baum etwas entfernt vom Lagerplatz auf, um etwaige Tiere von uns fern zu halten und es ihnen etwas schwerer zu machen uns zu berauben. Es wird schon Nacht.

 

Das Ende der Zivilisation - oder der Anfang der Wildnis                              Essensschutz                                                             Die üblichen Hinterlassenschaften

 

Drittes Kapitel: Gratwanderung auf der Suche nach Proben oder Der Zerfall der Gemeinschaft

Die Dunkelheit verlief ruhig. Nun müssen wir aber weiter. Andrej beginnt zu drängen. Ein weiter Weg liegt vor uns. Doch die Sonne scheint und wir kommen gut voran. Erste Proben von Pilzen sind bereits genommen und kartiert. Wir untersuchen sie auf Radioaktivität, Essbarkeit, botanische Arteneinordnung und halten Farbe, Datum, Uhrzeit, Fundort auf Breitenminute und Längenminute genau fest6. Auch wenn es an trinkbarem Wasser nicht mangelt, testen wir es dennoch jedes Mal auf seine radioaktive Zerfallsrate. Die Vorfälle der mittleren Vergangenheit rund um Tscheljabinsk haben uns sensibilisiert. Wir trauen hier keinem Grashalm! Im Untergrund stellen wir vulkanische Aktivität fest: ein Geysir ergießt sich seitens unseres Weges. Das Gebirge scheint noch gefährlicher zu sein als wir angenommen hatten.

 

Pilzprobe6                                                                                                   Schon wieder Nebel7                                                                                              Auflockerung8

Andrej läuft weit voraus. Er hat kein Verständnis für unsere wissenschaftliche Untersuchungen. Vielleicht hält er sie für Hexerei. Zumindest glauben viele Ureinwohner hier nicht an die radioaktiven Vorfälle in ihrer Gegend. Ihre Stammesführer wollen sie wahrscheinlich nicht beunruhigen. Der oberste Häuptling selbst hält die Umstände geheim. Er heißt nach einem Bären (Medwed) und wir fragen uns: Hat er wohl einen Bären bezwungen oder lässt er sich einen aufbinden? Trotz aller Skepsis oder manchem von uns erscheinender Einfalt verzichteten wir auf die Mitnahme von Glasperlen als Gastgeschenke und brachten nur einige Bilder aus der Zivilisation mit. Denn selbst Andrej verfügt bereits über eines dieser Geräte, mit dem man Bilder bunt aufzeichnen kann und er nutzt es begeistert. Doch mir scheint, er verfolgt eigene Pläne und will schnellstmöglich auf den vor uns liegenden Gipfel, um das seiner Meinung nach atemberaubende Naturschauspiel des Sonnenaufgangs zu bestaunen. Ich glaube eher, auf dem Gipfel liegt eine regionale Kultstätte und er will dort nur heimlich seinem Gott huldigen. Wir wollen nicht auf den Gipfel. Er ist von Wolken verhangen und eventuell liegt bereits Schnee. Dafür sind wir nicht ausgerüstet und auch nicht willens, denn ein besserer Weg führt um den Berg herum. Schließlich können wir Andrej am Ende des Tages davon überzeugen mit dem Aufstieg noch bis zum nächsten Tag zu warten und erst einmal am Fuß des obskuren Berges zu rasten. Doch es gelingt uns erst nach einigen Stunden, die wir ihn zurückholen müssen, weil er schon weit voraus eilte und anscheinend heimlich auf den Berg wollte. Als wir ihn später einholen, bedarf es später vieler Worten Überzeugungsarbeit um ihm diese Flausen auszutreiben. Sherpas können hier ziemlich stur sein. Nächstes Mal nehmen wir lieber wieder den Esel für die Lasten.

 

Am folgenden Tag steigen wir gegen unseren Willen doch auf. Steffen findet kaum Worte um Andrej zurück zu halten. Denn der hat sich durchgesetzt, indem er einfach weiter gelaufen ist. Das Wetter wird zusehends schlechter. Zwar liegt kein Schnee, aber dichter Nebel umhüllt uns und Regen zieht auf7. Ein starker Wind setzt uns zu und durchdringt unsere Kleidung. Es gibt kaum noch Vegetation und die Steine sind glitschig. Doch wir können noch nicht umkehren, denn Andrej ist verschwunden. Erst nach langen Erkundungstrips kehrt er zurück und nach dem wir es ein wenig weiter über ein unpassierbares Geröllfeld probiert haben, drehen wir aus Respekt vor dem Berg und der Macht der Natur um. Sie belohnt es uns mit der Auflockerung des Himmels und einem spektakulären Blick8. Doch zurück am Ausgangsort verlässt uns Andrej. Er hat keine Lust mehr uns zu führen. Es beruht auf Gegenseitigkeit. Wir schenken ihm zum Abschied noch einen Löffel und eine Tasse, damit er ein wenig Erleichterung auf seinem Weg hat. Mehr können wir nicht für ihn tun. Denn wie wir später feststellen, hat er die Hälfte unseres Brotvorrates sowieso mitgenommen.

 

Viertes Kapitel: Irrwege auf verlorenen Pfaden

Verseuchtes Wasser?9                                                                             Urtümliche Gewächse10                                                                                           Bartflechten11

