Das Dach des Balkan – eine Reise nach Bulgarien (2010)

Bulgarien: Ein Land im Aufbruch, das niemals fertig zu werden scheint, aber damit genau den Impuls des Lebens trifft. Denn warum Häuser fertig bauen, wenn sie ohnehin wieder verfallen? Warum verputzen, wenn die tragende Mauer steht? Warum scheinbare Perfektion erreichen wollen, wenn es Wichtigeres gibt, das auch noch angefangen werden will?

 

Beginn – In Ulm und um Ulm und um Ulm herum

Mannheim. 15:00. Die Stadt ist so toll, dass wir dem Treffen aller Reisemitglieder gleich nach wieder abfahren.

Rila-Gebirge
24 Stunden Anfahrt für 67 km Wanderung im Rila-Gebirge

Wir, das sind übrigens bunt zusammengewürftelte Leute, die sich um unseren Initiator, Steffen, scharen.

Neben Steffen, Physikstudent und seinerseits Hobby-Entdecker neuer Welten und Kulturen, wären da noch seine Freundin Doro (Doreen), mit Englisch-Latein-Lehramt als lebender Sprachencomputer zu erwähnen; außerdem Johann, hauptberuflich zwar Mathematik-Doktorand, jedoch leidenschaftlicher Geschichtsexperte; weiterhin Helen von Troja… nein, das war eine andere. Unsere Helen steht der mythischen zwar in nichts nach, hat aber eine deutlich andere Berufung: Sie möchte die Menschen nicht mit ihrem Liebreiz blenden, sondern ihnen durch das Deutsch-Musik-Lehramt für Blindenpädagogik die Augen für die Welt über die Ohren öffnen. Schließlich zu guter Letzt ich, als Biogeowissenschaftsbeauftragter dieser Expedition zu privaten Forschungszwecken für diese Studienreise persönlich abkommandiert.

Wohnhöhlen in Belgrad
Wohnhöhlen in Belgrad

Zwar wäre eine Anreise zu Luft kürzer und weniger anstrengend gewesen, aber umweltbewusst wie alle waren, wählten wir den Bus. Zum einen konnte man dadurch sagen, dass man in den Durchreiseländern auch schon einmal gewesen ist und zum anderen hatten wir auf diese Weise mehr Zeit uns näher kennen zu lernen – nämlich 24 Stunden auf der Hinfahrt, inklusive Zeitverschiebung.

Normalerweise waren wir auch innerhalb der EU im Urlaub. Blöd nur, wenn du durch ein paar Länder durch musst, die nicht dazu gehören, dein Ausweis leider durch den letzten Waschmaschinengang etwas zerknickt drein schaut und du die ganze Zeit bangen musst, an einer der drei Grenzen nicht gleich wieder heimgeschickt oder festgehalten zu werden. Johann zumindest hatte mit dieser Situation zu kämpfen. Doch auch wenn diese manchmal etwas kritisch aussah: mit Überredungskunst und Geduld wurde auch sie überstanden.

Mit Ausnahme der etwas fragwürdigen Orientierung unseres normalerweise ständig verkehrenden Linienbusses zum Balkan über deutsche Landstraßen und Städtchen, statt über die Autobahn, durften wir eine Rundreise durch Ulm und dessen ländliche Gebiete genießen, noch bevor wir richtig auf Kurs kamen. Ab Österreich dagegen lief alles planmäßig - sofern es denn einen Plan gab. Ist Deutschland nur wirklich so kompliziert? Von einer netten, bulgarischen Bekanntschaft wurden wir derweil etwas beruhigt und von der Planlosigkeit der Busfahrer im Bus abgelenkt. Das ermöglichte uns außerdem noch einige örtliche Gepflogenheiten zu erfahren und unserem beinahe perfekt einstudiertem Bulgarisch den letzten Schliff zu verleihen.

Belgrad. 12:00. Noch toller als Mannheim. Noch schneller sind wir wieder weg.

Sofia. 16:00. Sonnig und heiß.

Sofias Vorstadtviertel
Sofias Vorstadtviertel

Das erste, was wir von Sofia sahen, wollte uns die Bewertung der Stadt mit Mannheim und Belgrad gleichziehen lassen. Denn als wäre man gerade in der dritten Welt gestrandet bot sich uns ein Anblick über lose Wellblechdächer und Pappwände, die Unterkünfte für einige hundert, wenn nicht tausend Menschen genannt wurden. Erst später erfuhren wir, dass es sich um am Stadtrand siedelnde „Zigeuner“ handeln sollte. Dort bezeichnete man sie zumindest derart.

Zwar war das Stadtbild zunächst ebenfalls nicht sehr erbaulich anzusehen, doch solche Behausungen wie zu Anfang bekamen wir nicht wieder zu Gesicht.

 

Witoschaberge bei Sofia
Witoschaberge bei Sofia

Kaum am Bahnhof ausgestiegen, bemerkten wir auch schon die aufdringliche Neugierigkeit der geschäftstüchtigen Elite. An unserem Gepäck und wohl auch der Sprache erkennend, wurde von diesen Leuten bemerkt, dass wir uns nicht auskannten. Böse Zungen würden sagen, es läge an einer gewissen blauen Mülltüte, mit welcher ich seit der Schwedenerfahrung meinen Schlafsack vor Nässe schützte und die schon von weitem leuchtete. Aber die alles überthronenden Rucksäcke mochten wohl ebenso viel Aufmerksamkeit erregt haben.

Jedenfalls wurden wir freundlichst zum nächsten Laden (noch innerhalb des Bahnhofs) geführt, der Stadtpläne anbot und nachdem wir auch einen erstanden hatten, gab uns der nun nicht mehr ganz so freundliche Bahnhofsrundführer auf Bulgarisch zu verstehen, dass man dafür hierzulande eine Provision zu entrichten hatte. Wir, davon völlig überrascht und außer Stande einen entsprechenden Betrag abzuschätzen, lehnten dankend ab und machten uns so schnell und so weit wie möglich davon.

