Aufbruchstimmungen


1. Das Ende der Schulzeit

Noch schnell aus der Tür raus, die die Eingangshalle des unteren Stocks mit dem Hof verbindet und ich treffe sie endlich alle wieder. Heute steht die große Party an. Meine Freundin hat Geburtstag und wir wollen ihr den 18. so gut wie möglich versüßen. Wir, das sind die langjährigen Freunde, ein halbes Dutzend nur allzu gut gewordener Kumpel.

Die Sonne strahlt an diesem warmen Tag, am Ende des Frühlings, als ich aus der Halle hinaus trete und plötzlich unter dem Gefühl der Endlosigkeit stehen bleiben muss. Die Luft zu atmen, in diesem Moment, der den schönsten überhaupt darstellt. Denn ich habe schon ein unglaubliches Glück. Wir verstehen uns seit langem, keiner muss fort in den Krieg ziehen, einer will zwar zur Armee, aber nicht um zu töten, sondern um zu studieren und Führungsperson zu werden. Der Vietnamkrieg ist erst kurz vorbei – wir fühlen uns frei. Die ganze Welt steht offen, wenn wir dann auch unser Abitur haben. Und wir werden es schaffen. Davon war ich noch nie überzeugter als jetzt. Die Schule ist aus. Es gibt nichts mehr zu lernen. Jetzt gilt es die Welt selbst zu erleben. Auch wenn ich es vermischt lieber gehabt hätte, aber dann würde man ja ewig weiterlernen und nie zum Ende kommen. Unsere Lehrer wollen, dass wir so gut wie möglich werden, in allem, vor allem aber als Menschen und nicht zuletzt liebe ich den wunderbarsten Menschen auf der Welt. Hier stehe ich, habe die schönsten Lehrjahre bereits hinter mir und wüsste nicht, wie es noch schöner werden könnte. Alles gehört mir, was ich mir je gewünscht hätte und noch mehr. Bevor ich genau weiß, was ich mal machen will, fahre ich mit meiner Freundin noch weg. Einen Sommer lang in die Südsee. Ich weiß, das ist ungewöhnlich, aber das haben wir schon lange geplant und es war schon immer unser beider großer Traum. Mit dem Segler meines Vaters durch die Inselwelt. Danach können wir immer noch entscheiden, wo wir uns festsetzen wollen.

 

Im Gedanken an diese Zeit, die Freude über den Status Quo, wie die Welt aussieht, die politische Lage - lass doch den Osten machen, wie er es für richtig hält und uns, was wir für das Beste halten - meine Freunde, gepaart mit der Vorfreude auf die Reise mit ihr und die neuen Eindrücke dabei, die Party heute Abend und den Spaß dabei, die großen Träume auspacken und über die Zukunft philosophieren und jetzt die Sonne, die das alles noch auf den Punkt bringt… das alles lässt mich innehalten. Wenn ich sterben müsste, ich wollte mit diesem Gefühl gehen. Ich kann es gar nicht beschreiben. Worte sind dafür zu viel und zu wenig, so einfach und gewaltig ist diese Synchronität meiner Gedanken, die sich auf dem Höhepunkt treffen und mir mein geballtes Glück aufzeigen. Ich habe von Leuten gehört, die Drogen nehmen, um eine Bewusstseinserweiterung und Stimmungsaufhellung zu erfahren. Wenn sie nur eine Winzigkeit meiner jetzigen Stimmung und meines Bewusstseins darüber hätten, sie würden allem abschwören, weil es nicht besser sein kann.

 

Ein bisschen Angst mischt sich jetzt hinein, denn eben weil es nicht besser werden kann, kann es nur noch schlechter werden. Was, wenn es ihr heute nicht gefällt, wenn irgendjemandem etwas zustößt, wenn einer das Abi nicht schafft?

In dem Augenblick mache ich einen Schritt weiter in den Schulhof, einen weiteren, der mich von der Vergangenheit hier entfernt, von der friedlichen Zeit der Nachhippiebewegung. Abschied von intensiven Jahren und ich bin einsam auf diesem Weg hinaus. Die Schüler sind längst zuhause. Es ist Freitagmittag. Ein herrlicher Freitag und ich bemerke, dass jeder Freitag ein Geschenk ist, jeder Freitag eine Vorfreude, egal wie das Wochenende letztlich wird, jeder Freitag ein Abschied von der Woche, von der Arbeit dabei und umso schöner ist, je mehr man geschwitzt und gearbeitet hat. Da kommt durch diesen ängstlichen Gedanken sogar noch die Freude über diese Erkenntnis zu meinem Gefühl des endlosen, überschäumenden Glücks und ich erkenne noch einmal: Man weiß nie vorher, was kommen wird und wenn man glaubt, es geht nicht besser, wird man mit jedem nächsten Schritt eines Besseren belehrt.

Nun sehe ich die Freunde hinter dem Gebäude hervortreten und weiß, dass alles gut ist, so wie es ist.

 

(Musik dazu: Fly Away (Lenny Kravitz), Summer Of '69 (Bryan Adams), Save Tonight (Eagle Eyed Cherry), Rip out the Wings of a Butterfly (H.I.M.), Far Far Away (Slade), Sail away (Hans Hartz), Baby it's You (Smokie), My Heart ist true (Smokie), Lay back in the Arms of Someone (Smokie), Liverpool Docks (Smokie), Play some Rock (Liquido), Bad Moon Rising (CCR), Down on the Corner (CCR), Up around the Bend (CCR) – seltsamerweise auch YMCA (Village People), weil es zu einer Abi-Abschlussjahrgangsfeier auf einem Sonnen beschienen Schulhof der 80er/frühen 90er gespielt wurde, kurz bevor sich alle Schüler in alle Winde zerstreuten und noch am Nachmittag Richtung Freiheit unterwegs waren)

 

Das Schulzeitende etwas moderner:

Ich setze mich in mein Auto. Ein schöner Morgen. Zwischen den ehemaligen Professorenvillen, die heute als Mehrfamilienhäuser ausgebaut sind, begrüßt mich die Sonne, noch kaum über den Dachfirsten hervorschauend. Es wird wieder ein heißer Tag und ich liebe es schon morgens keine Jacken und langen Hosen tragen zu müssen, ohne dass ich noch friere.

Durch das ruhige Viertel meiner Heimatstadt fahre ich heute nicht zu einem der letzten Unterrichtstage in die Schule, sondern zum Sportfest. Zwar müssen wir als Oberstufenschüler nicht mehr aktiv mitmachen, aber sollen doch beim Ablauf helfen, also Startzeichen für die Läufer geben, Weiten der Kugeln und Bälle am Wurfstand und beim Weitsprung messen, Urkunden schreiben und aufpassen, dass die jüngeren Jahrgänge sich nicht in die Haare kriegen und dass alles ohne größere Probleme abläuft.

 

Unsere Prüfungen zum Abitur sind noch nicht geschrieben, aber ich mache mir keine Sorgen, bin ja vielseitig interessiert und lerne nicht nur gerne, was ich lernen soll. Außerdem wollen wir uns nach dem Sportfest noch im Park treffen, ein paar Freunde von mir und bis in den Abend erzählen, später dann grillen, vielleicht auch schon im See baden. Es ist Ende Mai und weder das herrliche Frühlingswetter, schon mit starken Sommerelementen versetzt, noch das spätere Treffen mit den Freunden oder das nahe Ende und der in Aussicht stehende Erfolg der langen Schulzeit lassen mich so selig zum Stadion fahren, durch sonnige Alleen und die bereits belebte Innenstadt. Sondern die Aussicht auf mein kommendes Leben. Zwar habe ich alle Möglichkeiten, die man sich vorstellen kann, doch zunächst werde ich in die Offizierslaufbahn eintreten, nach wenigen Jahren als Reservist ausscheiden und mit Anfang zwanzig zu studieren beginnen. Dabei lerne ich dann Verantwortung zu übernehmen und zu leiten und werde in der Gesellschaft wichtige Positionen meistern können und zu einer Person werden, die geachtet und wertvoll ist. Philosophie und das bohème-Leben werden meine Ablenkung sein und ich selbst in künstlerischer Muse meine geplanten Romane über das Leben selbst vollenden können. Das Landhaus mit gesellschaftlichen Festen und Treffen der schönen Künste sind dann die Krönung meines Lebens und zeigen endlich, nach langem, aber stetem und genussreichem Aufstieg, was ich wirklich wert bin.