Die beständige Angst vor den Bären lässt uns aufmerksam durch die Landschaft trotten. Der Weg wird immer unerkenntlicher, das Dickicht undurchdringlicher. Das Wasser müssen wir schon gar nicht mehr auf Strahlung testen, wir können schon optisch an der Farbe einordnen, dass es besser nicht getrunken wird, denn es ist rostrot eingefärbt9. Eisengehalt und Schwermetallkonzentration liegen vermutlich weit über den Grenzwerten. Schließlich haben wir den Weg ganz verloren. Noch glaubten wir eine Bahn durch Gras und Bäume zu erkennen, doch stellt sich das seit einigen Kilometern als Trugschluss heraus. Wir befinden uns nun inmitten eines Primärwaldes12. Uns umringt eine Ansammlung von urtümlichen Gewächsen10 der ersten Stunde: Schachtelhalme gesellen sich zu Bärlappen, riesige Moose und Farne erfreuen sich der Nachbarschaft von Birken und Fichten, die wiederum mit langen Bartflechten11 behangen sind. Alte Felsen ragen überall herauf13 und der Waldboden ist neben hohen Gräsern übersät von Totholz und Sumpf, was das Vorwärtskommen zusätzlich erschwert. Nur unsere kartographischen und navigatorischen Fähigkeiten mit der Karte führen uns durch diesen Urwald im wahrsten Sinne des Wortlauts. Es erscheint uns unwahrscheinlich, dass jemals zuvor ein Mensch hier gewesen ist. Hilfe können wir nicht erwarten. Und der Tag neigt sich dem Ende. Doch nachdem wir nun öfter das GPS-Gerät eingeschaltet und ich todesmutig auf eine schroffe Klippe geklettert war um eine bessere Aussicht zur Orientierung zu bekommen, setzen wir den Weg zielsicher in nord-nord-östlicher Richtung fort. So schaffen wir es nach Stunden der Wanderung wieder einen Weg zu finden und sind tief erleichtert. Gleich am Weg wollen wir für die Nacht rasten. Leider ist das Holz sehr nass und wir schaffen es kaum ein Feuer zu entzünden. Selbst die Birkenrinde brennt zwar, erlaubt uns aber kein großes Feuer, so dass wir nach einigem Probieren den Gaskocher bemühen müssen um unsere Mägen überhaupt noch mit etwas Warmem zu füllen. Zu diesen Zeiten wird man erfinderisch und so finden wir in der Not heraus, dass man mit einem Feuerzeug und einer Sprühdose schnell und wirkungsvoll zumindest für kurze Zeit eine ganz ordentliche Flamme erzeugen kann. Möglicherweise finden sich noch weitere Verwendungsmöglichkeiten für diese Technik. Als Feuerholz verwenden wir hauptsächlich zwei Birken die eigens zu diesem Zweck von uns ausgerissen wurden.

 

 Die Taiga12                                                                                                      Taigische Einsamkeit13                                                                                            Birkenwald

Der Morgen dieses Sonnabends beginnt regnerisch. Die abendlich entdeckten Fährten entpuppen sich als normale Schuhabdrücke, die durch den Regen lediglich ausgeweitet wurden. Auch die nächtliche Attacke von Bären auf das Zelt von Marina und Steffen stellt sich im Gespräch jedoch als mutmaßliches Wildschweingrunzen heraus. Der Vorfall erschüttert jedoch die Gruppe. Wir werden noch vorsichtiger...

… und die Wege schlechter. Oft sind sie ganz geflutet und es bereitet große Mühe voran zu kommen14. Es regnet schon seit dem Morgen. Die Zelte mussten nass eingepackt werden und die Stimmung sinkt gerade etwas, aber die Hoffnung bleibt zu recht stabil. Denn nach langer Zeit finden wir eines unserer großen Ziele: Den See Sjuratkul. Marinas Schuhe sind durchweicht und auch bei einigen anderen gab es einen Wassereinbruch als wir durch die Flussbette wateten, die hier „Weg“ genannt werden. Selbst russische Schusterkunst muss vor fastsibirischen Wegen kapitulieren. Daher legen wir - auch angesichts des Erfolgs der zurück gelegten Wegstrecke - eine kurze Pause ein. Dennoch müssen wir noch einige Kilometer laufen, denn wir befinden uns gerade erst am Anfang des Sees.

Ein wenig weiter treffen wir auf ein Gruppe rastender Russen. Sie grüßen und scheinen sich unterhalten zu wollen, denn sie laufen offen auf uns zu. Steffen und Marina sind sie nicht geheuer. Dennoch unterhalten sich die beiden eine Weile mit ihnen und finden heraus, dass Andrej von diesen Leuten das letzte Mal gesehen wurde – allerdings schon vor einigen Tagen. Er muss also voraus geeilt sein als sei er vor uns auf der Flucht. Wir anderen bemerken während dieser Neuigkeiten nur der Fremden dürftige und heruntergekommene Bekleidung, trotz derer sie sich als hilfsbereit herausstellen und uns den richtigen Kurs weisen. Direkt an dieser Stelle befindet sich auch eine Wegkreuzung und hinter uns steht eine verlassene Hütte in der es aussieht als wäre darin ein Massaker verübt worden: aufgeschlitzte Matratzen, Müllberge und allerlei Undefinierbares stapelt sich darin und ein unangenehmer Geruch nach Aas strömt heraus. Man hat einen schönen Blick auf den See.

Wissenschaftliche Anmerkung: Uns fallen die Massen an toten Tieren auf (siehe Anhang), die überall auf den Wegen zu finden sind. Mäuse, Maulwürfe, Wiesel (siehe Anhang), Eidechsen. Alles scheint hier zu sterben. Ich habe seit langem keinen Singvogel mehr gehört. Allein ein paar Krähen und Greifvögel sind über uns unterwegs.

 

Wegeflutung14                                                                              Uralischer Staudamm (Sjuratkul)15                                                        optimale Ressourcennutzung:

                                                                                                                                                                                                            "He Wladimir, es ist noch Farbe übrig...

                                                                                                                                                                                                                                 Hast du vielleicht 'ne Idee?"

Noch vor dem Abend erreichen wir das Wasser. Es scheint ein Stausee15 zu sein, auch wenn wir den Nutzen nicht so recht erkennen. Das Dorf daneben bietet zu unserem größten Erstaunen aber zwei Läden, in denen wir Nahrungsmittel erstehen können und einen bewirtschafteten Lagerplatz. Mal schauen, ob unser getauschtes Geld auch hier noch akzeptiert wird. Denn Russland ist groß.