Nächtliche Wasserspiele
Nächtliche Wasserspiele

Da wir einige Stunden früher in Sofia angekommen waren als gedacht, konnte die Unterkunftssuche ganz gemütlich angegangen und danach sogar noch ein wenig die Stadt erkundet werden. Eine kleine Pizzeria sollte uns Abendbrot bieten, wenngleich die Bedienung meinte, dass es in dem Lokal in einer halben Stunde kein Essen mehr geben würde (es war so gegen sieben) und sich kurz nach unserer Ankunft immer mehr Leute hinzusetzten.

Die Stadt hatte auch und gerade bei Nacht ihren Reiz und so nutzten wir die immer noch heißen Abendstunden diesen auch auszukosten. Denn hier schien das Leben nach Einbruch der Dunkelheit erst richtig loszugehen. Uns reichten davon schon die angestrahlten Gebäude und die ebenso in Szene gesetzten Brunnen- und Wasseranlagen und Parks.

 

 

Tag 1 – Auf Pilgerfahrt zum Berg des Allah

Das erste Frühstück musste noch ohne unser berühmtes Milchpulver und Nussmus auskommen. Denn schließlich wollten wir frühzeitig mit dem Bus weiter nach Samokov, um endlich los zu wandern. Da die Berge jedoch erst ab Borovets so richtig anfangen und noch bevor wir uns einen adäquaten nächsten Bus suchen konnten wieder ein freundlicher Bulgare kam und sein Taxi anbot, ließen wir uns auf ein individuelleres Fortbewegungsmittel ein und mit den Rucksäcken auf-du-und-du quetschen.

Ja und dann ging es endlich los: Die nächste Woche hieß es nur noch mit dem Rucksack über die Berge wandern. Deswegen kauften wir auch noch schnell ein paar Postkarten um den vielen zuhaus‘ Gebliebenen die neuesten Erlebnisse mitteilen zu können, als sie noch ganz frisch und unreflektiert passiert waren.

Doch die erste Zeit gab es erst einmal nur einen Gedanken: nach oben. Der Aufstieg zum Musala sollte laut Vorbereitungsplan die Hauptschwierigkeit darstellen. Danach, so meinten wir, ginge es nur noch eben auf dem Grat entlang. Wie man sich doch täuschen kann, merkten wir erst in den nächsten Tagen, als es doch eben nicht so eben entlang verlief.

Ein neuer Weg
Ein neuer Weg

Nach einigen Belastungsproblemen musste zwar hier und da mal etwas umverteilt oder neu eingestellt, auch mal der Rucksack gewechselt und getauscht werden, aber dennoch kamen wir ganz gut voran, so dass die Baumgrenze schon am ersten Tag schnell hinter uns blieb. Ebenso rasch verbrauchte sich jedoch auch unser Wasservorrat. Zwar entsprangen noch viele Bäche, doch gerade beim Aufstieg zeichneten sie sich (mir persönlich) als ziemlich ungenießbar und seltsam schmeckend aus, weshalb die Erleichterung beim ersten See über frisches Wasser umso größer ausfiel. Dort trafen wir dann auch zwei Deutsche aus Halle a. d. Saale, die unsere Tour entgegengesetzt gewandert waren und uns ziemlichen Respekt wegen des Wetters einflößten. Denn sie meinten, es könne schon mal um die -10 Grad kalt werden, so dass es nicht ratsam wäre im Zelt zu übernachten. Außerdem hatten sie wohl die mysteriösen, weiß gekleideten Gestalten an den Sieben Seen bei ihren seltsam anmutenden Ritualen beobachten können. Dabei muss es sich wohl um eine Gruppe religiöser Aussteiger handeln, die touristisch jedoch sehr anziehend und wertvoll fürs örtliche Geschäft wirkten. Wir waren also gespannt ob dem, was uns erwarten würde.

Doch zunächst hieß es die erste Nacht im Zelt zu überstehen. Denn die Schutzhütten, von denen die beiden sprachen, waren in nächster Zeit nicht zu erreichen. So suchten wir uns einen möglichst ebenen und steinfreien Platz um die Nachtunterkunft zu errichten. In Nähe zu einem See war das auch sehr praktisch um an Trinkwasser zu gelangen und für den Abwasch (oder „Aufwasch“) zu sorgen. Weniger praktisch dagegen gestaltete sich der Kochvorgang an sich. Zumindest was die Benutzung der Gaskartusche anging, mussten wir auf Kosten der Hälfte unseres ersten Gasvorrats feststellen, dass es ratsam gewesen wäre, sich vorher die Gebrauchsanweisung anzuschauen. Denn nach dem Anschließen der Kartusche an den Brenner hatten wir zwar das wesentliche Teil zur Benutzung angeschlossen, doch der Druck des Gases ließ nun die Befestigung nicht mehr anbringen, so dass es uns unter leichten adiabatisch verursachten Erfrierungen gerade noch gelang die Kartusche mitsamt Befestigung anzuschrauben, bevor das komplett Gas ausgeströmt war. Allerdings mussten wir jetzt mit dem Rest haushalten, da wir nicht genau wussten, wie lange so eine Kartusche vorhielt und wie viel noch in der alten verblieben war.

 

Tag 2 – Neue Herausforderungen, die die kontrollierte Wildnis mit sich bringt

Am Morgen darauf mit herrlich warmem Sonnenschein, einem erfrischenden Bad in dem zugegebenermaßen kleinen See und frischem Nussmus startend, hatten wir die perfekte Voraussetzung um den schwierigen, anstrengenden und einsamen Aufstieg auf die Spitze des Musala zu meistern - immerhin der höchste Berg des gesamten Balkans. Zumindest bis auf „einsam“ mag der Rest nur ein wenig übertrieben scheinen. Denn was mit uns dort hinauf lief, glich eher einer Völkerwanderung als dem einsamen Hochgebirgsleben. Halb Bulgarien schien auf diesen Gipfel unterwegs zu sein und trotz der nicht gerade simplen Wegverhältnisse wurde auch halbnackt, mit sehr wenig Gepäck und teilweise in Halbschuhen gelaufen. Manchmal sahen wir sogar Menschen in Sandalen den Berg erklimmen. Selbst hier mussten wir mit unserem schweren Gepäck den anderen Leuten noch ziemlich aufgefallen und ausgefallen erscheinen.