 

Das war einer meiner Träume damals. Heute schreibe ich das sechs Jahre später, nachdem ich das Abi nicht ganz so gut überstanden habe; zwar bei der Armee war und auch viel gelernt habe, aber lange nicht als Offizier abschloss und froh war, endlich wieder frei zu sein; eine Berufsaubildung absolvierte, weil mein Wunschstudium der Medizin durch die nicht ganz so guten Abiturnote nicht möglich war; nun endlich zwar studiere, aber meine Ziele in weite Ferne gerückt sind und sich die Selbstverständlichkeit der Entwicklung, die mir alle so lässig vorhersagten, als äußerst mühsam und völlig uneindeutig entpuppte und sich letztlich meine Träume komplett veränderten. Während ich damals unter anderem von solchen Zukünften schwärmte, will ich heute mit mir selbst zufrieden und mich selbst ertragen könnend jeden Moment auskosten, ohne lang über die Zukunft nachzusinnen und Pläne zu schmieden, die mir später nur zeigen, was ich alles nicht erreicht habe. Ich lasse es laufen und versuche das Beste aus allem zu machen. Mal schauen, wo das hinführt.

Aber das Gefühl von der Freiheit, die ich nach allen großen Abschlüssen, wie dem des Abiturs, erlebe, lässt mich solche Träume rekapitulieren und es sind die schönsten Erinnerungen, weil sie noch unerreichte Vorstellungen, Wünsche und Vorfreude präsentieren. Sie zeigen noch einmal Möglichkeiten, die man hatte und scheinen rückwirkend unbegrenzt frei – aber da sie nicht eintraten auch nicht so beklemmend unüberschaubar und orientierungslos. Die Zukunft in der Vergangenheit wie die Erinnerung an die Vorstellung ist mir das Höchste.

 

(Musik dazu: Wir sind Wir (Paul van Dyk))


2. Gehe hin, du kannst nicht fehlen

„Geh dahin, wo mehr Leben ist, mein Sohn.“ Der letzte Mensch dieser Gegend klang ihm nur noch schwach im Ohr nach. Die Erinnerung versiegte immer mehr im Loch der Zeit, die seitdem schon verstrichen war und ihm wurde klar, dass er in dieser Gegend, die keinen Menschen wollte, nichts erringen konnte. Die Wüste siebt ihre Bewohner streng und er gehörte nicht dazu. Irgendwann würde er auch hier sterben, verlassen selbst von seiner Erinnerung, nachdem er Jahre der Einsamkeit versiecht hatte.

Da sich offensichtlich nichts daran änderte, er der einzige Bewohner dieses verlassenen Dorfes noch war und auch seine Heimatgefühle ihm nicht den Lebensmut geben konnten weiter hier zu bleiben, packte er das Wichtigste zusammen, verabschiedete sich von jedem Gedanken, den er noch mit seiner Kindheit hier verband und begrub die Anwesenheit von Menschen an diesem Ort unter dem Mantel der Geschichte. Seine Familie war übrig geblieben, hatte den Widrigkeiten getrotzt, doch letztlich mussten sie auch den Weg allen Lebens gehen und ohne sie oder irgendeinen Menschen hielt er es nicht länger aus.

Lange hatte er sich eingeredet, dass es nichts für ihn gab, wofür er weggehen konnte. Ungelernt und ohne Bekanntschaften würde ihm das Leben in der Zivilisation schwer fallen und in den Gassen der Stadt wollte er auch nicht vegetieren. Aber hier würde er ganz verzweifeln. Also zog er los. Mal mit der Sonne, mal mit seinem Schatten als Begleiter. Wenn er an einen Fluss kam, verweilte er tagelang, erfreute sich am Wasser und wollte nicht wieder weg, bis entweder das Wasser zu schlammig wurde, Schakale ihn vertrieben oder der Hunger vorwärts zwang. Möglichkeiten über Möglichkeiten breiteten sich vor ihm aus und warteten nur darauf genutzt zu werden – aber nicht von ihm. Denn wer sie nutzt, muss sie auch sehen und wollen, (muss sie verstehen und nutzen sollen). Was wollte er denn? Seine Familie zurück. Sein Leben zurück. Einfach leben, bis es vorbei war und sich daran erfreuen, umgeben von Menschen, die ihn mochten und die er mochte. Doch Eltern starben irgendwann und ließen die Kinder meist zurück. Sie mussten also wieder Kinder erzeugen, um die Familie am Leben zu erhalten und ihrerseits nicht allein zu sein. Konnte das der Sinn sein, warum man sich vermehrte? Nur mit dem Grund nicht allein zu sein? Eine endlose Kette nur um sich Leid zu ersparen, indem man anderen potentielles Leid androhte, wenn sie es nicht genauso machten. Seinen Kindern nämlich tat man das an, die zwar erst die Liebe der Eltern erfuhren, dann aber selbst wieder allein lebten, machten sie es ihren Vorgängern nicht gleich. Wozu das alles?

Die Wanderung verlangte ihm ab, immer tiefer in die Bedeutung seines Lebens einzutauchen und je weiter runter es ging, umso näher kam es der Bedeutung der anderen. Denn sie taten das gleiche und ohne sie ging es auch für ihn nicht weiter, so wie er ihnen half, nicht allein zu sein. Dafür musste er jemanden finden, der allein war. Er hatte keinen Sinn dafür irgendwem helfen zu wollen, weil es demjenigen schlecht ging und er etwas Gutes tun wollte. Sondern wenn er etwas tat, dann um sich selbst dabei gut zu fühlen und den Tagen seiner Kindheit so wieder nahe zu kommen. So langsam wurde ihm also klar, was er tatsächlich wollte. Wochen des Umherstreifens durch fremdes Gebiet, das ihn nicht berührte, das in ihm nicht Altes wieder in gewohnte Gedanken zurückfallen ließ, hatte es gebraucht um sich dessen bewusst zu werden. Nur mit der Gewissheit bewaffnet, in der Natur zurecht kommen zu können, hinein zu gehören und also berechtigt zu sein etwas zu wollen und nach der Erfüllung zu streben.

 

So aufbereitet konnte er auch die neue Situation bestehen, die sich ihm jetzt offen stellte. Ein Priester kam daher, scheinbar verirrt, so setzte er sich unter einen Baum, um nicht der Sonne ausgesetzt zu sein und legte wohl eine Rast ein. Wo er sich diesem Menschen vorher keine fünfzig Schritte genähert hätte, weil er nichts mit ihm zu schaffen hatte, suchte er jetzt keinen Ausweg. Zugegeben kam es auch durch den Umstand, dass er in Gedanken versunken die ruhig sitzende Person zu spät bemerkte um sich zu entfernen, wodurch er nach dem Weg des Gottesmannes fragte, um nicht stumm vorüber zu gehen, wo sich selten jemand traf.

„Ins nächste Städtchen soll ich, dort die Gemeinde zu betreuen. Doch die Hitze hierzulande scheint mir noch nicht zu bekommen. So weiß ich gerade nicht genau, in welcher Richtung es denn liegt. Aber der Herr wird mich schon führen.“ Dieser alte Mann ließ sich von ungewohnter Umgebung nicht abschrecken, sondern versuchte sich anzupassen, weil er dort etwas wollte und das, obwohl er doch schon so lange gelebt hatte. Was mochte ihn dazu bewegen? Das erstaunte ihn, der möglichst immer jenes Gebiet nach der eigenen Zugehörigkeit suchte. War möglicherweise jeder Ort fähig sein Zuhause zu werden, wenn er sich ein wenig änderte? Fest stand, dass er das nur unter anderen Menschen herausfinden konnte und dieser erste hier wollte genau dorthin.