Auf dem Weg zu diesem Lagerplatz passieren wir eine wilde Feier mit schon von weitem dröhnenden Trommeln. Wir hätten das als Krach bezeichnet, doch erfahren wir, dass es sich um eine Hochzeit handelt. Nun ja, es ist halt ein anderes Land. Vor Ort stellen wir dann direkt am See unsere Zelte auf. Selbst hier ist der Krach… ähm, die Feier noch bis tief in die Nacht zu hören. Am Ufer jedoch finden wir zwei gestrandete Handelskoggen mit einer Piratenflagge im Ausguck16. Eine seltsame Beobachtung, denn wie sollten sie hier her gelangt sein? Hatte der Kapitän versucht die Nordostpassage durch das Eismeer zu finden und war durch einen Wintereinbruch dazu gezwungen, den Ob hinunterzufahren um im See eines seiner Seitenarme dauerhaft vor Anker zu gehen? Rätsel türmen sich auf.

Anzumerken ist noch, dass beide Namensvettern Steffen und Stephen III. ihre Mannhaftigkeit mit einem Sprung in die Fluten des fast schon starr gefrorenen Sees beweisen wollen. Den Sinn für Reinigungszwecke ein wenig bezweifelnd halten Johann und ich von dieser Wahnsinnstat Abstand.

 

Handelskoggen mit Piratenflaggen16                                                                                 Camping-Hütte17                                                    Banja18 (Russische Sauna)

Die Nacht verbringen Steffen, Marina und Johann in einer der Holzhütten17, welche sich am Ufer leicht finden lassen. Der harte Rest (bestehend aus Stephen III. und mir) begnügt sich mit dem Zelt, was sich als vorteilhafter gegenüber der undichten Hütte erweist, da es in der Nacht regnet.

 

Fünftes Kapitel: Eine Pause voll Lob und Tadel

Wir haben beschlossen einen Ruhetag einzulegen. Immerhin ist Sonntag. Wir wollen ihn nutzen um uns und unsere Sachen im See zu waschen, zu trocken und etwas im Ort einzukaufen. Wie es sich zeigt, bekommt man in dem Lädchen auch warme Mahlzeiten und das nutzen wir sehr gerne um die Laune zu heben. Mit einer dampfenden Suppe, herzhafter Hausmannskost und süßen Plini steigt diese zusehends und erklimmt ungeahnte Höhen als wir gewahren, dass es eine Banja direkt nebenan gibt, also eine russische Aufgusskammer18. Sofort beschließen wir diese für ein Stündchen zu mieten und Johann und ich begeben uns zum Zelt um die nötigen Utensilien wie Handtücher flugs zu holen, während die anderen schon einmal mit einem Feuerchen einheizen. Doch müssen wir eine schlimme Übeltat erleben als wir dort wieder eintreffen. Denn das Zelt liegt zerstört, die Töpfe verbeult und die Nahrungsmittel verstreut vor uns! Während wir alles wieder herrichten und rätseln, was das gewesen sein mag, kommen gerade zwei Fischer vom See zurück und versuchen uns zu erklären, was sie gesehen haben. Doch ohne Steffen als Übersetzer verstehen wir sie nicht und so können wir nur weiter mutmaßen, ob es ein Tier, junge Rabauken oder betrunkene Ortsansässige waren, denn außer einer halben Wurst fehlt nichts von unseren Sachen. Dennoch wollen wir uns das Erlebnis einer Banja nicht entgehen lassen und wagen es erneut das Zelt unbeaufsichtigt zu lassen ohne aufzuräumen, um die letzten oder neuen Angreifer in dem Glauben zu lassen, es gäbe nichts weiter zu finden. So genießen wir den heißen Dunst und erquicken uns hernach im eisig kalten Fluss.

 

Sechstes Kapitel: Die Wende des geplanten Pfades

Die Nacht war jedoch noch kälter. Mit Temperaturen dem Gefrierpunkt nahe sinkt auch unser Mut diese Reise zu Fuß und mit Rückengepäck fortzusetzen auf den Nullpunkt. Stephen III. hat schon mit dem Leben abgeschlossen19. Hinzu kommt, dass das Wetter zunehmend schlechter wird und uns zur Einstellung unserer wissenschaftlichen Untersuchungen zwingt20. Wir müssen eine Stadt finden um unsere Vorräte aufzufrischen. Aber wir geben noch nicht auf und werden weiter machen. Daher werden die Sachen zusammengepackt und im Sturm verlassen wir das Lager am See um uns in die Ortschaft zu schleppen. Glücklicherweise findet sich dort jemanden, der meint er könne uns zum nächsten Bahnhof nach Satka bringen, um dann weiter nach Tscheljabinsk und schließlich Jekaterinburg zu gelangen. Dann holt er ein gepanzertes Fuhrwerk21 aus seinem Schuppen und bedeutet uns einzusteigen. Nach kurzer Verwunderung lassen wir uns nicht lange bitten und nehmen an. Unterwegs hält er an einem Wildpark und meint, wir sollen uns doch einmal die Elche anschauen, die es in der Gegend zu bestaunen gibt. Doch als wir die ersten Tiere (siehe Anhang) sehen, kommen wir einstimmig zu dem Beschluss, dass dies ganz normale Hirsche der gleichen Art wie unsere heimischen, allen bekannten Cervi elaphus  oder profan „Rothirsche“ sind. Vielleicht sibirischer Herkunft, am ehesten noch den Karibus ähnlich, aber auf jeden Fall ist kein einziger Alces Alces darunter zu finden, wenngleich es die Cervi elaphus laut der neuesten Ausgabe der Encyclopedia Wikipedia hier nicht mehr geben dürfte.

 

Verzweiflung19                                                                                        Krisenbesprechung20                                                                                                   Panzertaxi21

Das Städtchen Satka bietet uns noch einmal einen Kontrast von typischen, russisch-kontinentalen Siedlungen zu Großstädten, die mit Bausünden aufwarten, welche selbst bei uns zuhause die Postmodernisten empören ließen.