Abendstimmung
Abendstimmung

Auf der Spitze schließlich angekommen nutzten wir noch den letzten Handyempfang um ein paar Lebenszeichen heimwärts zu schicken, bevor uns das unwegsame und empfangsunerreichbare Gelände der nun wirklich einsamen Weite des Rilagebirges verschluckte – manchmal eher mürrisch und mit den scheinbaren Worten „Du gommst hier net dursch!“ auf den Lippen, aber dennoch. Stets den Rücken der Berge unter den Füßen, den Grat der seitlichen Abgründe zwischen den Augen und die stechende Hitze auf der Haut kämpften wir uns voran, über das Dach der Welt… na, zumindest der Balkanhalbinsel. Hier findet man auch keine Quellen oder andere Wasservorkommen, so dass wir uns zu Ende des Tages schon einige Sorgen um unseren nächsten Lagerplatz machten. Und mit Recht ahnten wir, dass die kommenden Seen ausgetrocknet sein würden. Schon nahmen in Kauf lieber einen 500 Meter zählenden Abstieg anzugehen, um wenigstens mit wertvollem Nass versorgt zu sein, bis glücklicherweise doch noch eine Wasseraustrittsstelle unseren Weg kreuzte und wir notgedrungen zu siedeln begannen. Denn das Gelände glich nicht umsonst eher einer durch Hufe zerklüfteten Weide und eignete sich nicht nur wegen der Unebenheit weniger zum Zelten. Die darauf lebenden Fauna konnte den harmlosen Wanderer ebenso beunruhigen. Was in den Alpen als Rinderhaltung bekannt ist, erledigen dort die Pferde. Eine nicht ganz alltägliche und ganz und gar nicht Mut machende Situation stellte sich daher im Konkurrenzkampf mit den zu grauenhaft abscheulichen Kreaturen mutierenden Tieren ein, als es um den Hoheitsanspruch der Quelle ging. Das Alphatier der Pferdeherde zumindest schien in uns eine Streitpartei zu sehen und meinte wohl wir würden ihm alles wegsaufen. Wir dagegen hatten unsere Schokolade zum Kühlen ins Wasser gelegt und fürchteten um unser Dessert. Diese spannungsgeladene Pattsituation wurde dann kühn von einem der Hengste unterbrochen, so dass der nervenaufreibende Stellungskrieg ein jähes Ende durch eine gegnerischen Attacke nahm und nur durch den Gnadenakt des Angreifers der bereits am Boden liegenden Helen gegenüber glimpflich vorüber ging. Sie hatte die Flucht ergriffen als der feindliche Vierhufer wie entfesselt auf sie zu galoppierte und musste wohl auf diese Weise dem Hengst als Sieg genügt haben.

Bestienbändigerin
Bestienbändigerin

Mit dem entsprechend angemessenen Lärmpegel durch Klatschen und Töpfeschlagen hielten wir die Bestien schließlich doch auf Distanz. Gleichzeitig wurde schon überlegt, ob nicht besser Nachtwachen eingeteilt werden sollten, falls in den feindlichen Reihen ein nächtlicher Überfall auf das Lager geplant wurde.

Was unseren zahlenmäßig weit übermächtigen Gegner anbetraf, so vermochte er unsere Stärke wohl doch nicht so gut einzuschätzen, weswegen wir einen Waffenstillstand aushandeln und so die Gefallene(n) und Verwundete(n) versorgen konnten. Aber wahrscheinlich hatte der Gegner nur mit unsere Geheimwaffe Bekanntschaft geschlossen, mit der wir jeden seiner Art besiegen konnten: denn Doro lief buchstäblich alles hinterher, was vier Beine hatte und wedelte unterwürfig mit dem Schwanz.

Pyramidenlagensteinofenherdentwicklungsanfänge
Pyramidenlagensteinofenherdentwicklungsanfänge

Da wir gerade unseren Lagerplatz erfolgreich verteidigt hatten und weil unsere Gaskartusche am Vortag ja beträchtlich gelitten hatte, entschlossen wir uns kurzerhand und verbotenerweise mit Holz aus der Umgebung im Schutzgebiet ein Lagerfeuer zu entfachen. Hinter einer der vielen Krüppelkiefern versteht sich, um möglichst nicht aufzufallen. Hier begann auch unsere historisch epochale Entwicklung des Pyramidenlagensteinofenherdes, der schon bald seinen Siegeszug über die gesamte Welt antreten wird – in der Fachwelt der Profiwanderer zumindest. Denn ohne Rost müsste man den Topf die ganze Zeit übers Feuer halten und an Haushaltshilfen mangelte es in dieser Region etwas. Noch glich die Konstruktion zwar eher Stonehenge, aber schon zwei Tage später hatte es nahezu Perfektion erreicht – eine in der kulturellen Menschheitsgeschichte bisher unerreichte Entwicklungsgeschwindigkeit!

 

Tag 3 – „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer…“

Eine lange Strecke lag heute zwischen uns und dem Ziel. Wie gut, dass wir uns darüber morgens noch nicht klar waren „…und dass wir Nussmus hatten, denn nur unser Nussmus ist das morgendliche GeNuss-Muss...“ (und abends gibt’s als täglichen Schlussgruß angebrannten Couscous). Ja, man müsste es vermarkten!

Die Sonne brannte unbarmherzig herab und Schatten gab es schon lange keinen mehr. Nicht nur hier, aber besonders auffällig war wieder einmal die Gratwanderung, dieses Mal im übertragenen Sinne: zwischen genügend Wasser mitnehmen und nicht zu viel Gewicht auf den Berg hinauf schleppen.