Noch Tage sollte es dauern, hatte er erfahren, bevor in dieser Gegend wieder gewohntes Gebiet auftauchte und so fragte er den Priester nach seinem Grund die Heimat zu verlassen. Wie es einem Menschenkenner und rhetorisch begabtem Gottesmann aber geziemt, stellte er sogleich eine Gegenfrage:

„Warum bist du hier unterwegs? Gejagt hast du nicht und dorthin wo du herkommst wirst du wahrscheinlich auch nicht wieder zurückgehen.“

„Ich ging, weil es nichts mehr gab, das mich hielt und ich der letzte war.“

„So ähnlich ist es mir ebenfalls ergangen“, erwiderte der Priester,  „Zwar liebte ich meine Stadt, aber es wäre nicht mehr meine Heimat gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass ich woanders gebraucht werde. Ich hätte mich überflüssig gefühlt, wo jemand anderes bereit war meinen Platz einzunehmen. Du gingst, weil es keinen Platz mehr gab. Wir sind auf dem gleichen Weg, nur dass ich das Ziel schon kannte und du es erst noch finden musstest.“

„Warum redest du so? Woher weißt du, dass es das Richtige ist?“ fragte er, nicht verstehend, wie man alles Liebe zurücklassen konnte.

„Der Herr bestimmt den Weg und ihm nicht zu folgen bedeutet zu irren. Du hast gesehen, wie es ist zu irren und dabei zu verzweifeln. Doch so weit muss es nicht kommen. Du kennst nicht die Umstände worüberall, du kannst es nur ausprobieren. Vertraue dem, der darüber urteilen kann und auch weiß, ob du dorthin passt. Denn er weiß alles. Wieso ihm also nicht vertrauen? Wollte er dich irreführen, so könntest du nichts dagegen tun. Doch das will er nicht und daher wirst du endlich doch da anlanden, wo er dich haben will. Dorthin wirst du von ihm geleitet, dort sollst du sein. Dann geht es dir gut. Nur ob du ihm vertraust, liegt dir inne und danach richtest du dich aus – und er dich auch.“

So ging er denn mit, auch wenn ihm die Worte nicht gefielen, selbst nicht bestimmen zu können, was ihm widerfahren würde. Doch wer weiß schon genau, was er will und falls ja, wie er es erreichen kann? Die Gesellschaft erschien ihm dafür ganz angenehm und wer weiß: vielleicht würde er in ihr schon bald mit anderen in Berührung kommen und erreichen, weswegen er das verlorene Paradies verließ.


3. Am Bahnhof: Täglich in anderen Welten

Der lange Tag im Labor ist vorbei. Nun warte ich noch auf den Zug nach Hause. Zwar ist das Gleis am Bahnhof Weimar überdacht, doch der Regen peitscht aus einer einheitlich grauen Masse über mir unter den schützenden Vorsprung und erwischt gerade noch meine Schuhspitzen. Ich werde wohl nicht mehr erleben, wie sich genug Wasser darauf sammeln kann um zu den Strümpfen durch zu dringen, denn auf den nostalgisch anmutenden Blätterlettern der Anzeigetafel verbleiben nur noch 10 Minuten – und heute mal keine Verspätung. Dennoch sind die Beine schwer vom langen Stehen vor den Messzylindern und Reagenzgläsern. Eigentlich ist es mir aber auch gleich wie lange ich warten muss. An solch einem Tag kann man ohnehin nicht mehr viel machen.

   Eine Weile schweift also mein Blick über Gesichter, mit nur kurzen Blickkontakten, die sich jedoch alle schnell wieder abwenden. Man will ja niemanden dadurch ansprechen irgendwas für ihn tun zu sollen, bei dem Wetter schon gar nicht. Aus ihren Mündern scheint das Wasser aus den heruntergezogenen Winkeln zu entspringen.

   Die Konstruktion des Daches könnte ich mittlerweile auch schon maßstabsgetreu nachbauen und die Umgebung des Bahnhofs habe ich ebenfalls bereits ausführlichst studiert. Was also tun, wo man doch so keine rechte Lust hat, auf irgendwas? Nun, vielleicht einfach mal das letzte Gleis beobachten, wo sich eine andere Szene abzuspielen scheint…

   …Dort warten Wagons älterer Bauart auf ihre Passagiere, welche geradezu erfreut den zahlreichen Türen entgegenstreben. So ganz heiter passt ihr Ausdruck nicht zu uns anderen.

   Nachdem ich dem Treiben eine Zeit lang zugeschaut hatte, bemerkte ich, dass diese Menschen in hellerem Licht zu stehen schienen und keinen Regen abzubekommen fürchten mussten, welcher wohl keine Lust hatte, sie zu durchnässen.

   Vornehmend ältere Persönlichkeiten steigen zu. Ein unscheinbares, aber zufriedenes Lächeln vermittelt eine wohlige Ruhe aus der Hektik ihres Tuns. Einige verabschieden noch jemanden, welche nicht so ganz glücklich scheinen, andere gehen allein mit dem Partner auf die Reise. Die Reise. Jetzt weiß ich, woran mich dieses Bild erinnert. Es kommt mir vor, als stiegen diese Leutchen in den letzten und einzigen Zug ein, der auf alle wartet. Die älteren Herrschaften mussten froh sein, alles im Leben erledigt zu haben, die Jungen beweinten das Abtreten ihrer geliebten Verwandten. So machte es Sinn, im ersten Moment. Doch als ich mich umschaute, interessierte sich keiner weiter für diese eigentümliche Begebenheit, als würde rein gar nicht passieren. Dabei erstrahlte der gesamte Zug meines Erachtens im Sonnenschein, wo doch um ihn herum alles verregnet hing. Schon glaubte ich in einen Tagtraum zu blicken und mir das alles nur vorzustellen, doch die Analogie in diesem Moment war einfach zu perfekt.

   Zu Hause dann lese ich noch vom Briefkasten zur Haustür in der Zeitung von einer historischen Eisenbahn, die derzeit eine geschichtliche Reise durch Deutschland macht und an den wichtigsten Punkten hält und dabei erkenne ich, dass mir meine Vorstellung wieder einmal einen Streich gespielt hatte. Den Zug gab es wirklich und auch die Menschen, doch traten die meisten von ihnen wohl nicht ihre letzte Reise an bzw. ganz aus dem Leben. Die erhellte Darstellung kann ich mir allerdings noch immer nicht erklären.


4. Suchen und Finden als Soldat

Ich erinnere mich noch gut an meinen Eintritt in die Armee. Hab ich mich damals doch glatt von so einem Bauernfänger, einem der Schergen des hohen Herren, zu einem Krug Weißes einladen lassen. Ein Kerl wie ein Vagabund. Doch dann hätte er mittellos drein schauen müssen. Meine Zweifel ob seiner Börsenkraft wusste er geschickt zu zerstreuen und ich ließ mich in Gutglauben an die Menschen zu einem Humpen hinreißen. Hatte es so nicht immer der Pater gesagt? Na, zumindest den Teil mit dem guten Glauben! Aber das mit der Verpflichtung zum Militär, die ich im Rausch erklärt hatte, davon verlor er einst kein Wort, der Pfaffe. Steckte sich bestimmt auch manches Kupferstück der Hohen Herren ein, das einfache Volk zu verführen. Ach! Wer sagt’s denn, die Kirche selbst ist doch Kriegstreiber und Herr zugleich. Hat ihn ja für sich gepachtet.