 

Am Abend treffen wir in Jekaterinburg ein und auf Marinas Bruder, der uns eine gehobene Herberge besorgt, als wir auf seinen Wagen russischen Fabrikats aufpassen: selbstverständlich ein Lada. Zu dieser Stunde sind Steffen und Marina unterwegs ins beschauliche Kamensk-Uralski, wo sie sich wieder langsam an die Zivilisation gewöhnen wollen, während wir uns sofort in den Trubel werfen. Denn jetzt, an einem Morgen unter Menschen, haben wir nach der langen Einsamkeit wieder Mut gefasst. Vorherige Expeditionen über die Abgeschiedenheit dieser transeuropiden Region stellen sich hier als höchst zweifelhaft heraus. So sehen wir uns fassungslos den Fassaden Jekaterinburgs gegenüber ausgeliefert: weit fort von jeder Zivilisation befinden wir uns in einer westlichen Großstadt! Davon müssen wir zu Hause unbedingt berichten. Wir geben uns einem ausgiebigen und äußerst sättigenden Plini-Frühstück hin und erkundigen uns in der Stadt nach ihrer Geschichte. Dazu dienen uns alte Güter von einigen Familien der Gründerzeit sowie höchst bedeutsame Orte der slawischen Geschichte wie der Ermordungsstelle der Zarenfamilie, deren Denkwürdigkeit erst in jüngster Zeit mit einem monumentalen Sakralbau22 ein Denkmal gesetzt wurde. Es ist ein erhebender Moment diesen Ort zu begehen, denn das Monument wird noch in Jahrhunderten von dieser bedeutsamen Angelegenheit in der Geschichte Russlands zeugen, wenn es schon den Zahn der Zeit gespürt, wir schon längst zu Staub zerfallen und unsere Nachkommen so einfach zu den Gestirnen reisen werden wie wir heute noch ein Tagesblatt erstehen.

 

                                                                                     Kirche auf dem Blut22                                                                                                         Russisches Schachspiel23

Doch neben diesen bedeutenden Stätten finden wir auch immer wieder für unseren Geschmack eigenartig anmutende Gebilde wie noch immer auffindbare, ständige Darstellungen des geist(l)ichen Vordenkers Lenin (siehe Anhang) sowie Szenen des großen vaterländischen Krieges (bei uns: 2. Weltkrieg), halbfertigen Türmen, gleich den Minaretten eines muselmanischen Tempels und natürlich prunkvollsten Wohnpalästen in direkter Nachbarschaft zu einfachsten Hütten und schäbigen Katen der untersten Bevölkerungsgemeinschaft. Aber auch Zeugen der allseits bekannten Vorliebe für das Schachspiel23 sieht man an der Uferpromenade tagsüber taktieren. Nur dem uns bekannten Ritual des Schreibens von Grußkärtchens können wir nicht nachkommen, da für diese hübsche Geste hinter dem Ural kein Verständnis mehr existiert. Genauso wenig übrigens wie für unsere mühselig gewechselte Währung. Denn diese scheint hier nichts mehr wert zu sein, wo wir versuchen mit 1000-Rubel-Blättern zu bezahlen. Nur wie sollen wir etwas erwerben, wenn wir kein anderes Geld von der Bank bekommen? Welch ein Jammer und Kulturversäumnis! So zwingen wir die Bedienung eines Wirtshauses kurzerhand den Tausender anzunehmen, indem wir nach dem Kaffeegenuss beteuern uns nicht mit Hellern abzugeben. Wohl oder übel muss der Kellner unseren Schein akzeptieren, denn anderes Geld würde er nicht bekommen. Die missmutigen Blicke begleiten uns nach dem Aufbruch bis weit durch die halbe Stadt.

Wir suchen diese erlebte Schmach schließlich mit einem mehrgängigen Plini-Menü und Schaschlik zum Guten zu wenden. Sobald man es geschafft hat kleinere Scheine oder gar Münzen zu bekommen, lässt sich nämlich für westliche Verhältnisse überaus günstig einkaufen, wenn man von den Extremen in Edelkaufhäusern wie Greenwich und Nobelvierteln absieht. Denn die Preisunterschiede, die es hier durch das archaische System der kapitalistischen Marktwirtschaft noch gibt, erscheinen selten so drastisch wie in Russland - als wäre die Zeit hier stehen geblieben, wie schon so viele vor uns richtig bemerkten.

 

Sieb(en)tes Kapitel: Die Freuden und der Genuss kontrollierter Einsamkeit

Nationalpark bei Perwouralsk24

Dank der Nutzung modernster Technik ist Marina in der Lage mit Hilfe der Telephonie einen Pfarrer namens Sergej ihrer Glaubensgemeinschaft zu erreichen, der uns am folgenden Tage, einem Mittwoch, zu einem als Nationalpark ausgeschriebenen Fleckchens Natur führt. Wir sind ob der Behütung und Gastfreundschaft unserer russischen Begleiter langsam schon peinlich berührt, so fürsorglich kümmern sie sich um unser Wohlergehen und nehmen größte Strapazen für uns in kauf. So lässt es sich Sergej auch nicht nehmen uns den Nationalpark von seinen schönsten Seiten zu zeigen und scheint nicht müde zu werden, uns von der Beschaulichkeit zu überzeugen, was er versucht durch magische Märchen wie das Haus der Hexe Baba Jaga24 bzw. Baba Roga auf den berüchtigten Hühnerbeinen, durch wunderbare Flussläufe, steile Steinhänge, wilde Wälder und riskante Höhlen und anderen Wundern seiner Heimat24 zu erreichen. Was uns, besser gesagt Johann, aber noch mehr interessiert, ist die riskante, politische Stabilität seiner Heimat und so erzählt uns der Freizeit-Geologe und angehende Gesellschaftsforscher Sergej von den teils kruden Methoden des Monarchen Medwedjew. Er erzählt von seiner eigenen Überwachung von Vertrauten des Gebieters und auch einigermaßen bekannten Gegebenheiten, die uns sonst nur auf langen Wegen und aufwändigem, engagierten Nachfragen erreichen.