Ja, dieser Weg ... er war nicht leicht
Ja, dieser Weg ... er war nicht leicht

Doch schon am Nachmittag fanden wir den ersehnten Schatten und sahen auch erneut: es hat alles zwei Seiten und wo keine Sonne brennt, wärmt sie auch nicht, bzw. in unserem Fall lagen Steine auf dem Weg, um nicht zu sagen ein ganzes Geröllfeld, was uns auch unsere ganze Konzentration abverlangte. Das eine oder andere Mal hing der Erfolg am seidenen Faden über dem Abgrund und so mancher Ausrüstungsgegenstand stand kurz vor dem jammervollen Absturz in die nimmererreichbare Tiefe. Aber was haben wir nicht schon alles bestanden und entschlossen der Natur getrotzt! Und so auch diesmal. Kaum überwunden sahen wir auch schon das Etappenziel in Form eines herrlich glitzernden Sees und sattem Grün, wie gemacht um darauf zu zelten. Noch ein letzter, aber steiler Abstieg wurde absolviert, die eingefallene Brücke überwunden und dann konnte ein anstrengender Tag, zum Teil badend oder auch einfach entspannt genießend mit Spaghetti, gekocht über den letzten Zügen der angeschlagenen Kartusche verabschiedet werden.

Zwar hatten wir zwischenzeitlich überlegt an der nahen Hütte unsere Vorräte etwas aufzufrischen bzw. gegen etwas Gewicht an Reis einzutauschen, doch die Ausstattung bulgarischer Berghütten lässt so manche Träume eines noch nicht völlig angepassten Mitteleuropäers weiterträumen. Die Luxusvariante eines Klos beispielsweise besteht in einem Loch im Boden. Von der Normalversion habe ich nur Berichte gehört, die ich im Deutschen nicht in Worte fassen kann und mir nur in den entsetzt verzerrten Gesichtern der WC-Expeditionisten einigermaßen vorstellen konnte. WC steht hier übrigens nicht für „Water-Closet“, sondern eher „Wild-crapping“ – wofür der Begriff „Donnerbalken“ selbst hart gesottenen Mittelalterfreunden eine nett gemeinte Umschreibung gewesen wäre.

Als ob es dies und kein morgen gäbe, wurde in den oberen Stockwerken jedenfalls bis tief in die Nacht gefeiert. Wohl aus Freude darüber, dass niemand dieses stille Örtchen im nüchternen Zustand besuchen musste.

Welches Tagesziel könnte nach einem heißen Tag schöner sein?
Welches Tagesziel könnte nach einem heißen Tag schöner sein?
Das offizielle Viadukt
Das offizielle Viadukt

 

Tag 4 – Eine Hütte zum Wohlfühlen

Wie schon fast üblich erwachten wir mit blauem Himmel und strahlender Sonne. Wer abends vorher noch nicht im See baden war, tat dies nun am Morgen und wer auch das von den anderen Zeltenden nicht tat, der fing Fische. Zumindest lies diesen Schluss der rege Anglerverkehr vom und zum See zu. Ob es den schon zum Frühstück gab, darf zwar auch bei Bulgaren bezweifelt werden, aber bei uns gab es ohnehin nur ganz eine bestimmte Sache zur ersten Mahlzeit des Tages – ein neuer Tag, ein neues Mus. Heute: mit Honig.

Poetisches Wiehern
Poetisches Wiehern

So schien auch unser allgegenwärtiger Weidefeind aus dem Geschlecht der Equidae seinen Partisanenkrieg mittlerweile offen zu führen und dem Duft frisch angerührten Muses zu folgen. Zum Glück konnte er jedoch die Geruchsquelle nicht eindeutig lokalisieren. Aber wir mussten anerkennen: Sie hatten eine neue Strategie entwickelt: ein Angriff auf meinen Notizblock mit dem Ziel der totalen Vernichtung von Informationsmaterial, was wir nur durch extreme Wachsamkeit im letzten Moment vereiteln konnten. Der Gegner lernt schnell, doch dieser Streich sollte sein letzter Triumph gewesen sein!

Schutzhütte mit Einsamkeitscharme
Schutzhütte mit Einsamkeitscharme

Vorbei an steinernen Ruinen und nach langem mal wieder etwas, das dem Begriff „Baum“ entsprach folgten wir dem nur leicht ausgetretenen Pfad und begegneten, wie schon so oft, lange niemandem. Seit dem Musala mochten (mit Ausnahme der Leute auf dem Zeltplatz am See) vielleicht ein Dutzend Menschen unterwegs gewesen sein – nicht viel, wenn man es mit den Alpen oder selbst skandinavischen Wanderwegen vergleicht. Aber schließlich handelte es sich um ein wohlüberlegtes und selbst gewähltes Schicksal. Nur das Wetter wurde zusehends düsterer. Noch rang unser geliebtes Zentralgestirn mit den irdisch, orbital kollektierten Wasseranhäufungen und verschaffte uns die Gelegenheit trockenen Fußes und in aller Ruhe die nächste Schutzhütte aufzusuchen sowie ein Feuerlein zu entzünden und dabei endlich unsere Pyramidensteinfeuertechnik weiter zu entwickeln – wenngleich das reine Feuermachen so seine Tücken aufwies.

Behausung eines alten Pferdetreibers
Behausung eines alten Pferdetreibers

Der Frage nachgehend, was sich wohl in der zweiten, nahegelegenen Hütte verbergen könne und ob sie als Unterkunft eventuell besser geeignet wäre, begannen wir die Erkundungstour nach nebenan. Eine kleine Weile hatten wir uns nach der vorsichtig bedachten Näherung schon davor gestanden und wollten gerade eintreten, als uns ihr einsamer Bewohner entgegentrat und fragte, was wir da machen. Zumindest nahmen wir an, dass er so etwas in der Art fragte. Steffens Russisch brachte dabei nichts, Doros Sprachsoftware war noch nicht auf Bulgarisch upgedatet und vom Rest wollen wir lieber mal nicht reden.