 

Wir waren von der letzten Schlacht müde einige Tage lang marschiert. Nicht viele von uns hatten überlebt, aber die, welche überlebt hatten, wussten wieder, warum sie lebten. Wir trauerten nicht um die Toten. In unseren Augen waren sie glücklich nichts mehr mit der Welt zu tun haben zu müssen. Die Welt war ungerecht und für uns, die wir allesamt aus ärmlichen Verhältnissen stammten und oft die dritt-, viert- oder letztgeborenen waren, gab es kaum Verwendung oder Arbeit. Schon meine Familie hatte kaum Geld, um meine anderen Geschwister zu ernähren, dann gar noch die Ausbildung in einem Beruf zu bezahlen. Um also mir selbst ein besseres Leben aufzubauen und auch meine Familie nicht in Bedrängnis zu bringen, ging ich früh fort, zum Söldnerlager und lernte dieses blutige Handwerk. Viele starben unterdessen, viele, von denen einige gute Freunde gewesen waren. Aber entweder starben sie an der Verzweiflung und Mutlosigkeit oder an Krankheit und Hunger. Wer zäh war und dem widerstehen konnte, hatte auch selten Pech im Kampf. Ich hatte mich nach anfänglichem Schaudern daran gewöhnt, das jahrelange, vertraute Gesicht neben mir irgendwann blutverschmiert und reglos im Dreck liegen zu sehen, oftmals das Haupt vom Rumpf getrennt.

Diese Erinnerungen begleiteten mich auf diesem Marsch, der ein schweigsamer war und ich konnte nur versuchen, sie als normal anzuerkennen – für mein Leben. In der Ferne sah man durch die Bäume und weiter unten im Tal einige Lichter brennen und unser Hauptmann meinte, dass wir dort rasten würden, um die hereinbrechende Nacht abzuwarten. Die Tore der Stadt lagen noch geöffnet da, scheinbar hielt man es hier nicht für nötig sie abends abzuschließen. Viel Krieg hatten die Bewohner offensichtlich nicht mitmachen müssen. Zu unbedeutend wird es hier wohl gewesen sein.

In einer Felsnische nahe dem unbefestigten Stadtteile lagerten wir an wenigen Feuern. Bratengeruch drang langsam an meine Nase und es versprach ein ruhiger Abend zu werden. Viele waren nicht mehr übrig. Jeden, der noch lebte, kannte ich gut und ich fragte mich wer wohl das nächste Mal nicht mehr mit uns zusammensitzen würde. Vielleicht war ich es ja, endlich. Meinen Soldatenrock erkannte man schon nicht mehr als solchen, geflickt und ausgegraut war er meine zweite Haut geworden und so fiel es uns nicht schwer die Gegend ungestört zu erkunden. Nicht weit von unserem Lager erwachten die Häuser zum zweiten Male am Tag. Vor allem, wer früh nicht raus musste, um auf den Feldern zu arbeiten oder seinem Gewerbe nachzugehen, traf sich hier in den Kneipen um der Geselligkeit zu frönen, die am Tag verwehrt war, weil man verstreut aufs ganze umliegende Land den Tageslohn erwirtschaftete oder bettelte. Die Kameraden liefen so mit mir durch die Gassen und jedes zweite Haus wies sich heimlich als Wirtsstube aus. Freilich nicht vornehm, sondern spärlich eingerichtet, mit Holzbänken und tönernen Krügen, aber anders hätte ich es auch nicht gewollt. Zwischendrin war ein freier Platz eingelagert, obwohl er so frei eigentlich gar nicht wahr. Im Gegenteil: Voll gestellt mit Wagen aus denen allerlei buntes Zeugs heraushing, deren Pferde zottelig, aber temperamentvoll drein schauten und die Gestalten drum herum uns als fahrendes Volk ausgewiesen wurden, andernorts Zigeuner genannt. Wo sich die Juden nicht hintrauten, da machten diese dunklen Gestalten ihre Geschäfte. Dunkel wegen ihrer nahezu unbekannten Geschichte und der gebrannteren Hautfarbe. Weil man nichts über sie wusste, musste man etwas über sie erfinden, wie es mit allen Fremden geschieht. Da ich mich jedoch nicht für sie interessierte, kannte ich auch die Geschichten über sie nicht und sie berührten mich indes auch wenig. Jeder, der gesellig war, war mir willkommen. Und diese Leute schienen einen ausgesprochenen Sinn dafür zu haben gesellig zu sein. Wo nicht die Alten mit den Kindern im Kreise der Wagen um die Feuer saßen und sich erzählten, da sangen, spielten und tanzten die Jungen. Verstreut in den Kneipen sah man immer wieder einen Geiger mit schwarzem Haar und fast elegant abgewetzten Kleidern, dessen Finger über die Fidel fuhren, als seien sie vom Leibhaftigen selbst geführt. Und wo die Häuser überquollen, wurde auf den Straßen weitergespielt und getrunken. Ich wusste nicht, ob heute irgendein Feste anstand oder ob es hier allabendlich so munter zuging. Aber es gefiel mir und ein Kamerad hatte uns schon die ersten Krüge beim Wirt geholt. Langsam hellte sich unsere Laune wieder auf. Das Kriegsfeld war mit dem ersten Schluck vergessen und die hübschen Mädchen mit den langen, wirbelnden Röcken, die barfuß auch auf unserem Tische tanzten ließen ihre hüftlangen Haare und die riesigen Ohrringe im Takt zur Fidel schwingen.

Noch einige Krüge später sah ich auch mich auf der Straße mit den fremdartigen Menschen herumtanzen, immer eine der schwarzhaarigen Frauen im Blick. Wirklich schwer war es nicht ihr nahe zu kommen, sie zu umtreiben und mit Gesten zu reizen. Kein Wort wechselten wir, nur aus den Blicken und den Lächeln bei bestimmten Berührungen tasteten wir uns durch die Nacht und die Dunkelheit unserer Kulturen. Am Ende wusste keiner von uns mehr wo er hingehörte, nur, dass wir uns in der Nähe des anderen am wenigsten fremd fühlten. Die Stunden bis zum Morgengrauen verbrachten wir in ihrem Wagen, noch gewärmt vom Feuer der nahen Zigeuner und ungestört, weil die anderen Bewohner kurz vor der Abreise nicht schliefen und alles „vorbereiteten“, wie ich es später erfuhr.

Ich musste weiter, mit den Kameraden. Der Graf hatte nach uns verlangt, wir sollten ihm beistehen in einer Angelegenheit, die kriegstechnisch fast verloren schien. ‚Na, dachte ich, sehr viele Nächte werde ich da wohl von dieser Begegnung nicht mehr zu träumen haben.’ Aber vielleicht, so Gott wollte, würde ich in der entgegen gesetzten Richtung, in die unser beider Wege führten, ihre Augen irgendwann wieder finden. Durch das beginnende Schneetreiben hindurch.

Der Graf, ein Fürst. Wie alle Adligen stellte ich ihn mir vollkommen vor, ein höherer Mensch. Ein Geschlecht von Menschen, die nichts mit dem gemeinen Arbeiter zu tun hatten. Ihre Kinder wurden in Dingen geschult, deren unsereins erst spät im Alter gewahr wurde, nachdem er auf sein langes Leben zurück blicken konnte - wenn man denn dahin jemals kam. Ich würde es jedenfalls nicht erreichen und ich war auch nicht außerordentlich begabt. Diese Sintezza aber gab mir das Gefühl, trotzdem irgendwo dazu zugehören.