Durch Steffens Übersetzung wird deutlich, dass Sergej offenbar auch von der Musikvereinigung so genannter „niedlicher Aufrüherinnen“ spricht (hier: kindgerechte Übersetzung von "Pussy Riot"), die der regierende Großfürst Putin I. als Angriff auf seine Gottesgleichheit und aus Verbundenheit zur orthodoxen Kirche festsetzte. Der Zaroid Putin I. von Gottes Gnaden, von seinen Anhängern liebevoll Wlad genannt, steht seinem rumänischen Namensvetter Vlad III., auch bekannt als Vlad der Pfähler oder Graf Dracula anscheinend nur wenig nach. Es scheint eine slawische Tradition dahingehend zu geben. Schon einem seiner Vorgänger, nämlich Stalin I., sagte man ähnliche Neigungen nach.

Sergej bleibt schließlich noch zum Essen und gibt uns von seinen Geflügelwürsten ab. Wir genießen diesen ausgesuchten Ort in behüteter Wildnis am Lagerfeuer mit Speise, Gesang und Gesellschaft. So auch die folgenden Tage, in den wir die nähere Umgebung erkunden28 und die heimische Flora und Fauna endlich einmal in Ruhe bestaunen29. Wir brauchen auch gar nicht viel dazu beizutragen. Denn die Fauna kommt in Gestalt eines Fuchses30 regelmäßig und freiwillig bei uns vorbei.

 

 

Die Tragfähigkeit des Steffens28                                                                                                     Waldes Ruh29                             Besuch der einheimischen Fauna30

Allerdings beschließen Marina und Steffen erneut nach Kamensk zu gehen. Unsere Zweifel über die dortigen Umweltschädigungen halten Stephen III., Johann und mich auch diese Mal zurück sie zu begleiten. Außerdem haben wir nach wochenlanger, wissenschaftlicher Arbeit diese Stunden der Entspannung lieb gewonnen. Und so vertreiben wir uns die Zeit mit Skatspielen, Holzholen, Singen, Angeln31, Essen und vor allem Kaffee kochen und ausgedehnten Erkundungsgängen, z.B. zum nächstgelegenen „Produkti Magasin“, der auch schon eine knappe Stunde Fußmarsch entfernt ist und wo wir nicht viel mehr als Muffins und Bier bekommen. Aber das reicht zum Überleben.

Mittlerweile scheinen auch Einheimische aus der Umgebung den Weg hier her zu finden, denn immer öfter begegnen uns Wandergruppen. Seltsam ist auch, das praktisch jeder Russe deutsche Vorfahren zu haben scheint, denn während Johann noch etwas erfolglos auf Suche nach seiner Seilbahn ist, spricht mich selbst hier eine Wolga-Deutsche, allerdings auf Englisch an, woher wir kämen. Doch zum Glück sind wir keine Amerikaner, denn missmutig fragen die Russen immer zuerst „Amerikanski?“, freuen sich aber sogleich über die Antwort „Njet, Nemjetski!“ und erzählen entweder von ihren deutschen Vorfahren oder den deutschen Sprachkenntnissen aus der Schule.

Eine beliebte Freizeitbeschäftigung für Johann ist es geworden Birken ihrer Borken zu berauben um daraus Postkarten zu fertigen. Ich hatte das ursprünglich nur als ironischen Ersatz für die nicht vorhandenen Schreibmöglichkeiten in Jekaterinburg vorgeschlagen, aber Johann scheint es begeistert umzusetzen.

 

Freizeitbeschäftigung in Russischen Nationalparks: Zelten und Angeln31

Leider überkommt mich während dieser paradiesischen Zeit ein heftiger grippaler Infekt, dem ich mit reichlich Kaffee und Tee Herr zu werden versuche. Doch nachdem fast jeder schon einmal mit dem Tode rang, versuche auch ich durchzuhalten.

 

Achtes Kapitel: Vertreibung aus dem Paradies oder Operation „Uralregen“

Während wir auf ähnliche improvisierte Weise unsere sozialen Kontakte zu Hause pflegen und das Abendessen an diesem Sonntag vorbereiten, erstaunt uns Sergej mit einem Überraschungsbesuch. Er hat einen Zettel dabei, worauf in gebrochenem Deutsch und etwas besserem Englisch die höfliche Aufforderung geschrieben steht ihm unverzüglich zu folgen. Noch wundern wir uns über diesen überstürzten Aufbruchsaufruf und denken, er wolle uns nur in den nächsten Tagen zu sich nach Hause einladen. Doch bald schon wird uns klar, dass er mit seinem Sohn Sascha nicht nur herkam, um uns diese schriftliche Anweisung zu übergeben. So packen wir hastig unsere Sachen zusammen, räumen die Lagerstelle auf und lassen notgedrungen das üppige Feuerholz zurück um seiner Rettungsaktion zu folgen. Angeblich, so hören wir heraus, soll es in den kommenden Tagen ein schreckliches Unwetter geben und wer weiß was noch so vor sich geht, denken wir bei uns, als wir mit den beiden und all unserem Gepäck durch die Nacht hasten. Unsere spärlichen Funzeln leuchten gerade den nächsten Schritt voraus und wir fühlen uns aus dem Garten Eden vertrieben und auf der Flucht vor einer unbekannten Gefahr, die uns nicht einmal bewusst gewesen ist. Wie ein Gespenst scheint sie uns zu verfolgen! Nach einer Stunde Fußmarsch durch die Nacht erreichen wir Sergejs Gefährt, das auch schon zur sofortigen Abfahrt bereit steht. Meine Krankheit plagt mich und stellenweise glaube ich mich in einem Fiebertraum zu befinden, so grotesk mutet mir die Situation an.