Was unsere flüchtigen Blicke auf diese Hütte allerdings zugelassen hatten, so blieben wir lieber bei unserer liebevoll mit Kuhschädeln verzierten Behausung. Die sah trotz recht einseitigem Klo dann doch noch besser aus. Obwohl „einseitig“ zugegebenermaßen etwas untertrieben ist. Denn von vier Wänden und einem Dach besaß es immerhin noch zwei Wände und den Boden unter den Füßen.

 

Tag 5 – Habt ihr Gras?

Vom nussigen Muse geküsst startete der Tag zunächst himmelsaufreißend sonnig. Wahrscheinlich dachte der liebe Stern, er bekäme auch etwas ab, schmollte jedoch schnell wieder, weil es ihm verwehrt wurde und verzog sich hinter eine dichte Wolkenschicht.

Ach wie gut, dass niemand weiß...
Ach wie gut, dass niemand weiß... wie tief es dort nach unten geht!

Je höher wir kamen, desto dichter wurde dieser Schleier und so verbarg er manchen schönen Blick auf die Umgebung, aber auch tiefe Schluchten an steinigen Abhängen, die wir vielleicht nicht überquert hätten, wenn wir sahen, wie steil und gefährlich es dort hinunterging. Der Nebel ließ die Seen wie endlose Meere erscheinen. Es galt, sich vorzusehen, wenn man in dieser Suppe gesund und trocken vorwärts kommen wollte. Im Nebel bekommt die gesamte Umgebung eine ganz andere Stimmung und Stille legt sich um einen herum. Doch ob man dieser Witterung nun etwas abgewinnen konnte oder nicht, am Ende traten wir wieder hinaus in die frische Bergwelt und hinein in die Gesellschaft der Hüttenbewohner. Erst wunderte ich mich etwas über den wild bellenden Empfang eines bernhardinerartigen Hundes, weil die normalerweise zu träge sind, um überhaupt zum Fressnapf zu finden. Als wir jedoch die Dauerbewohner des Bretterpalastes sahen, wunderte uns nichts mehr. Denn die erste Frage der Hüttenjugend lautete auf Englisch tatsächlich:  „Do ya’ve gras?“ Da unsere Vorräte aber selber nicht mehr reichten und die hier oben wohl notgedrungen alles rauchen, was sie finden können, verneinten wir wahrheitsgemäß und bestellten lieber drei Gemüsesuppen und zwei … na, nennen wir es mal Buletten – nach langem wieder Fleisch für den nichtvegetarischen Teil von uns. Ob es nun an dem (eventuell zweifelhaften) Inhalt der Gemüsebrühe, den bulgarischen Bieren oder der allgemeinen Situation lag, dass wir an diesem Abend noch viel Spaß in einer illustren Runde hatten, ist dabei eigentlich auch nebensächlich. Aber eines muss man den Bulgaren lassen: wenn sie schon Waffeln mit Schokoriegeln verwechseln, machen sie doch einen überzeugend schmackhaften Kakao. Weswegen wir zum nächsten Frühstück neben dem unverzichtbaren Mus à la Nuss auch noch einmal diesen hinreißenden Geschmack heißer Schokolade mit in den Tag nehmen wollten, zumal von Hitze nicht viel zu bemerken sein würde.

 

Tag 6 – Ein Aquarium im Bergschuh

Wie es sich herausstellte, hatten wir auch jede Unterstützung an diesem letzten Tag 6 vor Vollendigung dieser schöpferischen Wanderwoche bitter nötig. Er brachte uns schon mit einem Totendenkmal vor Aufstieg auf die Gipfel ein Mahnmal dar. So schlimm kam es zum Glück nicht. Allerdings sollten gewisse Zeichen doch manchmal ernst genommen werden. Wenn man nur wüsste, welche das sind, von den vielen!

Ein Mahnmal für den Wanderer
Ein Mahnmal für den Wanderer

Jedenfalls führte das Wetter das Werk fort, was es gestern abbrechen musste und segnete uns zunächst mit nahezu nebulöser Blindheit, stürmenden Böen und schließlich Regen, als ob von fern schon Noahs Arche im Nebel zu treiben schien.

Allein der Kompass sagte uns noch halbwegs, in welche Richtung wir liefen und weil wir heute die längste Tour vorgehabt hatten und von unserem nächsten Wanderziel, den Sieben Seen, nicht viel gesehen gewesen wäre, kam der Entschluss auf, gleich zum Rila-Kloster abzusteigen. Selbst die Regenschutzumhänge für die Rucksäcke und wetterfeste Kleidung konnten hier ein Durchnässen kaum noch verhindern und umso mehr Eile wurde an den Tag gelegt. Sehnsüchte nach einer  Mittagspause wurden rigoros (von mir) abgeschmettert und so schafften wir die 1400 Meter abstieg in drei bis vier Stunden, obwohl das Laufen nun noch dadurch erschwert wurde, dass die Steine, das Gras und vor allem die Erde unter unseren Füßen eher mit Skiern zu bewältigen gewesen wären, als mit dem dicken Profil der Schuhsohle. Entsprechend oft setzte man sich zu einer kurzen Pause unfreiwillig nieder. Richtung Tal ließ zumindest der Nebel nach und später auch der Regen. Schließlich lachte auch die Sonne wieder und mir war, als lachte sie über uns. Denn neben den Klamotten, Rucksack und Geldscheinen hatte auch das technische Gerät manchen Tropfen abbekommen und streikte widerspenstig gegen derartige Behandlung. Angesichts dieser Lage nahmen wir uns noch einmal ein Zimmer in einem der Hotels direkt neben dem Kloster und bekamen sogar netterweise zwei Heizlüfter zur Verfügung gestellt, um wenigstens die körpernahe Kleidung für den nächsten Tag wieder trocken zu bekommen.