5. Expeditionsvorbereitung

Über den Straßen des Bergstädtchens hing schon seit Tagen eine dichte Nebeldecke. Es mussten ohnehin alle Ausrüstungsgegenstände beschafft werden und die Routenplanung war auch noch nicht endgültig. Dadurch, dass keiner die genaue Stelle kannte, wollten sie das Gebiet nicht zu sehr einschränken. Jeder der Expeditionsmitglieder machte sich seine ganz eigene Vorstellung von dem, was sie da oben wohl finden würden. Bis jetzt gab es nicht mehr als die wagen Beschreibungen einiger alter Bücher und handschriftlicher Aufzeichnungen. Wer nicht auf eine aufschlussreiche Inka-Destination spekulierte, der malte sich eine noch unbekannte Kultur aus, möglicherweise von den Inkastämmen verstoßen oder abgesondert, vielleicht sogar, so vermutete ein begeisterter Science-Fiction-Leser, eine Botschaft aus den Tiefen des Alls, die darauf wartete von intelligenten Wesen aus größten Höhen geborgen zu werden.

Doch erstmal mussten sie auf besseres Wetter warten. Die kleinen Gassen sahen mystisch aus, waren sie doch nur mit fahlen Kerzen durch die Nebelschwaden hindurch beleuchtet. Man glaubte auf ihnen den Schein ihres Erfolges zu sehen, der immer wieder nur kurz aufzuflackern schien und sich eher als vages Schimmern zeigte, denn als sicheres Ziel. Auf den Straßen fühlte man sich immer ins Tal hinab gezogen und wer doch einmal hinauf sollte, wollte gleich wieder hinunter, so steil und anstrengend war ihre Begehung.

In diesen Tagen musste auch irgendein Fest der Bergbevölkerung angesetzt gewesen sein, denn gegen Abend fand sich die Mehrheit der Einwohner auf dem ebenfalls recht steil angelegten Markplatze ein und schien gewisse Rituale zu vollziehen. Manchmal feierten sie zur rhythmischen Musik, dann schienen sie wieder wie vor Ehrfurcht erstarrt zu sein.

Die Expeditionsmitglieder bemerkten das ganze Treiben vor allem dadurch, dass die Geschäfte geschlossen waren, in denen sie die Suche nach günstiger Ausrüstung schon lange aufgaben hatten und nun nur noch darauf aus waren überhaupt irgendetwas zu bekommen, woraus sie sich ihre nötigsten Sachen selbst herstellen konnten. Außerdem erklang diese Nächte hindurch äußerst befremdlich die ganze Stadt in halb singenden, halb betenden Geräuschen die schmalen Gassen hinauf. Wozu sich die Menschen abwechselnd immer mal wieder auf dem Markplatz vor einer Art Bühne einfanden, konnte sich von den Europäern auch niemand erklären.

Die hier fremden Entdecker waren sich einig, so schnell wie möglich aufzubrechen. Dem einen oder andern war diese ganze Aufmachung wohl nicht sehr geheuer. Zudem hatten sie nur begrenzte Mittel zur Verfügung und mussten sich an einen Zeitplan halten, von dem sie noch nicht einmal wussten, womit sie ihn füllen sollten. Was suchten sie eigentlich hier oben? Diese Frage ging ihnen immer wieder durch den Kopf und hielt sich stetig am Leben, ja sie wurde durch jedes andersartige Ereignis nur mehr genährt.

Allein der Leiter dieser ganzen Untersuchung schien wirklich einen Plan und Antworten auf all ihre Fragen zu haben. Er war ein stämmiger Mensch, Ende dreißig und mit einem Bart, der auf dem Wege zur gesamten Gesichtsbedeckung so gut wie am Ziel war – im Gegensatz zu den meisten anderen Mannschaftsgenossen. Seine Hosen schienen immer die gleichen zu sein, vielleicht hatte er auch vor vielen Jahren einen ganzen Stoß gleicher Hosen gekauft, weil sie ihm so gut gefielen oder so dermaßen praktisch erschienen. Denn die Hosen waren mit Taschen nur so übersät und hatten an jedem stärkeren Muskel Gürtel befestigt, wohl um sie in ihrer Arbeit zu unterstützen und Gegenstände zu verankern, Munition zu verstauen oder auch zum Abbinden bei Gliedmaßenverlusten. Schwere Armeestiefel sicherten seinen Halt auf dem bröckelnden Boden hier. Die Jacke war stark gefüttert und wer weiß mit wie vielen Innentaschen bestückt. Jedenfalls fand sich an seinem Körper nahezu jedes mögliche, überlebenswichtige Utensil, weshalb er auch nie einen Rucksack trug. Essen brauchte er tagelang nicht und Wasser schien er mit der Luft und deren Feuchtigkeit aufzusaugen. Allein mit einer Flinte halb auf der Seite und einem offensichtlichen Revolver an die Hüfte geschnallt, wahrscheinlich auch irgendwo noch einem Jagdmesser, wusste er sich durchaus zu verteidigen. Nicht, dass ein Mensch ihn angegriffen hätte, bei der Statur, aber an gefräßigem Wildleben mangelte es hier oben bestimmt nicht. Einzig ein kleines, in Leder gebundenes Buch, wohl eine Art Tagebuch, hatte fast seine komplette rechte Hemdtaschenhälfte in Beschlag genommen. Da drin musste auch alles festgehalten sein: vom Ziel, ungefährer Dauer und Routenplanung über Geländekarten, Aufgabenlisten, Erlebnisse, Logeinträge und Theorien, bis zur gesamten Zusammenfassung des Materials zu dieser Forschungsreise.

Er schrieb noch einen Brief an das Institut mit dem letzten Stand der Vorbereitungen, denn am nächsten Tag wollten sie endlich aufbrechen, egal, wie dicht der Nebel auch sein möge, in höheren Lagen würde ohnehin die Sonne scheinen. Er ahnte, was sie da oben erwarten würde und wusste, dass nur wenige wieder zurückkehren würden – ihn eingeschlossen. Noch einen letzten Blick warf er auf den Himmel, von dem man nicht wusste, ob die Sonne gerade auf oder unter gegangen war und dann versiegelte er den Brief.

Absender: Peru, irgendwo südöstlich, nahe der Grenze zu Bolivien.


 6. Dunkle Zeiten und die Spur von Glück

Es waren dunkle Zeiten, in denen ich mein erstes Handwerk annahm und es war genau das, was man unter dem Wort versteht. Denn ein Soldat musste alles beherrschen, was ein anderer jahrelang erlernt. Er muss Kleidung flicken, Schuhe nähen, Waffen schleifen, Essen beschaffen, handeln und sammeln und letztlich mit seinen Händen töten können.

Aber es waren nicht nur dunkle Zeiten, weil allein das Recht der Hierarchie und der Kirche galt, wo Verstand und harte Arbeit nichts zählte, wenn man nicht jedem Befehl eines direkten Vorgesetzten folgte – und zuerst sollte ich das beim Militär lernen. Es waren auch dunkle Zeiten, weil ich mich vor allem des Nachts auf mein Leben besann. Als Knecht hatte ich mal dem Wirt, mal dem Schmied und mal dem Krämer gedient. Der Bauer hatte mich nach wenigen Tagen vom Hof gejagt, weil mir eine seiner Mägde zu gut gefiel. Trotzdem hatte ich mitgenommen, was er nicht sofort bemerken würde und mir noch nützlich sein könnte, wie ein paar Fuß Seil, die Liebe seiner Tochter und einen gut versteckten Geldbeutel. Er hatte ihn so gut versteckt, dass er nicht damit rechnete, ein anderer fände ihn jemals. Deshalb würde er wohl auch die nächste Zeit nicht nachschauen wollen. Auf einen eher beiläufigen und ihr nicht näher bewussten Hinweis seiner neugierigen Tochter jedoch war ich ihm gefolgt und hatte mir das Ganze aus der Nähe beobachtet. Er würde mich also nicht verdächtigen können.