Etwa 60 Kilometer später erreichen wir Sergejs Heim, in der Stadt Perwouralsk, die er extra so spät verlassen hat um uns zu retten und uns nun noch ein üppiges Abendmahl bestehend aus Borschtsch, Keksen und Melone auftischt. Natürlich danken wir es ihm, denn noch immer ist uns nicht klar, in welcher Gefahr wir schwebten. So erkennen wir erst einmal, dass wir Urlaub machten, wo andere damit beschäftigt sind zu überleben! Sind wir also besonders hart oder einfach nur leichtsinnig?

 

Neuntes Kapitel: Die Grenzen Europas

So langsam bekommen wir heraus, dass Sergej uns schon am Sonnabend erwartet und Steffens Nachricht davor uns nicht erreicht hatte. Wie auch, wo wir tief im Wald saßen ohne Empfangsmöglichkeit?

Nachdem er uns nun aus den Fängen der Wildnis befreit hat, will er uns seine Heimatstadt zeigen. So führt er uns in ein Gehege voll seltsamer, einheimischer Kreaturen wie Werbluten (Kamelen). Meister Petz allerdings sieht hinter seinen Gitterstäben äußerst (be)dürftig aus (siehe Anhang), weshalb wir beschließen ihm einen Apfel zu spendieren. Dabei fällt uns ein Stück direkt vor seinen Käfig, was ihn vor Hunger nicht davon abhält mit der Pfote durch die spitzen Gitterstäbe danach zu langen und bewusst gefährliche Wunden zu riskieren. Der benachbarte Hirsch röhrt gegen das Gitter und versucht es mit seinem Geweih zu beschädigen. Die Isegrims rühren selbst das ihnen hingeworfene Fleisch nicht mehr an und der Reineke ist gänzlich abgemagert. Die Haltung dieser Zootiere ist gelinde gesagt erbärmlich! Aber von Russland lernen heißt ja bekanntlich siegen lernen32, und sei es nur der Sieg über die Hygiene, wie sich gerade anhand der meisten öffentlichen Toiletten eindrucksvoll oder besser: „ausdrucksvoll“ zeigt. Tja, so sehen Sieger aus33 - shalalalala.

 

"Denn es ist unser Sieg (1941-1945)" 32 ...                                    ... und so sehen Sieger aus!33                                                      europäisch-asiatische Grenzen34

Sergej hat mittlerweile mitgekriegt, dass wir auf der Suche nach Postkarten sind. Während dieser Odyssee sehen wir erneut eine der üblichen Vaterlandsdenkmäler samt ewiger Flamme, die mit Auszeichnungen hochdekorierte Rohrfabrik und industrielles Glanzstück der Region, aber auch die mehr willkürlich als wissenschaftlich festgelegte Grenze Europas zu Asien34, auf einer Anhöhe östlich der Stadt. Wir bedanken uns für die Gastfreundschaft schließlich mit einer Torte, von der wir erst später mitbekommen, dass sie möglicherweise Kaffeelikör enthält und dieser der adventistischen Seele zuwider sein sollte. Aber entweder bemerkt es Andrej nicht, weil er vielleicht gar nicht weiß, wie Alkohol schmeckt oder er übergeht diesen Fauxpas unsererseits gekonnt. Was wir da noch nicht wissen ist, dass am gleichen Tag zu Abend erneut Kuchen gegessen werden wird, nämlich anlässlich des Jahrestages eines Paares aus der adventistischen Gemeinde, das unseretwegen - wie mir scheint - zu Besuch ist. Wie sich herausstellt handelt es sich um zwei Darsteller (siehe Anhang) des berühmten Musicals „Holiday on Ice“, mit dem die beiden durch die ganze Welt gereist sind. Zunächst kommt es uns sogar so vor, als käme zumindest die Frau direkt aus den Vereinigten Staaten, da ihr Akzent und ihr gesamtes Gestenreichtum darauf schließen lassen. Nach langer Zeit ohne adäquate Ausdrucksmöglichkeiten gegenüber den Einheimischen können wir nun endlich einmal wieder mit jemandem reden und so verbringen wir den Abend höchst angeregt diskutierend und können eine Menge Dinge aufklären bezüglich der kürzlich vorgekommenen Missverständnisse.

 

Zehntes Kapitel: Beinahebekehrungen und Ballettbälle

Das bewahrt uns allerdings nicht vor einem erneuten Missverständnis schon am nächsten Tag. Denn Sergej möchte sich mit anderen adventistischen Priestern aus dem Ural in Jekaterinburg treffen und uns praktischerweise gleich dorthin mitnehmen, um schließlich mit Marina und Steffen aufeinander zu treffen. Leider verzögert sich die Fahrt so lange (unter anderem wahrscheinlich durch einen Rollstuhlfahrer, den wir mitten zwischen den Fahrzeugen auf der mehrspurigen Fernstraße beobachten können), dass ihm keine Zeit bleibt um uns am Bahnhof abzusetzen und so nimmt er uns zunächst mit zu der Versammlung. Dort werden wir von den anderen, fein gekleideten Priestern herzlichst begrüßt und fragen uns schon, ob man uns mit wandernden Bettelmönchen verwechselt, denen traditionell Ehre gebührt! Denn wir sind völlig unpassend gekleidet. Ein Glaubensbruder amerikanischer Herkunft hat sich überdies zu diesem Anlass eingefunden um seine Bibelstelleninterpretationen zu verkündigen. Mir als nichtgläubigen und obendrein recht kränkelnden Menschen fällt es schwer in dieser Veranstaltung oder den Worten die Bedeutung zu finden und ich beginne mich zu fragen, ob jemand hier ahnt, welch Frevel gerade begangen wird, musste ich doch immer schon Sergejs Aufforderungen zum Sprechen des Gebetes ablehnen, weil ich es einfach nicht verantworten konnte ihn der bloßen Blasphemie auszuliefern. Jedoch werde ich und nicht zuletzt auch die beiden anderen von der etwas denkwürdigen Darbietung des Amerikaners durch Sergej erlöst, der uns daraufhin zu Fuß zum Südbahnhof begleitet, wo wir nun endlich auch wieder auf Marina und Steffen treffen.