Ratlos, verloren - Von hier an blind
Ratlos, verloren - Von hier an blind
Hinunter zum Rila-Kloser
Hinunter zum Rila-Kloser
Balkonesische Küche
Balkonesische Küche

Während des Abstiegs war in einigen die Idee gereift, die nun gewonnenen Tage zu nutzen, um ans Schwarze Meer zu fahren und gekonnt die natürliche Anstrengung und mit der gestrandeten Entspannung zu verbinden und je mehr Zeit darüber verging, umso besser und entschlossener klang dieser Vorschlag. Wir würden sehen.

Die nun zunehmende Zivilisation ließ es uns aber nicht nehmen, unseren Kocher wieder auszupacken und auf dem Balkon die Küche auszurufen. Das / die / den Quinoa musste man doch wenigstens probiert haben! Und mit Maggi-Jägersoße schmeckt am Ende sowieso fast alles. Um den Tag zu guter Letzt noch ein wenig abzurunden, wurde die Hälfte von uns fast noch von Einbrechern überrascht. Wie wir morgens allerdings feststellten, hatten sie von unserem Chaos aus nassen Kleidern, Feld-, Wald- und Wiesenresten und heißer Luft nichts gebrauchen können und lediglich das Licht im Bad angelassen. Im anderen Zimmer  hatten sie es wohl gar nicht probiert, denn die Fallstricke aus Wäscheleinen und Stolpersteine aus einer vor dem Lüfter zu trocknenden Schuhmauer hätte ein ahnungsloser, armer Einbrecher wohl ohnehin nicht überlebt.

 

Tag 7 – Zurück in die Zivilisation

Klosterinnenhof
Klosterinnenhof

Neben Postkartenschreiben und dem Warten auf ein hoffnungsvoll baldiges Öffnen des örtlichen Supermarktes war das Frühstück auch an diesem Morgen kulinarisch bulgarisch angereichert, nämlich mit… na, erraten? Ja eben nicht nur mit dem allseits beliebten, oft bewährten, weltbekannten Brei aus fetthaltigen Pflanzenkernen der Gattung Juglans, sondern auch einer typisch regionalen Gebäckbesonderheit, die an Crêpes erinnerte. Wohl so eine Art Vorbacken, ist diese Variante bulgarischer Küchenkunst nur selten zu erstehen und für Fremde eigentlich unmöglich zu bekommen. Tja, aber da schon jedes lebende Wesen Doro hinterher läuft, wie sollte uns da noch irgendein Bulgare etwas vorenthalten können?

Doch jetzt zum Hauptziel der ganzen Anstrengungen: dem Rila-Kloster. Lang ersehnt standen wir nun ehrfürchtig davor und studierten die Liste der Verbote. Gerade einmal neun Mönche leben noch in diesem stattlichen Komplex, weit überboten von den Touristenmassen jeden Tag. In diese Tradition reihten wir uns nun ein. Die Rucksäcke in einer Klosterecke versteckt und vom kürzlich engagierten Wachhund „Wölfchen“ beschützt bekamen wir eine Führung durch den Innenhof, die Kapelle, das Museum und waren auch ganz froh, dass dies alles da von innen bestaunt werden konnten – denn draußen regnete es wieder einmal. Mit einigem (ich möchte mal behaupten temporärem), geschichts- und kunsthandwerklichen Wissen über diverse Rüstungsgegenstände, reich verzierte Innenwände, ehemals weit umgebendes Klostergelände, angebetete Reliquienhände, arg zerblätterte Bücherbände und dem Glanzstück, einem bis aufs kleinste Detail geschnitzten Holzkreuz ausgestattet, mussten wir uns auch schon sputen, um den Bus direkt von der Klosterpforte nicht zu verpassen. Ein bisschen Wehmut über den Begleiter während dieses Klostertages war natürlich auch mit dabei, als Wölfchen ahnungsvoll wissend den Kopf senkte, sich umwandte und wieder von dannen trabte um den nächsten Wanderer zu dienen.

Für uns dagegen ging es weiter, durch den Hauptort Rila zurück nach Sofia, wo uns schon ein kleines, gemütliches Hostel erwartete. Dort hatten wir auch unsere masselastigen Sachen zurückgelassen, um seinerzeit Gewicht zu sparen.

Erneut musste uns Sofia an diesem Abend ertragen, nur dieses Mal auf halbbulgarische Art. Denn wenigstens einmal wollten wir den Geschmack der hiesigen Küche kosten, von dem uns die freundliche Frau am ersten Tag im Bus erzählt hatte. Und tatsächlich: allein die Speisekarte glich einer Augenweide und die Gerichte standen dem in nichts nach. Wie viel davon nun typisch bulgarisch war, kann man im Nachhinein zwar nicht genau sagen, aber es mundete deliziös. Der Oberkellner hatte es anfangs noch bedauert uns keinen Raucherplatz mehr anbieten zu können, weil das „BeHappy-Restaurant“ (ein Kettenunternehmen in Bulgarien) in einer Art Szenelokal der Gegend hoffnungslos überfüllt war. Als passionierte Nichtrauer hielt sich unser Bedauern darüber freilich sehr in Grenzen.

Auch dieser Abend verklang wie so viele gut gelaunt und fröhlich, möglicherweise wiederum wegen des Sauvignon zum Essen zuvor und machte nur noch mehr Lust auf die letzten Tage der Reise.

 

Tag 8 – Quer durch das Land

Unterwegs zum Schwarzen Meer
Unterwegs zum Schwarzen Meer

Der Entschluss weiter gen Osten zu fahren war nun ausgereift und bis auf Johann, der einen Studienfreund in Sofia besuchen und sich doch lieber die Stadt noch etwas genauer anschauen wollte, standen wir dem auch mit Begeisterung gegenüber.