Der Krämer dagegen war schon um einiges vorsichtiger. Er hatte alles im Blick und kontrollierte jeden Abend den Bestand. Da war nichts mitzunehmen, was ich nicht erfeilschen konnte. Doch das lehrte er mich. Er war Jude, das machte mir nichts aus und so lernte ich auch ein paar nützliche Details seiner Religion, die mir später unter den christlichen Gottesleuten einige Male zugute kamen und letztlich sogar halfen, unter ihnen aufgenommen zu werden, mit Hilfe einer Religion, die sie selbst verschmähten, aber auf der die ihrige doch aufbaute. Aber das war viel später.

Zunächst verrichtete ich meinen Dienst im Gasthaus und deswegen war es eine dunkle Zeit für mich. Denn am Abend ging dort das meiste vor sich und Leben erwachte in Kreaturen, die man tags über nicht mal als tot beobachtet hätte: nämlich gar nicht. Diebe, Halunken aller Art, Betrüger, Zigeuner und Soldaten trieben sich herum und trafen sich zum Krug. Unter all ihnen lernte ich und zog manche Nacht durch die Stadt, um dem schlafenden Volk die Taschen und die Herzen von Gewicht zu befreien. Dabei hatte ich es weniger auf das Geld abgesehen. Dafür hatten die meisten zu wenig davon. Eher auf Nützliches fiel mein Blick. Wie zum Exempel Kupplerbriefe und geheime Verträge, Briefe anrüchigen Inhaltes, mancher Gegenstand wie ein kleines Fernrohr und ein Kompass - sehr förderlich, wenn man damit umzugehen weiß - eine in goldgefasste Bibel, den einen oder anderen stahlgefestigten Dolch und Lederpanzer, die ich freilich unter meiner mittelmäßig schäbigen Kleidung trug und so manchen damit überraschte in einer Prügelei scheinbar unverwundbar zu sein. Die Papiere aller Art konnten gut als Druckmittel gegen Gefallen, Einlass, Schuldtilgung oder bare Münze eingetauscht werden. Andere davon behielt ich zurück, mir selbst gewisse Vorteile in ausweglosen Situationen zu verschaffen. Vieles bewahrte ich allerdings auf als Gewissheit meiner Macht und um im Gegensatz zu meinen Opfern ruhig schlafen zu können. Denn die Dokumente konnte man mir nehmen, aber nicht das Wissen darüber was drin stand. Und falls mich einer meucheln wollte, würden meine Kumpanen und Schuldner es ihm heimzahlen. Denn letztere wussten, was sie an mir hatten, da ich mit meinen Geheimnissen über sie geheimnisvoller umging als ihre regulären Mitwisser.

Letztlich half ich sogar - nach meiner Auffassung und Beruhigung des mir eher schwach ausgebildeten Gewissens - vielen überhaupt erst die Augen für das Wesentliche zu öffnen, indem ich es ihnen nahm. Eine gewisse Art des Zynismus, zugegeben.

Ich verdingte mich in freien Stunden als Kutscher, der nebenbei so manches Tächtelmächtel und niedere Staatsgeschäfte erfuhr und sogar mancheinen vor giftigen Intrigen, die hinter mir ersonnen waren, bewahrte.

Die Zigeuner dagegen lehrten mich das leichte Leben und, um es wörtlich zu nehmen, die Kunst artistischer Bewegung, so dass ich geschmeidig und elegant in hohen Kreisen unterwegs sein konnte, wenn es denn angebracht war, sich lautlos und ungesehen in kompromittierenden Situationen zu bewegen, wenn Besitztümer den Halter oder Informationen das Ohr wechseln sollten und ungreifbar wurde ich dadurch, wenn es um Leib und Seele ging.

 

Doch alles in allem langweilte mich diese kleine Stadt, nachdem ich sowieso jedes Haus in- und auswendig kannte und mehr über deren Bewohner und ihre Beziehungen untereinander wusste als jeder Pfaffe, der die Beichte abnahm und deshalb ergriff ich eine Werbung der Armee, um ihr als einfacher Soldat - zunächst - beizutreten. Zugegeben, ich war leicht angetrunken und vielleicht etwas voreilig die Stadt auf diesem Weg zu verlassen. Was ich am folgenden Morgen mit seiner unbarmherzig grellen Sonne ein letztes Mal aus einem Bett und hinter - wenn auch dreckigem - Glas feststellen musste, weil der Eintreiber schon die Stufen heraufgepoltert kam. Aber ich wollte es nicht bereuen.

 

Meine reichhaltige Erfahrung unter Menschen brachte mich auch im Soldatenleben schnell voran, obwohl ich mich die erste Zeit an diese neuartige Gesellschaft gewöhnen musste. Gemeinsam und ständig überwacht mit den immer gleichen Leuten im Dreck zu kämpfen für einen mageren Sold, wenn es ihn überhaupt gab und einen Fraß, den man selbst beim Bauern nicht mal Abfall genannt hätte, lag mir nicht besonders. Aber dafür lernte ich die Freundschaft zu schätzen, in Militärkreisen „Kameradschaft“ genannt, und sogar für andere einzustehen, weil sie mir zum ersten Mal etwas bedeuteten – im Gegensatz zu den billigen Bekanntschaften meiner Kumpanen in den Ortschaften, die für hart verdienten Sold zu haben waren.

Für mich gab es hieraus allerdings keinen Ausweg, erkannte ich bald, und so ließ ich ein paar meiner restlichen Informationen spielen, zeigte einem fremden Regimentskommandeur nach einer Zusammenkunft unserer mit einer anderen Einheit zwecks einer Lagebesprechung ein paar leicht veränderte Urkunden über meine Herkunft und erklärte ihm - sehr überzeugend übrigens - dass man mich unter Zwang eingezogen hatte, weil ich mit einem Knecht verwechselt worden sei und konnte sogar mit Tapferkeitserfolgen meine Eignung zur Führungspersönlichkeit unterstreichen. Zugegeben, dies war meine erste, wirkliche Leistung und ich war auch angemessen stolz darauf. Denn mit Geschick und Menschenkenntnis gelang es mir immer wieder weit abseits aller militärischen Mittel den Gegner meist schon vor der Schlacht kampfunfähig zu machen. So schlich ich mich ins feindliche Lager und vermischte das Trinkwasser mit Wein und ein paar Essenzen, die den Geist vernebeln (wenngleich Alkohol und ein eigentlich harmloses Gift zusammen des guten zuviel war und viele zum Teufel scherte), gab mich mitten im Getümmel auf dem unübersichtlichen Schlachtfeld als einer der ihren aus, indem ich die Uniform eines gegnerischen Gefallenen überstreifte und den vertrauensseligen Gegner anschließend in den Rücken fiel und hintertrieb, baute mit den Kameraden gewisse Fallen an strategischen Punkten auf und konnte manchen mutigen Soldaten im Feindeslager von dem Spuk und dem Zorn Gottes durch einige Taschenspielertricks und stinkend erlogenen Geschichten in die Flucht oder den Wahnsinn treiben. Alles in allem waren wir so das erfolgreichste Regiment, was mir vom Oberst selbst bestätigt wurde und manche Ehrung einbrachte. Doch weiter als zum Gefreiten hatte ich es so nicht bringen können. Mehr stand mir mit den ehrlichen Mitteln und meiner ehrlicheren Herkunft nicht zur Verfügung. Außerdem hatte ich mich lange genug in diesem sauberen und mir daher im Grunde völlig fremden Gewerbe aufgehalten - auch wenn es mit dreckigen Mitteln geschah - und deshalb fehlte mir nur noch die passende Gelegenheit, auf die ich auch geduldig zu wartete, wie ich es gelernte hatte zu sein, wenn ich etwas Wichtiges erreichen wollte. Und diese Gelegenheit bot sich mir an jenem Nachmittage endlich.

Denn als Wiedergutmachung für die Verwechslung und mit meinen Auszeichnungen als Kriegsheld stand mir der Posten eines Stellvertreters des Hauptmanns offen und ach dessen Kriegsverletzung, die ihn leider zum Krüppel gemacht hatte, weil der Feldarzt nichts von seinem Fach zu verstehen schien, aus Mangel an Alternativen zum Hauptmann selbst.

So manches Lagerfeuer hatte ich für Pläne missbraucht und die Abende ließen mich schlecht schlafen. Denn Strategie forderte meinen Verstand und es war eine Aufgabe die mir zusehends mehr Spaß machte, denn endlich konnte ich wirklich etwas erreichen, ganze Schlachten gewinnen und so Einfluss auf die Politik und das Machtgeschehen nehmen. Doch die Abende waren auch einsam geworden und ich erinnerte mich der Tage, in denen ich als einer unter vielen ein gern gesehener Unterhalter war. Der Status des Hauptmannes verbot mir die Gaukelei unter den Kameraden nun und ich sah mich gezwungen, mich daran zu halten, solange ich noch nicht die ganze Gesellschaft verändert hatte. Einzig im Kriegsgetümmel konnte ich meine Bewegungskunst noch nutzbringend einsetzen.

 

Ich war älter geworden und begann den Wert des Lebens zu schätzen. Zunehmend befasste ich mich neben der weitläufigen und wirklich ausführlichen Kriegskunst mit anderen Gebieten. Ich fragte mich nach meinem Sinn. Mein Schicksal führte mich soweit und ließ mich so vieles lernen, aber doch nicht, um einen Soldatentod zu finden! Dafür hatte ich zu viel Potential, wie ich noch immer fand. Mein Selbstvertrauen und die Eigennützigkeit, sowie der Gedanke, niemandem etwas schuldig zu sein waren noch immer ungebrochen. Oder nicht? Nein, meine Fähigkeiten hatte ich behalten, aber meine Ideale hatten sich geändert. Denn nun hatte ich Ideale. Und es begannen Ideen und Ziele zu reifen, aus dem, was ich erfahren hatte und was anderen um mich herum widerfahren war. Mehr und mehr begriff ich, welches Glück ich hatte und welche Fähigkeiten mir zuteil geworden waren und dass ich sie nutzen musste. Ja, ich wandelte meinen Ehrgeiz von Eigennutz zu Höherem: nämlich mehren als mir allein zu helfen.

So schied ich auf eigenen Wunsch und unter großem und wirklichem Bedauern aus dem Dienst für den Großherzog aus und hatte sogar einiges an Ansehen und Sold wirklich verdient gewonnen – auch wenn das Kartenspiel bis zum Schluss unter den Generälen mein einträglichster Broterwerb war. Soviel Spaß hatte ich mir erhalten.

Doch ich ging als nunmehr ehrenwerter Mann ins andere Extrem, wie ich anfangs naiv noch glaubte im Gegensatz dazu, woher ich gekommen war: nämlich in die Kirche, ja sogar ins Kloster. Schnell musste ich einsehen, dass mir meine Fähigkeiten hier nicht viel nützten, um genau zu sein: gar nichts. Nur meine Lernbereitschaft und der neu gewonnene Wille für Erkenntnis und Weisheit bereiteten mir den Weg zum Leiter dieses Klosters innerhalb weniger Jahre – jedoch wiederum mit der Hilfe des Gevatter Tods, für den ich diese Male jedoch nicht verantwortlich war. So war ich Abt geworden, mit gerade einmal Ende dreißig und lebte meinen Sinn für die Allgemeinheit und den neu gefundenen Gott in Erkenntnis aus.

Wiederum plagte mich Schmerz. Nun jedoch in zuvor unbekannter Form des Gewissens, weil ich mir einbildete diesen Platz nicht verdient zu haben und mich meine wachsende Weisheit mahnte, mein Leben nicht als Mönch zu verschwenden. Das Zölibat wog schwer und ich war dafür nicht geschaffen mich zwischen flüchtigen Mätressen und Enthaltsamkeit für einen Kompromiss aus beidem zu entscheiden. Außerdem begann in mir der Wunsch nach einer Gemeinschaft zu wachsen, die mir weder das Militär und seine Kameraden, noch das Kloster und seine Brüder gewähren konnten. Denn sie boten mir nicht die vollkommene und hingebende Liebe zu wirklich wichtigen Menschen.

Unter dem Vorwand einer schweren Erkrankung legte ich meine kirchliche Würde nieder und wandte mich der weltlichen Gesundung zu, nachdem ich den Bischof überzeugen konnte, dass ein dauerhaft kränkelnder Abt für ihn nicht von Nutzen sein konnte. Ich glaube der Arzt, der mir noch etwas schuldig war wegen seiner verkorksten Behandlung beim Bischof mittels Wundkotheilung, der ich zufällig als geistlicher Beistand beiwohnte, erkannte eine Tuberkulose in meinen vom Seuchenalltag des Soldatenlebens geschundenen Lungen. Seltsam, obwohl ich doch nur kurze Zeit unter dem Fußvolk verweilte und dort seit Jahren keine Epidemien diese Art bekannt geworden waren? Aber zum Glück konnte hier wiederum alles mit dem Willen Gottes erklärt werden. Eine äußerst praktische Entscheidungshilfe in diesem Götzenverein, der die allmächtige „Mutter Gottes“ in dieser Zeit bereits war.

Mein scheinbar letzter Trost war die junge Baroness, deren Anmut mir auf diversen Empfängen des alten Herrn Vater lange schon auffiel. Sie schaffte es tatsächlich mich innerhalb kürzester Zeit gesund zu pflegen, was für meine alten Ordensbrüder einem Wunder gleich gekommen sein musste. Dennoch lehnte ich jede Anfrage auf Rücknahme meiner geistlichen Pflichten von vornherein mit der Begründung ab, dem neuen Abt nicht das Vertrauen entziehen zu wollen und es ihm von Herzen zu gönnen, diese schwierige Aufgabe des Klosterhirten zu übernehmen. Diverse Mätressengeschichten kamen mir - wie stets - dabei zugute.

Als ehemalig geistlicher Würdenträger von hohem Amt hatte ich unter den einfachen Adligen eingeheiratet und war stolz und glücklich zugleich. Mein Aufstieg und Lebensweg bis hier her war beispiellos. Ein Jammer nur, dass es niemand vollends mitbekommen hatte und meinen Erfolg teilen konnte, denn dann stünde ich nicht hier. Aber dafür lebte ich ein sorgenfreies Leben als Familienvater mit einer wunderbaren Frau in angemessenem Wohlstand und mit nicht zu vielen Pflichten.

 

Hier hätte mein Leben einen ruhigeren Weg einschlagen können. Doch statt ihn zu genießen, wurde mein Pfad enger und dunkler. Die Zeiten der meisten anderen, der überwiegenden Bevölkerung derweil, lichteten sich und Gerechtigkeit und Frieden kamen über das Land. Die einfachen Menschen bekamen mehr Rechte zugesprochen und Gesindel, zu dem auch ich einst gehört hatte, wurde rigoros bestraft und eingekerkert. Leider wandte sich das Volk durch seine neu gewonnene Eigenständigkeit auch gegen die herrschende Klasse. Und nachdem zunächst die Stadträte wegen aufgeflogener Korruption, die Mönche wegen übermäßiger Anhäufung von Reichtümern und Hingabe zum Wein, statt für das Seelenwohl der einfachen Menschen fortgejagt worden waren und der Adel zunehmend ob seiner unrechtmäßig genannten Herrschaft bedrängt wurde, musste ich, noch blind für die Zeichen der Zeit, zusehen, wie man meine Frau vergiftete und unsere beiden Töchter in einem Anfall von Raubsucht erst versklavt und dann an Handelsreisende aus fremden Ländern verkauft hatte. Unterwegs, hörte ich, sollen sie sich aus Schmach über ihr Schicksal zumindest beisammen das Leben genommen haben.

Auch meine früheren Beziehungen und geheimen Verträge halfen mir nun nicht länger, denn sie waren mit dem Ziel gemacht worden, einflussreiche Leute für mich zu gewinnen und das einfache Volk hatte dahingehend nicht zu meinem Zielbereich gezählt. Im Gegenteil: meine Verbindungen in höchste Kreise flogen auf und nachdem ich die Hinrichtung einstiger Freunde im Range von Obersten und Generälen - natürlich auch aus dem hohen Adel stammend - mit erleben musste und mir zwar nicht der Galgen oder das Schafott, aber Schande, Niedergang und einige Jahre Kerker wohl nicht erspart geblieben wären, beschloss ich in den unerkannten Schoß der Natur zu flüchten. Ich wurde Waldläufer und Einsiedler. Während dieser Zeit des Umherstreifens, oft als Vagabund oder Kräuterhändler, dachte ich oft über all das Vergangene noch einmal tiefer nach. Das Volk hatte ja Recht, mit dem was es tat. Ich konnte es auch nachvollziehen. Aber der Schmerz über das verlorene Glück, die geliebten Menschen wog zu schwer und wollte einfach nicht der Vernunft nachgeben. Ebenso die Hinrichtungen der verdienten, wenn auch hochrangigen Soldaten. Freilich hatten sie die einfachen Arbeiter und Bauern im Krieg verheizt, aber sie waren doch ebenso auch Gefangene ihres Standes. So mancher hätte ein normaler Handwerker werden wollen und beschäftigte sich zurückgezogen mit der Erfindung von allerlei Maschinen zur Vereinfachung des alltäglichen Lebens, mit der Pflanzenzucht oder Philosophie und dem Seelenheil. Auch aus Mangel von Beschäftigung.

Aber ebenso mein eigenes Leben ging mir durch den Kopf. Ich hatte viel Glück gehabt, dies alles zu erleben und so weit zu kommen, wo ich doch nicht einmal meine Eltern gekannt hatte. Sie müssen wohl Ketzer gewesen sein. Vielleicht hatte mein Vater die Falschheit dieser Welt, der Kirche, der ganzen Gesellschaft erkannt, wie auch ich und konnte damit nicht länger leben und meine Mutter hatte zu ihm gestanden und war wegen ihrer Heilkunst als Hexe verschrien. Wer weiß. So stelle ich es mir jedenfalls vor.

Weder ihnen noch einem anderen Menschen hatte ich je nahe gestanden, bis zu jenem Tage, da ich das Kloster verließ. Oder war es das? Wäre das vielleicht doch meine Erfüllung gewesen: Gott zu dienen? Und hatte er mich bestraft, weil ich ihn und seinen Plan mit mir verraten hatte? Erst war ich mir allein treu gewesen – ich hatte versucht zu überleben! Dann fand ich den Weg zu anderen und schloss mit ihnen Banden und jetzt war mir allein wieder nur ich geblieben. Vielleicht war das ja der Weg allen Lebens. Anders kannte ich es schließlich nicht. Halunken, Soldaten, Kirchenmänner… alle waren dazu verdammt allein zu sein und allein zu sterben. Indem ich die Familie gewählt hatte und letztlich den Weg, den die Natur eigentlich jedem Menschen zugesteht und vorsieht, war ich erst glücklich geworden. Darum pfiff ich jetzt auf den Gott. Hatte ich denn auch jemals einen Beweis, ein Zeichen seiner Liebe, ja gar seiner Existenz gesehen? Den einzigen Hinweis darauf hatte er mir wieder genommen und so auch seinen wankenden Diener endgültig verprellt. In der Geschwindigkeit, wie ich zu ihm gefunden hatte, fiel ich jetzt von ihm ab. Darum wandte ich mich derjenigen zu, die mir das wahre und höchste Glück zukommen lassen wollte: Mutter Natur. Sie war von nun an meine Göttin, meine Liebe, meine Familie. Mein Unglück hatte ich mir selbst zu zuschreiben. Also konnte ich niemanden schuldig sprechen oder undankbar gegenüber meinem Schicksal sein.

Von meinem Pflanzen züchtenden Heerführer hatte ich so manches Kraut kennen gelernt, auch im Kloster und bei den Feldärzten war mir einiges über die geheimnisvolle, doch starke Verbindung von natürlicher Essenz mit menschlichen Körpern aufgefallen. Und so verdingte ich mich in der ersten Zeit als Pflanzensammler und fahrender Apotheker. Das meiste hatte ich an mir selbst ausprobiert und hatte so neben einigen berauschenden Pilzen und alle möglichen Lebensgeister stimulierenden Gewächsen auch viel für die leidenden Menschen in der Tasche bereit. Meine Erfahrung als Mönch konnte ich für die Heilung der Seele verwenden, allerdings nicht im Namen des Herrn, sondern als Trost. Was mir durch die Philosophie der alten Meister des Mittelmeeres erleichtert wurde, ich manche Angst zauberhaft verschwinden ließ und die Kinder mit einigen aufregenden Geschichten begeistern und fesseln konnte. Wenn ich irgendwo als Ketzer verschrien wurde, schon weil ich aus meinem verlorenen Glauben keinen Hehl mehr machte, zog ich einfach weiter. Die Länder waren groß und der Wald die ideale Verbindung zwischen ihnen, um dem Zoll und den Grenzposten zu entgehen. Es war, als lief ich mitten durch die Patrouillen und Kontrollen hindurch, Pflanzen sammelnd, ohne dass sie auch nur eine Spur von mir ausgemacht hätten. Denn die meisten Häscher fürchteten sich noch immer vor dem Wald, vor der Natur. Sie verstanden sie nicht. Deswegen erfanden sie die Kultur und bauten Städte.

 

Viele Jahre vergingen auf diese Weise und das Leben hatte mich rau gemacht, vom Leben in Einsamkeit und im Wald. Ich konnte trotz aller Eigenständigkeit, trotz aller Streiche gegen die Obrigkeit und Feinde, trotz aller Siege, des Ruhms, Ansehens und Reichtums, der gewonnenen Erkenntnisse und dem reinen Leben mit der Natur nicht vergessen, was wahres Glück einmal bedeutet hatte und dass ich längst Großvater, ja Urgroßvater hätte sein können. Mein früheres Leben tat dem keinen Abbruch. Alle Gaunereien bedeuteten mir nichts, genauso wenig wie das ehrliche Leben und die Bemühung um Beistand für die Hilfsbedürftigen. Allein die wenigen Jahre in Ruhe, in Frieden, in Liebe in der Mitte meines Lebens waren es wert gelebt zu haben und gaben mir Kraft, überhaupt noch auszuhalten. Hätte ich sie nicht gespürt, ich wäre rastlos weiter gezogen, ohne zu wissen, was ich suchte. Vielleicht wäre es mir nicht so schlecht gegangen, in der Einsamkeit der Nacht, in den dunklen Stunden, der umso düsteren Zeit nach dem Glück. Aber ich bereute es nicht gefunden zu haben. Die Erinnerung allein war es wert und keine Vorstellung davon, kein noch so intensiver Wunschtraum hätte es jemals annähernd erreicht oder wäre gleichwertig damit gewesen. Es war meine Erfüllung, wie ich heute erkenne, meine Schicksal, mir das Paradies. Doch ich war vertrieben worden und ich beugte mich, ohne jegliche Hoffnung auf Wiederkehr. Denn ich war stark geworden und hielt es aus mich zu beugen ohne zu brechen und war gewandt genug dabei nicht umzufallen. Allein es gesehen zu haben, überleuchtete alles Leid und nachdem ich mein Leben niederschrieb und jetzt hier vor meiner Hütte im Wald stehe, bin ich nun soweit, den letzten Weg in den Abend anzutreten. Mit der schönsten Erinnerung an die einzige Zeit, in der ich lebte, begebe ich mich auf ihm fort. Wer weiß, was morgen sein wird…