Zum Abschied von Sergej beschließen wir ihn zu einem Plini-Mahl einzuladen, bevor wir uns eine Übernachtungsmöglichkeit suchen und das Gepäck in einem Spielzeugladen vorläufig verkauf… äh deponieren. In Jekaterinburg geschieht es auch bisher das einzige Mal, dass wir in einer Metrostation35 von Sicherheitsleuten auf Unsicherheitsfaktoren im Gepäck untersucht werden. Dabei stellt sich jedoch mein zunächst terroristisch aussehender Topf als harmloses Kochutensil heraus.

Die kulturelle Komponente dieser Reise wollen wir danach mit einer der weltberühmten Ballett-Aufführungen erreichen, zu welchem wir noch einige Stunden vorher rasch Karten erstehen können. Zunächst tingeln wir jedoch noch durch Jekaterinburg und kartieren die Stadt vom Hochhaus „Wysotzkij“ herab36. Doch die Zeit wird knapp. Bald beginnt die Gala-Vorstellung37 und unsere Quartiermeisterin lässt uns ausrichten, dass wir entgegen aller Erwartungen doch nicht in ihrer Wohnung nächtigen können. So hasten wir zurück ,um mit ihr einen neuen Handel zu vereinbaren und schnellstmöglich wieder zum Theaterhaus38 zu gelangen, um die Vorstellung nicht zu verpassen. Diese erweist sich schließlich einstimmig als äußerst anregend und wir sind uns schon in der Pause bei Sekt, Kaviar- und Lachsschnittchen sicher, dass dies eines der herausragendsten Ereignisse der Reise darstellt.

 

Jekaterinburg mit Metrostation35, Fluss Isset im Zentrum36, dem Operngebäude (innen37 und außen38), dem Zentrum mit dem (wohl) ewig unfertigen Fernsehturm36 und einem weitern Bahnhof / einer Metrostation (v. l. o.)

 

Elftes Kapitel: Tradition und Geschichte

Dass sich die Reise dem Ende neigt, merken wir am Aufbruch Stephens III., der schon vorher ankündigte früher abzureisen. Ein ausgiebiges Frühstück39 mit getrockneten Pflaumen, Rosinenbrot, Keksen, Schokolade und Äpfeln sowie einem erneuten Plini-Abschiedsessen läutet seine Entlassung aus der Gruppe ein. Wenngleich die Unterkunft den Ausdruck „verranzt“ mehr als verdient und wir es vorziehen auf unseren Isoliermatten und in unseren Schlafsäcken zu nächtigen, sind doch die schlimmsten Tage überstanden und wir werden uns wohl wieder sehen. So können wir den Abscheidenden getrost ziehen lassen.

Wir anderen haben hier noch zwei Tage vor uns. Den ersten nutzen wir um den Rest der Stadt anzusehen, während wir rund um die Stanzija Geologicheskaya vergeblich nach dem geologischen Institut suchen um unsere jüngsten Forschungsergebnisse zu präsentieren, dafür aber abends Marina die deutsche Küche zeigen wollen, nachdem sie nun etliche Male für uns gekocht hatte. Nicht dass wir uns erdreisten würden eigenhändig für eine Köchin kochen zu wollen. Aber selbst hier, noch hinter dem Ural, finden wir einen „Ratskeller“, mit typischen Gerichten wie Brez’n, Brüh- oder Bratwürsten und weniger typischen Mahlzeiten – wie wir mit Kartoffelsalat feststellen müssen, der nicht ganz im Sinne des Erfinders aus einem mittigen Salat und umgebenden Kartoffelstreifen besteht.

 

Sommersitz des russischen Präsidenten          Russisches Frühstück39                                    Gamina Yama40                                              Wartesaal im Woksal41

 

Die letzte Station unserer Reise führt uns schließlich noch einmal in die jüngere Geschichte Russlands. Der Ermordung des Zaren wird zwar schon mit einer monumentalen Kirche im Herzen Jekaterinburgs gedacht, aber die Gebeine liegen außerhalb der Stadt vergraben. Demzufolge entstand in den letzten Jahren an dieser Stelle ein Klostergelände namens „Gamina Yama“40, das jedem Mitglied der ermordeten Zarenfamilie eine eigene Holzkapelle mit viel Golddachschmuck widmet. Das erneute Erstarken der orthodoxen Kirche und ihr Zusammenwachsen mit dem Staat wird dadurch noch einmal deutlich. So kann sich die Reiseführerin auf der halbstündigen Fahrt dorthin ununterbrochen über Details und anscheinend nebensächliche Hintergründe dazu auslassen.

Marina wird noch eine Weile hier bleiben und mit ihrer Freundin Aljona ein paar Tage in der Umgebung verbringen. So lädt uns Marina noch einmal zu einem Eis ein, wobei wir auf Aljona treffen. Beide begleiten uns auch zum Bahnhof41 (dessen reich verzierte Wartesäle man übrigens nicht ohne Fahrkarte bestaunen darf) und verabschieden uns von diesem sagenumwobenen Land, von dem gesagt wird, man könne seine Seele nicht verstehen, wenn man nicht dort geboren wurde.

 

Letztes Kapitel: Auf den Spuren der Transsibirischen Eisenbahn

Die Fahrt in der legendären „Transsib“ über die Wolga und durch endlose Birken- und Fichtenwälder wird von einer Kanutenmannschaft (siehe Anhang) abgerundet, die wir im Zug antreffen und von denen wir über deren Erlebnisse am Baikalsee erfahren. Wie sie so von ihrer Reise berichten und uns einige Bilder zeigen, wächst in uns schon der Plan zu einer neuen Expedition. Außerdem begegnen wir einer Festkörperphysikerin (siehe Anhang), die sich auf dem Weg zu einer Konferenz in Paris gemacht hat und uns auf die tartarische Spezialität Tschak-Tschak – einer spätzleartig aussehenden und klebrigen Süßspeise – einlädt, welche von Verkäuferinnen auf den Bahnhöfen feilgeboten wird.