Dennoch, ein kleiner Geschichtseindruck in Form des archäologischen Museums durfte nicht fehlen, immerhin gilt Bulgarien als Bindeglied zwischen der antiken griechischen und der späteren russischen Kultur, was sich vor allem im kyrillischen Alphabet widerspiegelt. Erst danach, am späten Nachmittag, fuhr dann auch der Bus nach Varna. Die Mini-Reise von sechs Stunden Fahrzeit mit allerlei philosophischen Gesprächen und regem Kartenspiel verbracht ging überraschend zügig vorüber, wie ich fand. Vielleicht war aber auch nur noch die ganztätige Anreise eine Woche zuvor zu frisch im Gedächtnis, um vergleichslos darüber zu urteilen.

Varna. 23:00. Dunkel.

Schnell noch ein Hostel suchen, dachten wir uns, und der Tag kann morgen gemütlich begonnen werden. Doch manchmal werden einem die einfachsten Dinge scheinbar grundlos erschwert. Zunächst sollte der Bus als Fortbewegungsmittel dienen. Kaum waren wir auch schon an der Haltestelle, sprach uns ein Varnaese an, ob wir nicht in seinem Auto für drei Leva pro Person zum nächsten Hostel gefahren werden wollen. Außerdem, so seine Worte, würde um die Uhrzeit hier kein Bus mehr fahren und wenn, wären sie auch noch teurer als sein verlangter Preis. Unsicher schauten wir uns an, besahen sein Auto, was nicht einmal nach einem normalen Taxi aussah, besprachen den Preis, der in Sofia gerade mal einen Leva betragen hatte, betrachteten die anderen Personen an der Haltestelle, die offensichtlich auch auf den Bus warteten und bemerkten schließlich auf der gegenüberliegenden Seite unsere Buslinie vorbei fahren. Dankend lehnten wir deshalb ab und entschieden uns so schnell wie möglich von hier zu verschwinden – erst einmal zur nächsten Haltestelle. Aus irgendeinem Grund liefen wir dann immer weiter, bis wir bereits in der Stadt und direkt vor einem Hotel standen. Die eine Nacht, berieten wir uns, würde es auch mit einem Hotel funktionieren, zumal die Preise immer noch weit unter mitteleuropäischem Niveau lagen. Doch selbst hier trennte man nicht zwischen Dusche und WC, so dass das ganze Bad überschwemmt wurde, sobald sich jemand vornahm zu duschen. Nun ja, andere Länder, …

 

Tag 9 – Sonne, Strand und mehr… Meer

Ein Duschklo
Ein Duschklo

Während sich Steffen und Doro etwas unabgesprochener Weise bereits im Schwarzmeerleben umgeschaut hatten, blieb dem ausschlafenden Rest nur noch die Bereitung des Frühstücks übrig, denn das Nussmus rührt sich nicht von allein.

Bevor es aber endlich an den wohlverdienten Strand ging, mussten wir noch eine günstigere Unterkunft  für die nächste Nacht suchen, um trotz niedriger Preise noch mehr Geld einzusparen. Wie man es sich denken kann, läuft es gerade in solchen Momenten nicht immer am besten und so landeten wir in einem Loch, dem in Deutschland jede JVA voraus gewesen wäre. Während Doros und Helens Zimmer noch einigermaßen spärlich eingerichtet war, prangte vor unserem Minifenster ein massives Eisengitter. Dusche, WC und Waschbecken waren praktisch nicht voneinander unterscheidbar.

Immerhin konnten wir von dem ersparten Geld ein Eis kaufen! Das war die Strapazen wert. Denn wenn man mal die Eisstände gesehen hat, muss man das einfach verstehen. Zum Rest des Tages ist nicht viel zu sagen. Ein paar Verben reichen vollkommen aus: sonnen, baden, lesen, (Skat) spielen und (Melone und anderes Obst) essen – in abwechselnder Reihenfolge. Mehr ist zu dem Tagesverlauf nicht zu sagen. Reicht auch, finde ich. Denn schon wenn man den Jugendlichen bei ihren Strandtreffen und uns abends beim Spaghettikochen im Sand zusieht, hat man genug zu tun.

Ein bisschen Geheimniskrämerei kam noch hinzu, als Steffen nach gefühlten Ewigkeiten nicht wieder auftauchte und dann auch noch Helen verschwunden zu sein schien. Aber das hatte seine Gründe…

 

Tag 10 – Eis geht immer!

Aus dem Benutzerhandbuch für Gummitiere
Aus dem Benutzerhandbuch für Gummitiere

Dieser Tag war nämlich etwas Spezielles. Außer Nussmus begann der Tag mit einer Sahnetorte zum Frühstück. Denn während Steffen mit Doro einen Alibi-Spaziergang unternahm, wurde in unserem Verschlag ihr Geburtstagstisch aufgebaut, die Torte mit 20 Kerzen bestückt und der Gummihai, alias „Sharky“, aufgeblasen. Und das alles neben Hermann Hesses „Glasperlenspiel“. Doch er würde es uns verzeihen.

Munter mit einem aufgeblasenen Gummihai und vier Rucksäcken mit Beinen durch die Fußgängerzone, durften wir annehmen zum Hingucker der Stadt geworden zu sein. Selbst die üblichen Angebote von Taxifahrern, Hotelportiers und Restaurantbedienungen blieben weitgehend aus, weil man sich als ortsansässiger, mitteleuropäisch eher unerfahrener Bulgare wohl nicht sicher war, ob hier wirklich noch irdisches Leben durch die Straßen lief.

Ebenso konnte man am Strand die verdutzten Gesichter beobachten, die dem Treiben ungläubig zusahen, das sich vor ihrer Küste im seichten Wasser abspielte, weil ein paar Deutsche versuchten einen schwimmenden Gummihai zu erklimmen, sich am Strand gegenseitig verscharrten, am späten Abend dann mitten zwischen den Steinen aufgeschütteter Buhnen den Campingkocher auspackten, um Linsen mit Jägersoße zu kochen und vor dem Supermarkt mitten in der Nacht alles Gepäck abzuladen, um sich über das günstig frisch gekaufte Brot und etwas Käse darauf zu freuen, während man an den Rucksack angelehnt auf der Straßen sitzt.

Eistürme
Eistürme - Abrechnung nach Gewicht

Dagegen schien es üblich zu sein, danach sein letztes Geld zusammenzukratzen, zum nächst besten Eisladen zu gehen, zu sagen:  „Wir reisen heute ab und wollen für die restlichen 18 Leva Eis kaufen.“ Dazu muss man allerdings wissen, dass Eis nicht nach Kugeln, sondern Gewicht verkauft wird und so hatten wir wohl einige Kilo Eis auf der Hand. Denn der Verkäufer zeigte keinerlei Verwunderung darüber, sondern fragte wie selbstverständlich: „Von jeder Sorte?“ und traf seinerseits auf leicht überraschte, zögerlich nickende Gesichter. Und hier war nun der Beweis, dass nicht nur Alkohol allein zur guten Stimmung beiträgt, sondern Eis genauso viel erreichen kann. Denn so viel Spaß und Übermut wie zu dieser nächtlichen Stunde erlebt man nur in solchen beschwingt vorbelasteten Situationen.

Wer uns dort gesehen hat, der wunderte sich auch nicht mehr darüber, wie man plötzlich an der Bushaltestelle zurück nach Sofia in voller Wanderkleidung anfängt Zähne zu putzen und laut lachend die Passanten nachmacht, wie sie ungläubig, ja teilweise fassungslos drein blickend den Rucksacktouristen nachsehen. Ich glaube ja, dass man in diesen jung aufstrebenden Ländern einfach noch nicht weiß, wie schön es ist, wieder in die Natur zurückzukehren, um die Zivilisation einfach mal zu vergessen. Denn solange ist es noch nicht her, dass man begann, diese Art zu reisen als Ablenkung zum hoch entwickelten Leben im Dauerstress bei uns zu entdecken.

 

Ende – 36 Stunden Rückreise

Während Johann nun schon aus dem Bett in den Bus umgestiegen sein musste, warteten wir am Busbahnhof auf das baldige Vorübergehen der Pause zwischen Ankommen aus Varna um sechs und Abfahrt nach Mannheim um neun. Doch da nimmt sich Bulgarien nicht viel zu Deutschland, denn schlafen durfte man auch hier in den Wartehallen nicht, wenn die Sitzposition dabei mehr als einen Platz in Anspruch nimmt und daher waren wir doch froh, als der Bus endlich bereit stand und wir vernünftig sitzen konnten.

Das Absetzen des Rucksacks
Das Absetzen des Rucksacks

Bis zur Grenze verlief auch alles unproblematisch. Doch nun wollten es die Serben wissen. Vor uns wurde der Bus gründlich kontrolliert und wir spürten noch ein leichtes Absacken des vorderen, rechten Viertels und mancher vernahm auch ein Zischen, da hatten sie schon die Luft aus dem entsprechenden Reifen abgelassen, um auf ihn Schmuggelgut zu kontrollieren. Der eine oder andere Insasse wurde noch einer genaueren Untersuchung unterworfen und so zog sich die ganze Prozedur zwei Stunden lang hin, bis endlich die Fahrt Richtung kroatische Grenze fortgeführt werden konnte. Das dachte sich anscheinend auch der Busfahrer, denn  rücksichtslos raste er über die Landstraße, überholte auch noch, als der Gegenverkehr schon fast auf Scheinwerferhöhe war oder wenn die Einsicht keine hundert Meter voraus blicken ließ und bremste bloß, wenn es unbedingt nötig wurde, weil die Kurve über dem Steilhang gefährliche Züge eines rechten Winkels annahm.

Mittendrin wurden dann an einer Raststätte Zigarettenstangen verteilt. Wir sollten auch welche an uns nehmen, ohne jedoch genau zu verstehen oder gesagt zu bekommen, wozu das dienen sollte. Als das ganze von unserer Seite dann selbst gegen Bezahlung abgelehnt wurde, erbarmte sich der Rest des Busses, der wie auf der Hinfahrt schon fast komplett aus Bulgaren bestanden hatte und zeigte sich munter bereit je eine Stange über die Grenze zu schmuggeln. Anfangs hatte ich mich noch gewundert, weshalb sechs Busfahrer vorne saßen, während sich hinwärts nur zwei abgewechselt hatten. In Slowenien hielt der Bus dann auf einem Acker, ließ vier der Busfahrer mitsamt den prallen Tüten voll Zigarettenstangen aussteigen und allesamt wurden nie mehr gesehen. Denn in Österreich kannte man die Masche wohl schon und kontrollierte trotz EU-Zugehörigkeit Sloweniens extra noch einmal, was hinwärts ebenfalls nicht geschehen war. Nach dem wir schon gehört hatten, dass mittlerweile Varna zu einem der Hauptumschlagsplätze für Drogenimporte in die EU aufgestiegen ist, durfte diese nächtliche Aktion nicht mehr so verwunderlich sein.

Heidelberg. 14:00. Endlich wieder normale Duschen.

Bei Flammkuchen und Federweißen werteten wir alle zusammen noch einmal die ganze Reise aus und stellten sie ein paar wenigen Interessierten Wohnheimbesuchern aus Heidelberg vor, damit Erfahrung und Erlebnis weitergegeben werden konnten und somit einen tieferen Sinn ergaben.

 

Zum Schluss möchte ich noch eines sagen:

 

Ich ziehe den Hut, den ich mir irgendwann einmal zulegen werde und spreche Dank allen Mitreisenden für die wunderbare Gesellschaft und die schönen Erinnerungen, die ihr mit verursacht habt.

So muss ein Urlaub sein: wenn man nach Hause kommt und eigentlich gleich wieder weg will, weil es einen zurück treibt in die Gegend der schönsten Augenblicke. Wenn man diese Augenblicke später noch lange sucht und sich ein wenig Wehmut einschleicht, weil man merkt, dass sie sich nicht wiederholen lassen. Denn sie sind unvergleichlich und unerreichbar geworden.