Doch die Freigiebigkeit dieses Volkes wird am nächsten Tag zwischen Moskau und Berlin von einer Wolga-Deutschen aus Weimar auf die Spitze getrieben, die uns nicht nur Tee und allerlei Süßes, sondern auch eine halbe Wurst und sogar Geld anbietet. Zu diesem Zeitpunkt haben wir bereits die Öffnung der Moskauer Metro um 5:20 Uhr und den damit verbundenen, hektischen Auflauf erlebt, einen weiteren Abschieds-Plini verspeist und den Bahnhof gewechselt. Etwas verwundert sind wir nur als sich das Bordpersonal im Speisewagen fast Speichel geifernd darüber ausschüttet, dass wir drei Portionen Kartoffelsalat bestellen. Entweder ist das nur ein Scheingericht, das sonst niemand bestellt und nur wir aufgrund unserer auslaufenden Reisekasse als angemessen erachten oder sie belustigen sich dermaßen über die Maßen wegen des Beilagencharakters, was dieses Menü eigentlich hat. Trotz dieser Widerstände kriegen sich die Zugbegleiterinnen wieder ein und servieren uns das nicht unköstliche Gericht.

 

Eindrücke von der Rückfahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn vom Ural nach Deutschland

Nur in Minsk wundern wir uns etwas über die gegenüber den russischen Verhältnissen ordentlichen Zustände der Städte und des Bahnhofs, den wir nur wenige Minuten besichtigen. Aus den Berichten zu Hause dringt über dieses Land eher das Bild einer strengen und ungemütlichen Diktatur nach außen. Wieder wird durch dieses Beispiel klar: Man muss sich von allem selbst ein Bild machen. Das Reisen in ein Land, ohne pauschal vorher alles bis ins Detail organisiert zu haben, verspricht noch immer die tiefsten Einblicke in eine andere Kultur.

Pünktlich um 6:00 Uhr morgens am 16. September 2012 hat uns die „zivilisierte Welt“ in Berlin wieder. Der ganz normale Wahnsinn des Alltags kann wieder beginnen. Jedoch müssen weitere Forschungsreisen unbedingt folgen, um zu klären, wie es noch weiter östlich tatsächlich aussieht. Wir stehen erst am Anfang – am Anfang von etwas ganz Großem!

 

Epilog

Ich denke über das Geschenk Marinas nach, welches sie uns in Jekaterinburg kaufte. Es handelt sich um einen Plastikengel im Stil antiker Statuenkunst:

Im Grunde ist es kitschig, auch wenn ich ihr das natürlich nicht sagen möchte. Aber wäre es nicht ehrlich, es ihr zu sagen? Marina könnte das wahrscheinlich nicht nachvollziehen, genauso wie viele Russen unsere Vorsicht vor der radioaktiven Strahlung nicht verstehen und selbst wir innerhalb der Gruppe uns nicht darüber einig sind. Und ist dieses Ding denn überhaupt Kitsch? Was ist eigentlich Kitsch? Wahrscheinlich für jeden etwas anderes.

Wikipedia meint dazu, dass Kitsch nicht anders interpretierbar sei als das, was es direkt darstelle, dass es bereits bekannte Gefühle schnell hervorrufe und letztlich zeige Kitsch gar etwas, das Verlogenheit bedeutet, sogar Bosheit ausdrückt, weil man uns damit verführen will. Zwar mag es sein, dass man standhaft gegenüber einfacher Verlockungen sein sollte, doch was ist an der Sehnsucht nach einer heilen Welt so schlimm, gerade für solche, die Krieg, Unterdrückung und anderes Leid erfahren haben? Nur weil wir nach scheinbar Höherem und Tiefgründigkeit streben, heißt das nicht, dass wir uns ein negatives Urteil über die Sehnsüchte anderer erlauben können. Das macht uns zu besseren Menschen und die anderen zu schlechten – zumindest in unseren Augen. Der Wert unserer Arbeit und Existenz bleibt dennoch der gleiche, wie man es auch sehen will. Unser Ursprung als Menschen liegt ebenso im Einfachen. Und war es nicht unser Ziel gerade auf dieser Wanderung nach den ursprünglichen Lebensweisen zu suchen und der Seele des Landes? So erfahre ich, dass es nicht nur die natürlichen Lebensbedingungen sind, auf die man sich ab und zu besinnen sollte, sondern auch die kulturellen.

Jeder versucht seine schönste Umgebung auf Erden zu finden. Deutsche Spießigkeit ist nicht schlimmer als die anderer Länder. Die Menschen mögen unterschiedliche Kulturen haben und Sprachen sprechen, aber sie sehen alle die gleiche Sonne, das gleiche Elend und die gleichen Auswege. Nicht umsonst sind Religionen und Fußball so weit verbreitet.

Die Sehnsüchte der so genannten „einfachen Menschen“ kommen einem manchmal so klein vor, aber sie sind genauso notwendig für deren Erfüllung und als Ziel. Diese Menschen  machen ihre Arbeit genauso gut und sind genauso wertvoll wie andere die nach höherer Erkenntnis streben. Da stellt sich diese Frage nach guter oder schlechter Glückserfüllung nicht mehr. Ich komme zu dem Schluss, dass jede Zeit ihre Rätsel hat und ihre Lösungen für die einst unlösbaren Probleme anderer Zeiten, wenn es sich um menschliche Probleme handelt.

 


Anhang 1 - Eine Auswahl russischer Menschen:

          Andrej               3 junge Advenstisten                       1 alte Frau                                       Sergej                                              2 Ex-Eiskunstläufer

                           Aljona                               Panzertaxifahrer   "Elch"-Wildhüter       Hilfspolizistenkanut               Festkörperphysikerin             Fischverkäuferin

Anhang 2 - Eine Auswahl an russischen Tieren:

Überall totes Getier, angeblicher "Elch", erbärmlicher Zoobär, verirrter Maulwurf, bettelnder Fuchs (oder gähnt er?)

Anhang 3 - Eine Auswahl von Lenin-Statuen: