Nebelgebirge II.

- Die Mine in den Nebelbergen

 

Hintergrund-Musikempfehlung: Versengold, Schandmaul, Knasterbart

 

Das sind schlimme Zeiten. Eis umfängt ihn vollständig, allein gefangen zwischen den Stürmen, in nichts gehüllt als einen dichten Mantel, weht das Kragenfell um ihn herum mit dem aufgewirbelten Schnee um die Wette. Wie soll er hier den Ausweg nur jemals finden? Wo doch das Ende der Welt schon hinter ihm liegt! Nun kann er sich auch vorstellen, wie mächtige Trolle an diesem Ort umherstreunen – wenn sie nicht sogar die Pforte zu dieser eigentümlichen Kostbarkeit bewachen.

 

*

 

Doch wie kam es dazu? Nun, zunächst ging Elisabeth fort. Niklas verscholl schon vor einigen Jahren im Gebirge und auch die Seuche war zurückgekehrt. Auch das gemeinsame Kind von Magda und Matthias starb nach einigen Monaten daran. Magda hatte seit langem vermutet, dass dies nicht ihr ganzes Leben gewesen sein konnte und daher musste sie fort von all dem. Matthias freilich konnte das nicht verstehen und warf sich selbst das Versagen als Vater vor, obwohl er nichts hätte tun können um sein geliebtes Weib zu halten. In Verzweiflung und im Zwiespalt über die Welt war ihm die Ausbreitung der Seuche nun geradezu recht. Auch wenn sie schon einige Wochen grassierte, widmete er seine Gedanken nun vermehrt diesem Problem. Was hatte der Apotheker damals gesagt? Faulbaum, wie er im Gebirge, hoch droben am Teufelsjoche wüchse, könne das Problem beheben! Also warum nicht diesen Wege wagen, wo doch schon ohnehin nichts weiter zählte?

 

Die Sonne stand tief und man konnte kaum dem Weg folgen ohne geblendet zu werden. Im Grunde wie in einer neuen Welt: Wenn man dem Untergang der alten Welt nahe ist, erkennt man noch nicht die wahren Hintergründe der neuen. Doch zurück kann man nicht mehr, denn hinter einem liegt alles in düsteren Schatten und dann sucht man nach Trost in den hellen Vorteilen der Zukunft und stolpert geblendet über die noch unsichtbaren Nachteile auf dem Weg dorthin.

Doch der grelle Schein der Sonne wurde jetzt durch den Wintereinbruch in den Bergen nur noch verstärkt. Gleißend brach sich das Licht auf den ersten, zarten Schneeflocken der frostigen Umgebung – ganz so, wie sich das erste, zarte Argument in der Dorfpolitik zuhause am Bollwerk alt eingesessener Meinungen brach. Denn jeder versuchte nun sich selbst zu retten, vor der drohenden Seuche in Sicherheit zu bringen und panisch suchten sie alle nach einem Ausweg. Aber wohin sollten sie flüchten? Die meisten wollten nicht alles stehen und liegen lassen, um sich irgendwo anders eine neue Existenz aufzubauen. Nach Jahren des Eingewöhnens und dem Leben mit Menschen, die man halbwegs kannte und einschätzen konnte, wollte man bleiben. Noch dazu, da es vielen anderen Nachbardörfern nicht besser erging und jeder vor seinen eigenen Problemen stand.

Matthias hatte sich deshalb entschlossen wieder einmal loszuziehen um dieses Mal mehr zu erreichen als bloß eine kurzfristige Besserung. Die Erinnerung an seine letzte Reise war noch nicht verflogen und so besann er sich auf die Worte des Apothekers und machte sich auf, um das erlösende Gewächs zu finden. Jetzt jedoch ging er allein. Magda begleitete ihn nicht, denn sie wollte fort von diesem schicksalsverseuchten Ort, wo ihr Kind gestorben war und die weitere Zukunft der Menschen ähnlich traurig aussah. Mit Matthias konnte sie auch nicht mehr leben. Sie suchte etwas komplett Neues. Sie war noch zu jung, um sich mit ihrem Leben abzufinden und um die Liebe zu ihm zu kämpfen. Die Flucht und die Suche nach Veränderung trieben beide unabhängig voneinander voran und würden auch sie selbst verändern. Matthias blieb hier ebenso nichts mehr von Wert und so hatte er sich aufgemacht seine einzige Aufgabe zu erfüllen, die ihm noch möglich erschien und von der er glaubte, etwas Wichtiges zu vollbringen.

 

Der Herbst folgte ihm auf jeden Schritt und holte ihn schon ein, als er noch über die licht bewaldeten Ebenen wanderte. Am Gebirgsfuß zog sich dann diese bunte Jahreszeit aber zurück und machte Platz für die Tristheit des Vegetationswechsels. Matthias spürte, dass es nun schwerer werden würde voran zu kommen. Dieses Gebirge war höher, kälter und erbarmungsloser als noch die baumbestandenen Höhenzüge seiner Heimat. Die Gipfel hier standen kahl aus den grünen Tälern heraus und Passstraßen musste man lange suchen. Menschen siedelten nur bis an die breit gefächerten Flusstäler heran, deren Wasser beim Austritt aus ihrer dunklen Herkunft und nach wilder und gewundener Irrfahrt der engen Gebirgstäler die nun entstandene Freiheit sichtlich zu genießen schienen und sich entlastet in weite Zöpfe mit Aueninseln im Vorgebirgsraum spalteten.

Den Wald mit trittsicheren Pfaden musste Matthias allerdings verlassen. Der Weg führte ihn hinein ins Gebirge, zunächst noch in einem überschaubaren Tal, wo sich bereits erster Schnee zeigte, je höher er kam. Matthias wanderte durch Höhenzüge, im beginnenden Winter. Einsetzendes Schneetreiben behinderte seine Sicht. Aber ab und an blickte er in krumme Täler, auf steile Hänge aus einer Mischung von letztem Tannengrün, gesprenkelt mit erstem Puderweiß; des Tags über häufiger auch mit Nebelschwaden durchzogen.

Er konnte es einfach nicht verstehen. Immer wieder kamen ihm diese Gedanken und er sah sich nicht in der Lage sie aufhalten. Der Schnee fiel dicht und seine Schritte trugen ihn sicher voran, auch wenn er fast nichts zu erkennen vermochte. Dagegen lotsten ihn seine Gedanken viel weiter fort und ohne Ablenkung in seiner tristen Umgebung fragte er sich immer mehr nach dem Sinn in all diesem Hin und Her und ob er hätte kämpfen oder lieber seinen Stolz durchsetzen sollen, um nach neuer Liebe zu suchen.

Dann führte der nun nicht länger mehr als Pfad zu bezeichnende Untergrund in eine enge Schlucht, die ihm vorher als Klamm beschrieben wurde. Wasser plätscherte allerdings kaum noch. Zu lange waren die Taufluten her und die spätsommerlichen Regenmengen mussten oben im Gebirge schon als Schnee gefallen sein. Dafür versperrten nicht selten Baumstümpfe die Schlucht. Sie mussten von den Flößern zurückgelassen worden sein. Diese Leute verfrachteten das geschlagene Holz von höher gelegenen Hängen mit dem Wasser ins Tal. Nur ohne Wasser konnten sie heuer schon lange nicht mehr arbeiten. Die Niederschläge reichten dieses Jahr dafür nicht aus. Oft musste Matthias sich daher das Durchkommen erst suchen und obwohl es mitten am Tag war, fiel es schwer noch etwas zu erkennen. Denn die nahen Felswände ließen kaum Licht hinunter zu den tief gelegenen Steinen, über die er sich vorankämpfte. Der schwer verhangene Himmel tat sein übriges dazu und die Tannen hoch über ihm versperrten jegliche Sicht – selbst auf das trübe Grau. Wo es schließlich nach einiger Zeit gar nicht mehr weiter ging, da beschloss er schließlich hinauf zu klettern und sich mit dem Seil zu sichern. Unsicher arbeitete sich dort ein Menschlein zwischen den Spalten der Felsen voran, lieber öfter Pausen für neue Kräfte sammelnd und eine neue Sicherung machend. Wo Bäume zu wachsen begannen fühlte er sich endlich sicherer und kam rascher voran. Nun begann auch wieder etwas wie ein Wald zu wachsen und bald schon fand er einen Weg und etwas später ein Hinweisschild, das davon abriet den Weg durch die Klamm zu wählen, sondern besser den längeren Weg der Nachbarschlucht einzuschlagen.

„Na das nenn’ ich gelungen! Ein Hinweis zu Beginn dieser Schufterei unten hätte sicher auch nicht geschadet“, murrte er zynisch mit einem Schuss sarkastischer Ironie. Allerdings deutete ein anderes Schild auf einen Hof in die Richtung, der er ohnehin folgen musste. Eremitenhof, stand dort in bereits moosig verwitterten Ritzzeichen. Im besten Falle erwartete ihn dort ein Haufen verfallener Bretter, denen er vielleicht seine Plane überwerfen konnte um etwas Wind und Schneeschutz zu erlangen. Noch einige Meilen weiter waren Stimmen hinter Biegungen und zwischen Nadeln hindurch zu vernehmen. Nun wurde es auch in diesem etwas breiteren Tal düster und er begann sich zu freuen, dass scheinbar doch nicht nur Bretter von dem angepriesenen Hof übrig waren. Sogar ein kleinerer Bachlauf fügte sich nun zu seinen Füßen. Dieser musste wohl im Fels verschwinden und ganz woanders wieder hervortreten, denn bis hier her war davon nichts zu sehen gewesen.

Hütten tauchten dann vor ihm auf und beinahe schon Massen an Menschen begleiteten mit ihren Bewegungen das Stimmengewirr. Es müssen Dutzende von Arbeitern gewesen sein, die sich hier zum Feierabend von ihren bleibenden Kameraden verabschiedeten und weiter in die Nachbartäler zogen oder die Schlucht hinanstrebten. Eine Art Weggabelung befand sich hier, wo verschiedene Richtungen aufeinander trafen und ihre Zusammenkunft von einem Wirtshaus gesäumt wurde. Das Haus hatte tief hinunter gezogene Dachgiebel und eher beschaulichen Fenster, durch die Licht nach außen traf. Drei, vier weitere Hütten verstreuten sich auf das Land von etwa einem Morgen. Selbst hier im beginnenden Hochgebirge gab es also noch eine kleine Ansammlung von Häusern. Doch diese Menschen kamen von überall her und es handelte sich eher um eine Versammlung von Halunken, Minenarbeitern und Glücksrittern. Der Andrang im Wirtshaus war beachtlich. Vermutlich hatte der Minenbetreiber die Herbergsleute verpflichtet den Kumpeln eine Unterkunft zu bieten. Überall umher lag schon eine feine Schicht Schnee.

Matthias konnte heute nicht weiter voran gehen und beschloss daher beim Wirt einen Platz in einer der Scheunen zu erbitten. Doch schon das Durchkommen zur Theke war begleitet von dichtem Gedränge und vergleichbar mit dem Weg durch die Klamm.

‚Gleich werd’ ich mein Kletterseil auspacken und mich über die Köpfe schwingen’, knurrte er schon in Gedanken und als er die Gestalten an den Tischen sah, verschlechterte sich seine Laune noch um einiges. Denn das übelste Gesindel schien sich hier des Abends zu tummeln und er konnte wohl froh sein, wenn sein Leben am nächsten Morgen noch existierte und man ihm nur einen Teil seiner Ausrüstung gestohlen haben würde. Den Wirt hört er aus der Ferne wie durch einen rauschenden Wald johlen:

„Ja häbbisch net a gude Woi‘ g’mocht?“

Ein Stuhl wurde gerade frei an einem kleinen, an der Wand befestigten Brett, das wohl einen Tisch darstellen sollte. Dort ließ er sich nieder und packte etwas Proviant aus, auch wenn er befürchten musste hinaus geworfen zu werden, sobald er sein eigenes Essen verspeiste. Bloß in diesem Gewimmel konnte wohl niemand mehr ausmachen, wer etwas beim Wirt erstanden hatte. Allerdings horchte er aufmerksam zu, was an den Nebentischen erzählt wurde und bekam so einen Eindruck vom Leben hier im Endgebiet des Menschseins:

„Ja, für wohr! Dat Völkschen soll ja von’ne erst’n Zwerche’ abstamme. Is’ dich diese Jeschtallt an dene’ noch nich offjefalle?“, sprach jemand zu seinem Trinkkumpanen.

„So kleen wie se ausfall’n, so ausfall’nd sinn se ooch! Neulich hab’ ich mit ee’m von den’n malle was tooschen woll’n. Gloobste de denn der hätt’ sich an den vereenbart’n Prees gehalt’n? Un als ich danne was sag’n wollt’, da hatt’er versucht mich nüderzuknüpp’ln un’ is’ abgehoen!“, lautete die unzufriedene Auflösung.

Matthias’ Ohren schnappten jedoch schon ein anderes Gespräch auf:

„Letztens kam einer hier durch, den sehen wir nur ab und an mal, der kommt sonst ganz selten mal hier lang, jedenfalls hat der immer was zu erzählen, wenn er gerade nicht mal seine komischen Waren verschachert – die muss er wohl von überall her sammeln und dann unter die Leute bringen – aber, was wollte ich eigentlich sagen...“, verzettelte sich ein nun verwirrt blickender Mensch.

„Ach August! Fang doch nich‘ wieder von dei’m Seefahrer an! So was gibt’s hier nich‘, wir sinn inn‘en Berchen!“, wandte einer ein.

„Er war Matrose, als er noch zur See fuhr und da hat er nun mal alles mögliche erlebt, ist immerhin um die ganze Welt gesegelt oder sogar noch weiter, aber das wäre euch doch viel zu gefährlich und nun seid nicht gleich wieder neidisch, und versteckt darunter eure Gelächter – ach, ihr wisst was ich meine“, verteidigte sich August.

„War das nicht der, der auch auf allen Fahrten seekrank ausschaute?“, fragte eine Stimme prustend dazwischen und August verteidigte sein angegriffenes Gemüt:

„Nein, er war es, der bei Skorbut Seetang durchkaute, um zu überleben – warum zum Henker verdreht ihr mir denn nur immer die Worte in den Wangen, das hält doch keiner aus, oder könnt ihr euch denn gar nichts merken?“

Durch das Gelächter hindurch wurde ihm entgegnet:

„Ja wenn de uns aauch immorr wiederr Määrrchen üba dein Iddol aufdischd! Einmol warr diesa Seefahrra ein noarmalerr Meensch in aaußag’wöhnlich’n G’schicht’n un’ wenn’s dia bassd, iss es ein aaußag’wöhnlicha Meensch in norrmolen G’schicht’n. Manchmol ein Heiliga, mol ein Bettla, dann wieda warr a adlich oda G’lehrrta.“

„Weil ihr es alles durcheinander werft, vergessliches Pack, denn das eine schließt das andere doch nicht aus – dann war er eben mal adlig und verlor sein Geld auf den weiten, gefährlichen Reisen an Piraten und musste im nächsten Hafen betteln gehen, aber sein eigentliches Ziel war die Wissenschaft und weil er auch so viele Leute aus außergewöhnlichen Geschichten rettete, nannte man ihn eben nach dem Beschützer der Seefahrer... ach, was soll’s, ich brauch noch einen Krug“, rechtfertigte er sich und steuerte schon die Bar etwas schwankend an, wurde aber von Matthias aufgehalten:

„Hör mal, ich suche einen Seefahrer, der den Namen eines Heiligen trägt. Willst du dich nicht setzen?“

August schaute noch mal zur Theke. Eigentlich hatte er sich auf ein Bier gefreut. Aber das Interesse an ihm und seinen Geschichten wollte er auch nicht einfach ignorieren.

„Na gut. Was willst du wissen?“, fragte er schon fast wieder nüchtern.

„Was weißt du über Niklas, oder besser noch“, merkte er sofort seinen Fehler August danach zu fragen und um also nicht eine seiner endlosen, konfusen Geschichten zu hören, stellte er die Frage präziser: „Wo hält er sich auf und wo kann ich ihn finden?“

„Niklas? Nee, so heißt der nicht. Wen ich meine das ist Richard, der Herzliche, denn, weißt du eigentlich, wie das kam, dass man ihn so nannte, oder war es doch eher, nein, Reinhard hieß er, da bin ich mir absolut sicher, aber, sag mir noch mal schnell, was ich dir erzählen wollte“, lenkte er Matthias’ Gespräch wieder ab.

Der fremde Zuhörer musste nun doch feststellen, dass es tatsächlich sinnlos war diesen Kerl weiterzubefragen. Immerhin war ein Geheimnis bei ihm gut aufgehoben. Denn auch wenn er versuchen würde es auszuplaudern, bekäme er keinen halbwegs klaren Satz zustande. Glücklicherweise wurde August von einem seiner Kameraden mit zu Theke genommen, während er noch zeterte, weil er seinen neuen Freund doch noch einweihen wollte in all seine Geschichten über Richard, den Herzhaften, wie er ihn nun nannte.

„Nimm nich so krrumm ihm“, erklärte eine Stimme von vorhin, „unser Komerrod jeden Tog in den Minen schuftet und dies’ egelhofte Grrubengos einotmet, von frrieh bis schpat. Das eich muss dochch mochche meschugge!“

„Schon gut“, wehrte Matthias ab, „Was wird hier in der Gegend denn gefördert?“

„Dies un’ dos. Meest Zinn und monchchmol Silberr. Derr August zieht oberr jeden Tog zum Bleihacken in de Schtollen. Dos brringt om meesten, denn davon gibt’s hierr nichch’ so viel“, erzählte ein Haderer nebenan.

„Aber wo ich schon mal dabei bin: Wisst ihr etwas über einen gewissen Niklas? Ich kam drauf, weil er hier in der Nähe leben soll und früher mal Seefahrer war“, berichtete Matthias seine Hoffnung.

„Hm, wenn ich so driebor nochchdenke, glaube ich gibt’s totsachchlichch so jemonden. Oberr wie err heeßt weeß ichch nichcht“, grübelte er und grinste, als er zufügte: „Du kännt’st hächst’ns mol den August frrogen.“

„Danke, das bringt mich wohl eher ins Grab als weiter voran“, winkte Matthias ab. Zumindest wusste er schon einmal, dass seine Ahnung nicht ganz in die Irre führte. Ein wenig blieb er noch an seinem Tisch sitzen und widmete sich dem Rest Bier im Krug, lauschte den Stimmen um sich her und bekam anscheinend das Gespräch von vorhin mit:

„Na wenn ich nich’ selbst in meener eechnen Person vorjestern ee’m bejechnet wäor’, wörd’ ich’s immer noch nich’ gkloo’m!“, faselte die raue Stimme, „Abor das Viech tat sich da plotzlich eenfach vor misch hinstell’n. Es woussde wohl nich’, wass’es tun soullde oder tat jerade im Schteh’n benn’n. Bemercht hat’s misch jed’nfalls nich’. Da binn’ich - so langsam ich mich nur bewechen gkonnte - abjeschlich’n.“

„Ha! Das wird wohl ein toter Baumstamm gewesen sein und um dich her war es schon etwas dämmrig, wie?“, spottete sein Gegenüber.

„Wie ergkläorst’de danne de Bewächung’n un’ das gKrounzen?“, kam es zurück.

„Na das ist doch klar: Der Wind bewegt die Äste und schon hast du die Erklärung für beides! Oder was glaubst du, stand dir da im Weg, Brüderchen Alfrodus?“, forderte nun der deutlich erkennbare Grenzer seinen Saufkumpanen um eine Antwort.

„Das würd wohl eener diesor Trolle jewes’n sein“, mutmaßte der als Wandermönch entlarvte Gutgläubige.

„Täglich laufen mir sonderbare Gestalten oben über den Sattel und mancheiner sieht verstörend aus, das glaube mir. Aber ein Troll wollte noch nie über den Pass! Du glaubst zu viel dem Gefasel der Leute. Aber das wundert mich nicht, bei deinem Beruf“, gotteslästerte der Grenzer. Ein anderer trat dazu, gerade drei Krüge in den Händen:

„Des mog scho’ soi’“, womit er die Humpen abstellte, „Gege’ des Zwersche’volk gannscht de ober schlescht e’ wos einwende’. Die gomme’ ja sogoar manschemal hier zur Greuzunge um zu dauschen. Außerdem wirscht de kaum jemonde’ treffe’, der net scho’ soine Beganntschaft mit dem oine’ oder annere Berggoischt gemocht hat. Un’ des net schtets nur im Schleschte.“[M5]

„Ach ihr götzenverehrendes Volk! Der einzige Geist, der euch einen Streich spielen will, ist euer eigener! Die Kleinwüchsigen aus den Nebentälern sind normale Menschen“, entzauberte der gar nicht mal so dämliche Passwächter, „Wahrscheinlich sind sie Streuner oder fahrendes Volk, das sich dieses ganze andere Pack, das sich hier in den Bergen und Tälern herumtreibt, nur vom Leib halten will. Nur deshalb verbreiten sie Gerüchte über ihre magischen Fähigkeiten, Geisterbeschwörung und plötzliche Wetterumschwünge. Habt ihr sie mal beim Gehen beobachtet? Sie hüllen sich immer in weite Gewänder, damit man nicht sieht, wie sie in die Knie gehen und den Buckel krümmen, um klein und unwichtig auszusehen. Aber auch wenn sie das sind, mir kommen sie nicht über den Pass, das sage ich euch! Prost.“

Eine Weile kam aus dieser Richtung kein Laut mehr, jeder schien sein Bier zu schlürfen. Dann erhob Bruder Alfrodus wieder das Wort der Vermutung:

„Dein Wachbossd’n is ja ooch von weithin sichtbar. Da wacht sich gkeener so eenfach drübor. Was is aber mit’n Aisfläch’n weeder o’m? Wer weeß, was dort füor Jeschöbbe haus’n, die’dsch meid’n.“

„Das kann mir dann doch ziemlich egal sein, oder nicht? Dich als Mann der Kirche von solchen Geistern sprechen zu hören, halte ich dagegen für ziemlich heidnisches Geschwätz!“, wurde der Mönch ermahnt.

„Hiete disch! De Dämon’n vom Satane nehm’n allerlee Form’n an, ooch die vonne heidnisch’n Jötz’n“, führte der Kuttenträger als erschlagendes Argument an und brachte den Grenzer zu einem missmutigen Knurren.

Immerhin konnte Matthias jetzt von einem Pfad ausgehen, der über die Berge führte und der sogar bewacht wurde – wohl gegen unliebsame Eindringlinge, Aufdringlinge oder auch Drillinge, die alle über die Grenze wollten. Doch niemand hier hinnen eignete sich für tiefgründigeres Wissen, wie gar Arzneipflanzen. Wenn er Glück hatte, fand Matthias vielleicht noch jemanden, der Niklas in letzter Zeit über den Weg gelaufen war.

Dann trank er aus und begab sich nebenan in die Scheune. Schon die paar Schritte hinüber fielen ihm vor lauter Schneetreiben schwer. Zitternd und fröstelnd schloss er das Brettertor hinter sich und wischte den Flockenbelag von den Kleidern, um nicht völlig zu durchnässen, wenn es in der Scheune taute. Es gab genügend Stellen im Stroh, um sich zur Ruhe zu begeben. Die meisten tranken noch nebenan und würden im Rausch wohl vergessen die Türen zu schließen, über die Schlafenden stolpern oder so manche Sauerei in ihrer näheren Umgebung anrichten. Drum verzog er sich auf den Boden nahe dem Dach, wo es durch die stärker werdende und Kälte abschirmende Schneedecke auf den Ziegeln außerdem wärmer war als unten auf dem gefrorenen Boden. Nur ein anderer Geselle machte sich gerade ebenfalls daran sein Lager dort herzurichten und drum einigte man sich untereinander schnell auf eine gerechte Aufteilung der Schlafplätze.

„Wenn dich mein Geruch nach Wild und Wald nicht stört, kannst du dich ruhig breit machen“, bot der andere an.

„Ach, nur keine Bange. Selbst habe ich einige Jahre in den Wäldern zugebracht und dabei selten so eine gemütliche Heimstatt gefunden wie hier“, hielt Matthias entgegen, allerdings eher mit sanftmütigem Ton.

„Na dann sollten wir uns wohl nicht groß in die Quere kommen. Ich bin hier einer der wenigen Wildner. Der Rest besteht eher aus Wilderern. Man beachte den feinen Unterschied“, grinste dieser.

Matthias dagegen wunderte sich:

„So? Diese Bezeichnung sagt mir nichts. Handelt sich dabei um eine Art Wildhüter?“

„Eher ein Jäger, aber sonst passt es ganz gut. Sagen wir: Der Baron hat mich beauftragt seine Wildbestände zu pflegen und ihm ab und zu ein Stück Wildbret zu präsentieren, wenn er sich zur Jagd gelaunt fühlt“, antwortete der Wildner etwas verschmitzt.

„Und der Rest der so genannten Jäger schießt dir die Rehe weg?“, mutmaßte Matthias.

„Hirsche!“, korrigiert der Weidmann, „Rehe gibt es hier oben nicht mehr. Dafür balge ich mich mit Luchsen, Wölfen und Bären um die paar Auerhühner, Hasen und Hirsche. Viel ist es nicht, aber für einen einzigen Jäger würde es reichen. Daher muss ich das Wild auch hegen und von den Wilderern fernhalten oder andersherum. Zum Glück wagt sich aber keiner zu den Eisflächen und erst recht nicht dahinter“, gab der Weidmann zu verstehen.

Matthias machte derweil sein Lager zurecht und begann sich aufs Schlafen einzustellen, als er realisierte, dass es noch etwas jenseits des Eises geben musste:

„Was ist dahinter? Ich meine, wohin wagt sich niemand?“

Doch der Wildner zögerte. Vermutlich wusste er nicht, ob er es diesem Fremden erzählen konnte. Wenngleich dieser ähnlich zu denken schien wie er selbst. Aber nach Jahren des Krieges und habgierigen wie schlitzohrigen Bekanntschaften von Betrügern, die sich hier oben versteckten, war er vorsichtig geworden und stellte daher zuerst eine Gegenfrage:

„Woher kommst du eigentlich? Du scheinst ja nicht häufig hier hoch in die Berge zu gelangen.“

Matthias hatte einen angenehmen Eindruck von diesem Menschen, daher erklärte er diesem seine Not:

„Da magst du Recht haben, denn verschiedene Gründe treiben mich in diese abgelegene und beschwerliche Gegend. Eine Seuche in meinem Städtchen zwingt mich diesen Weg auf mich zu nehmen. Ein Apotheker aus Lauschitz gab mir den Hinweis am Teufelsjoch nach Faulbäumen zu suchen um diese unsägliche Krankheit endlich denen auszutreiben, die von ihr gegeißelt werden.“

Der Wildhüter hob die Brauen und meinte:

„Hm, zwar kenne ich mich einigermaßen aus mit Wildkräutern, doch ein fauler Baum sagt mir nichts. Aber da du es erwähnst: im Joch stehen tatsächlich einige buschhohe, verholzte Gewächse, mit denen ich nichts anzufangen weiß. Ihr Blattwerk sieht denen der Ulmen nicht unähnlich, doch ihren Namen weiß ich nicht.“

Ein wenig überlegte er noch, ob ihm mehr dazu einfiel, doch dann beließ er es dabei und ergab sich seiner Neugier:

„Was sind deine anderen Angelegenheiten hier? Verzeih, wenn ich so eindringlich frage, aber ich trage mich mit dem Gedanken dich hinzuführen, weil du ehrlich wirkst und ich dir helfen könnte. Doch zuvor möchte ich wissen, was du ansonsten suchst. Dann kann ich dir auch besser dabei helfen.“

„Nun“, zögerte Matthias kurz. Denn einem völlig Fremden seine komplette Lebensgeschichte zu erzählen entsprach trotz aller Ehrlichkeit auch nicht seinem normalen Verhalten. Hier oben und zu so später Stunde war ihm das letztlich allerdings auch egal: „Da jüngst meine einzige Tochter noch im Kindbett starb und meine Frau daraufhin fort ging, brauche ich wieder einen Sinn im Leben. Ich glaube, diese Aufgabe gibt mir eben jenen Sinn zurück. Daher suche ich wohl nach mir selbst hier oben. Aber nicht nur das, sondern auch einen gewissen Seemann namens ‚Niklas’ und eine Frau ‚Elisabeth’, die mit ihrem Wissen um die Heilkunst helfen sollen, das Kraut entsprechend zuzubereiten.“

Der Wildner horchte auf und sprach:

„Ein Seemann also? Nun das ist ungewöhnlich im Gebirge. Aber denke, ich weiß, von wem du sprichst, wusste nur nichts von seiner Vergangenheit auf See. Er ist nicht unumstritten, daher rate ich dir zur Vorsicht.“

„Wie meinst du das?“, erstaunte Matthias. Immerhin hatte sich Niklas das letzte Mal hilfsbereit gezeigt, das einzige Mal, dass er ihn persönlich erlebte und auch sonst hatte Matthias nichts Schlimmes von Niklas gehört. Mittlerweile fanden sich weitere Männer in der Scheune ein und einige torkelten ins Heu.

„Nur so viel“, flüsterte der Wildner, „hier gibt es viel Gesindel und man weiß nie so recht, wer Gutes im Schilde führt und wer es weniger nett meint. Daher sind die Geschichten über ihn verschieden. Doch jetzt lass uns schlafen. Mit den meisten dieser Leute da unten will ich mich nicht in ein Gespräch verwickeln lassen.“

Also krochen beide in ihre Decken und versuchten das Schnarchen und gelegentliche Gebrüll zu ignorieren.

 

Früh des Morgens schälte sich zuerst der Wildner aus dem Stroh und weckte dann leise Matthias:

„Guten Morgen. Lass dir nicht zu viel Zeit, denn ich will los, bevor die Trunkenheit aus diesen Kerls verschwunden ist. Ach ja, ich bin übrigens Georg.“

Leise machten sie sich auf, nachdem alles Habe zusammengeklaubt war. Einige Schritte später, als beide schon um die Biegung verschwunden und das Wirtshaus hinter sich gelassen hatten, fragte Matthias nach, denn es hatte ihm des Nachts keine Ruhe gelassen, dass Niklas so verrucht sein sollte:

„Was war geschehen, dass Niklas so einen schlechten Leumund erhielt?“

„Ich war nicht dabei, sonst hätte ich es vermutlich anders bewertet. Aber der Wirt sah, wie er einen Mann hinterrücks niederstreckte und ...“, begann Georg.

„Der Wirt!“, merkte Matthias auf, „Kruzifix! Jetzt hab ich meinen Wasserschlauch vergessen. Ich muss noch mal zurück.“

Noch immer war Matthias allein auf dem Hof. Die Tür zur Wirtsstube schien von innen verschlossen – wohl, damit niemand hinein gelangt. Daher schaute Matthias durchs Fenster zu seinem Platz, um den Schlauch zu erspähen. Statt dem Lederwerk beobachtete er den Wirt, wie er von einem Platz zum anderen ging, wo sich auf den Tischen schlafende Gäste befanden und deren Taschen durchsuchte.

‚So einer bist du also, was? Den armen Teufeln die letzten Pfennige aus der Tasche zu ziehen, was für eine Schmach!’, sprach Matthias bei sich, konnte aber nichts tun und verzichtete auf seinen Schlauch.

Hinter der Biegung ließ sich Georg nicht mehr ausmachen. Wenigstens führten die Spuren im frischen Schnee Matthias voran. Der Fremde schien etwas zu suchen, denn die Fußabdrücke liefen nicht geradlinig vorwärts, sondern machten immer wieder eine Drehung um die Körperachse oder verliefen plötzlich seitwärts. Nur wenige Schritte weiter schließlich kniete dort der Wildhüter vor einem überdachten Abbild eines Prophetenabbildes.

„Du wirst doch nicht für mein Trinkgefäß gebetet haben?“, versicherte sich Matthias mit einem halben Lachen. Die Antwort Georgs war jedoch weitaus ernster gehalten:

„Hier ist es Menschen nicht bestimmt zu leben und wo wir hingehen werden noch viel weniger. Da wird man gläubig, was aber nicht heißt, dass ich religiös bin. Daher bete ich zu allen Göttern, einschließlich der Natur selbst. Das lässt mich wachsamer werden gegenüber den Gefahren“.

Er erhob sich und fragte:

„Hast du gefunden, was du suchtest?“

„Nun ja: nein. Aber wusstest du eigentlich, dass der Wirt den Betrunkenen das Habe stiehlt?“, empörte sich Matthias.

„Deswegen wollte ich in der Scheune schlafen“, erwiderte Georg und fügte hinzu: „In dieser Gegend kannst du praktisch niemandem trauen!“

„Wie kannst du mir dann vertrauen?“, wunderte sich der angehende Wildhüterlehrling.

„Du bist nicht von hier oben“, war die schlichte Antwort.

Der gemeinsame Weg führte die beiden noch um einiges tiefer in die Berge. Ausgetretenen Pfaden konnten sie dorthin folgen, wenngleich die Schneedecke um sie her schon beträchtlich angeschwollen war. Hier mussten wohl die Minenarbeiter täglich vorbeikommen. Doch momentan waren sie allein. Die Frühschicht hatte schon lange begonnen und bis zum nächsten Wechsel würden noch einige Stunden vergehen. Der morgendliche Nebel aber verhing die Felsen und sie mussten aufpassen nicht in plötzliche Abgründe zu treten. Denn ab und an führten die Wege aus dem Tal heraus an einen Hang, dessen Tritte nur wenige Fuß breit Halt boten.

„Einige Arbeiter mussten hier schon abgeglitten sein“, vermutete Matthias.

„Gar nicht so viele“, entgegnete Georg. „In der Früh ist es zwar finster, aber die Arbeiter haben Laternen dabei und Nebel steigt da noch nicht auf. Dann kommen sie von beiden Seiten zu den Einstiegen. Nachmittags dagegen hat es die Dunstschwaden bereits hinfort geweht. Aber nun musst du Acht geben.“

Nicht weit hin erreichten sie auch den Mineneingang. Nur zwei Männer standen davor und sie erschienen wie Wachen.

„Lass uns doch einen raschen Blick hinein werfen“, schlug Matthias vor, „Mich reizt zu sehen, wie es dort hinnen ausschaut. Und vielleicht können wir den schwierigen Weg so abkürzen.“

„Das wird wohl nicht gehen“, wehrte der Jäger ab, „Siehst du die Wächter nicht? Sie bewachen die Grube. Nichts darf außerhalb der Schichtwechsel hinein oder raus. Glaub mir, ich hab es manches Mal versucht und hatte gute Gründe. Aber der Besitzer fürchtet zu sehr den Diebstahl von Erz. Daher kontrollieren die Wachen stets die Taschen der Arbeiter und lassen keinen herein, der ihnen nicht angehört. Was sie in den Taschen an Erzen finden, dürfen sie behalten. Das macht oft einen beachtlichen Anteil ihres Lohnes aus, denn es versuchen immer wieder welche auf neuen Wegen Silber, Zinn und anderes heraus zu schaffen. Aber auch die Wachen wollen etwas verdienen und beginnen wie Arbeiter zu denken. Ein wesentlicher Bestandteil ihres Arbeitstages besteht daher darin sich darüber auszutauschen, wie man wohl etwas herausschmuggeln könnte. Bei ganz besonderen Verdachtsfällen verabreichen sie dem Arbeiter auch Mittelchen, um an das verschluckte Erz zu gelangen. Aber das können sie nicht oft machen, sonst wehren sich die Arbeiter und rotten sich gegen die Wachen zusammen.“

„Was genau verabreichen sie den Arbeitern?“, wunderte sich Matthias.

„Damit kenne ich mich nicht aus. Aber sie beziehen es wohl aus der Nähe. Da musst du sie selbst fragen, falls sie es verraten“, erklärte Georg. Kurz überlegte Matthias, wie er sich mit den Wächtern gut stellen könnte, damit sie ihm ihre Medizin verrieten. Dabei fiel ihm wohl unterbewusst die Situation damals in Lauschitz ein, als Magda etwas ähnliches versuchte, überredete Georg daraufhin mitzuspielen und trat vor die Wachen hin:

„Seid gegrüßt. Ich komme von Freiherr von Degenhardt, dem Besitzer dieser Mine und soll mich umsehen, wie die Arbeiten voran kommen. Es soll ein neuer Seitenstollen geplant werden und wir müssen wissen, welche Richtung besonders vielversprechend ist. Der Vorarbeiter Heinrich soll uns drinnen beraten.“

Die notwendigen Namen hatte er vom Wildhüter erfahren. Dieser kannte sich mit den Besitzverhältnissen notgedrungen aus, weil er wissen musste, wen er zu meiden hatte und weil man ihm schon einmal grinsend geraten hatte, sich mit Beschwerden doch an jenen Minenbesitzer zu wenden. Die andersartige Kleidung und das unbekannte Gesicht sowie die konkreten Namen schienen die Wachen zu verunsichern und Matthias meinte schon das reiche aus. Durch die erlangte Souveränität legte er nach:

„Außerdem kam mir zu Ohren, dass ihr ein Mittel benutzt um den Arbeitern bei Bedarf gestohlene Erze ihres Leibes zu entlocken. Es gab Beschwerden und von Degenhardt hieß mich an zu untersuchen, ob das enorme Ableben seiner Arbeiter in letzter Zeit damit zusammenhänge. Daher muss ich wissen, was es ist.“

Die Wächter zögerten, der kleinere sprach dann aber doch:

„Des wische mer a net so g’nau. Mer hamm’et vom oalden Niklas drüamne. Des muschte i frohng! Oaber nei hier kommschd drotzdem nied! Od’r konnscht des Süg’lwopp’n zoagn?“

„Na schön“, hielt Matthias seine Freude über den Namen unter einem mühseligen Schnaufen verborgen, was er gut mit der Enttäuschung über die Eintrittsverweigerung überspielen konnte, „dann sagt mir wenigstens, wie es kommt, dass die Ausbeute der Mine in letzter Zeit plötzlich arg schwand? Herr von Degenhardt verdächtigt vor allem die Wachleute sich mit den Arbeitern zu verbünden und von ihnen einen Teil ihres Schmuggelgutes zu bekommen, wenn sie den anderen Teil behalten dürfen.“

Mit dieser Unterstellung versuchte er seine Herkunft als Abgesandter des Besitzers zu bekräftigen. Etwas verstört antwortete man ihm:

„Nu hoamer des ja scho s’ letschde Moal erklöard...“

‚Nur anscheinend nicht viel daran geändert’, dachte sich der falsche Gutachter dabei,

„...Jöd’r Oarbeid’r müd Arz’n kimmd danne in’n Goarz’r nei unne im Doal. Un’ mer misse oa imm’r woas finne un sonsovü im Monad doard hinne bringe.“

„Eben, gerade dieses Vorgehen sorgt dafür, dass jeder Arbeiter mal dran kommt und ihr trotzdem mit ihnen gemeinsame Sache machen könnt. Das soll jetzt ein Ende haben“, kündigte Matthias folgenschwer an, „Wenn es zu wenig Ertrag gibt, müssen die Wächter einen Arbeiter präsentieren, der am meisten geschmuggelt hat und der dann öffentlich ausgestellt und danach gefeuert wird“, erklärte er und fügte vertrauensvoll hinzu: „Mein Vorschlag wäre ja, dass ihr den Arbeitern die Möglichkeit gebt selbst entscheiden zu dürfen wen sie verdächtigen und raus haben wollen.“

Matthias war eine Methodik eingefallen, die er von einer anderen Mine mal gehört hatte. Das lenkt den Zorn untereinander auf die Wächter und die Arbeiter selbst.

„Des isch ja doll! Nu isch unsa letzschder Zuvadienscht a no’ v’rloa’n“, beschwert sich der erste Wächter und der zweite fügt hinzu:

„Eich kimma drotschdem nied nei loasse! Ohne Süg’l gödd nix.“

Georg hatte die ganze Zeit schon in seinen Taschen nach etwas gekramt und hielt nun einen Fetzen Papier vor sich hin, der das so ausgiebig begehrte Siegel in Wachs geprägt zeigte. Zwar war es eine Ausschreibung an ihn über die Wildbestände. Aber da diese Wachleute vermutlich ohnehin nicht des Lesens mächtig waren und zu unwillig um diese Abhandlung zu studieren, akzeptierten sie es und gaben missmutig den Weg frei.

„Du musst aber allein dahinein gehen. Unter der Erde habe ich mich noch nie wohl gefühlt. Dahinein werde ich dir  nicht folgen“, gab Georg zu verstehen.

„Wie soll ich dann den Weg auf der anderen Seite des Ausgangs finden?“, versuchte Matthias  seinen Bergführer an dessen Versprechen zu erinnern.

„Ich werde den Umweg nehmen. Dort bin ich trittsicher genug und komme geschwind voran. Zwar wirst du einige Zeit auf mich warten müssen, aber dennoch müssten wir es womöglich noch vor Nachteinbruch zu meiner Hütte schaffen“, schlug der Weidmann vor. So verabschiedeten sie sich und verschwanden einer im Nebel, der andere in der Dunkelheit.

Die ersten hundert Schritte drang das Licht noch weit genug vor um nicht sofort gegen eine Wand zu laufen und die Gewöhnung der Augen an die Finsternis half dabei. Bald schon reichte das aber nicht mehr aus und in jeder Biegung brannte eine Fackel oder auf langen geraden Strecken musste sich Matthias an den Wänden entlang tasten. Der Schacht war einigermaßen breit, so dass etwa drei Männer neben einander laufen konnten und Schienen schienen am Grund verlegt zu sein. Oft wurde die Decke auch von Holzbalken gestützt, was allerdings die Sicht im Fackelschein erschwerte und verwirrende Schatten warf. Nicht nur nackter Stein tat sich im Schimmer auf, sondern wild durchzogene Muster, oft kristallen glitzernd in roten, weißen, grauen und manchmal auch blauen Farben. Er hatte das Gefühl unendlich lang den Schienen folgen zu müssen. Allerdings zweigte nirgendwo ein Seitentunnel ab und außerdem wusste er, dass demnächst einmal die Arbeiter auftauchen mussten.

Währenddessen fiel ihm auf, dass er die eigentlich schon ausgebeuteten Menschen hier unten noch weiter in die Abhängigkeit ihres Herrn zwingen würde, mit seinen neuen Anweisungen. Dabei hatte er doch nur schnell eine geistreiche Lösung finden und sich herausreden wollen. Dass er damit eine gewaltige Macht über eine große Anzahl von Menschen ausübte, war ihm nicht klar gewesen. Noch eine Weile wog er die Vorteile und Nachteile seiner Handlung für die Arbeiter ab und begann sich gerade die Situation selbst schön zu reden, dass er den Lauf der Dinge ja etwas beschleunigt habe, als ein grausiges Geräusch weit voraus erklang. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, worum es sich dabei nur handeln konnte. Aber er glaubte nicht an Monster oder Fabelwesen und daher siegte die Neugier über die panische Fluchtreaktion. Matthias erkannte schließlich, dass hinter dem widerhallenden Echo ein Krächzen unregelmäßig erscholl und oft lange verstummte. Arbeitsgeräusche mischten sich nun dahinein und Stimmengewirr folgte ihm.

„Los, macht schon! Die Balken her, abstützen, sichern. Ihr wisst doch, wie’s geht.“

„Hie nüber, schnell!“, „Na hie oba a!“, „Nu lasst’s ei do ni imma so bett’ln!“, „Kimm ja scho.“, „Immor mid‘der Jeduld, ne.“

Oder wie Matthias es hörte:

„Los, macht schon... Hie nüber... kimm ja ... na hie oab ... die Balken... a ... scho... schnell... her, abstützen, ... immor midder Jeduld... sichern. Ihr ..., ne ...wisst doch wie’s geht.“

Eine Weile beobachtete der Neuankömmling das Treiben gespannt. Dann trat er hinzu, als er glaubte, dass etwas Ruhe eingekehrt war und räusperte sich:

Ä-emm. Ich werde euch nur kurz stören, aber ich finde, dass ihr die Neuigkeiten von der Oberfläche wissen solltet. Und außerdem muss ich etwas fragen.“

Die Meute verstummte mit der Zeit, brauchte aber etwas länger, bis jedem die Angelegenheit klar geworden war. Nur ein Rabe kolkte noch und das Wasserrad quietschte weiter. Verwundert über das Krächzen hielt Matthias kurz inne, sprach dann aber deutlicher:

„Der Minenbesitzer von Degenhardt lässt verlauten“, hielt aber kurz inne um seine nachfolgenden Worte weise zu wählen, denn hier unten war er der Überbringer einer vermeintlich schlechten Nachricht für sie, „Demnächst wird es in Zukunft leicht veränderte Arbeitsbedingungen geben. Nun werden die Wächter ihren Anteil bei der Leibesdurchsuchung nach jeder Schicht nicht behalten dürfen und im Falle zu deutlich geringer Förderungsraten wird nur noch ein Arbeiter im Monat vom Dienst dauerhaft freigestellt. Ihr habt sogar das Recht den Wärtern einen Vorschlag zu unterbreiten, wer das sein soll.“

Danach dachte er nur daran, warum er sich nicht einfach unbemerkt vorbei geschlichen hatte, behielt äußerlich aber einen ernst-freundlichen Gesichtsausdruck bei.

Unverändert blickten ihn die Männer an und nur ab und zu erklang ein gleichgültiges Murren.

„Nun will ich euch auch nicht weiter von der Arbeit abhalten, möchte euch aber bitten mir den anderen Ausgang zu finden. Ich beabsichtige die Mine noch ein wenig zu begutachten und auf dem anderen Wege wieder verlassen“, fügte Matthias hinzu, momentan ganz in der Rolle des herrschaftlichen Abgesandten und dementsprechend autoritär auftretend. Die Arbeiter sprachen kein Wort, nur ihr Meister schien etwas zu überlegen, ja beinahe schon abzuwägen. Matthias aber erriet nicht, was es sein könne. Dann erscholl die Antwort:

„Schön. Ich werde Euch meinen Stellvertreter mitschicken“, und wandte sich zu einem um, „Baumann, Vortreten! Du gehst mit und bringst ihn zur ander’n Seite.“ Der angewiesene Arbeiter sah finster drein. Anscheinend gefiel ihm diese Aufgabe nicht besonders. „Und bring noch etwas Proviant mit auf dem Rückweg“, schob der Vorarbeiter hinterher.

„Ist gut, Heinrich“, antwortete Baumann und Matthias wusste wieder nicht warum, aber ihm gefiel diese Antwort nicht. Denn er glaubte für einen Wimpernschlag lang ein fieses Grinsen auf Baumanns Gesicht gesehen zu haben. Außerdem klangen die Worte plötzlich wesentlich verheißungsvoller. Vielleicht trieb ihn dieser Zweifel dazu, den Meister noch einmal anzusprechen:

„Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Georg, der Wildner lässt dich grüßen. Ich kam mit ihm her und treffe ihn am Ausgang.“

Es wurde ruhig und Matthias wusste nicht recht etwas mit dieser Stille anzufangen, darum erklärte er:

„Also falls ich auf meinem Weg etwas mitnehmen soll...“

Heinrichs Züge hatten sich verändert. Er pfiff Baumann zurück und bedeutete einem scheinbar Namenlosen stattdessen mitzugehen. Matthias hatte ein Gespür für bestimmte Situationen und Charakterzüge. Daher ahnte er nun besser bedient zu sein. Möglicherweise trieb der Weidmann Handel mit den Minenarbeitern oder man wollte sich eines weiteren lästigen Handlangers des Minenbesitzers entledigen und nun, da sie wussten, dass er nicht allein hier war und jemand auf ihn am Ausgang wartete, riskierten sie es lieber nicht ihm etwas anzutun.

,Man muss sich eben nicht nur als jemand ausgeben, sondern auch die richtigen Beziehungen vortäuschen’, ermahnte sich Matthias lobend, nach dieser Aktion unterwegs mit dem ärmlich in Fetzen gekleideten Kumpel.

Als sie außer Hörweite der Arbeitsgeräusche kamen, fragte Matthias seinen Begleiter:

„Wie heißt du, mein Freund?“

„Aber Herr, ich bin doch unbedeutend. Soll Euch nur raus bringen“, erwiderte der Schächtner etwas unwillig, aber in Demut.

„Bitte, sprich mit mir wie mit einem normalen Menschen. Ich bin weder Würdenträger noch ein Bürgerlicher. Im Grunde bin ich ein Handwerker wie ihr alle, sogar Zimmermann. Aber ich...“, begann Matthias zu erklären. Trotz aller Menschenkenntnis wagte er es jedoch nicht sich komplett zu verraten, „Ich musste bei diesem Degenhardt anheuern. Die Gründe sind unwichtig.“

Da sah sich der Kumpel um, musterte Matthias eindringlich und sagte nur:

„Manfred.“

„Matthias“, erwiderte Matthias, „Sag, wie kommt es dass Heinrich erst diesen Baumann schicken wollte statt deiner?“

„Das kann ich dir nicht sagen“, seufzte Manfred, „aber du tatest gut daran den Wildmann zu erwähnen. Das hat dich wahrscheinlich gerettet.“

Matthias stutzte.

„Na ja, zumindest bis jetzt“, fügte sein Begleiter noch hinzu, „Denn ich fürchte sie werden bald jemanden schicken um sich zu vergewissern, ob du Recht hast.“

„Aber wie soll das gehen? Wir sind doch auf direktem Wege hier heraus?“, erkundigte sich der Scheingutachter nun besorgt.

„Eigentlich nicht. Aber tu’ das jetzt nicht mit mir verbinden. Dafür hat er wohl Baumann losgeschickt, auf einem anderen Weg. Der rennt zum Ostausgang und schaut, ob du recht hast und ob Georg wirklich dort wartet“, bemerkte Manfred fast beiläufig. Eine Weile wurde es still zwischen den beiden und sie liefen nun hintereinander her. Die Stollen waren enger geworden. Nun kamen auch immer häufiger Abzweigungen hinzu und noch immer ging es bergab.

„Wegen der Ankündigung meinerseits vorhin“, wollte Matthias das Gespräch wieder entwickeln, „Werden die Wachposten euch dann immer noch dieses Mittel verabreichen um euch zu kontrollieren?“

„Denke schon“, gab Manfred zu bedenken.

„Woher kommt das Zeug eigentlich?“, hakte Matthias nun nach.

„Tja, das weiß ich nicht. Ich bin noch nicht lange hier, weißt du“, erläuterte der Vorangehende.

„Warum bist du denn überhaupt hier?“, wunderte sich Matthias, „Die Arbeitsbedingungen sind ja alles andere als angenehm und die Entlohnung stell ich mir mager vor.“

„Alles wahr. Nur, ich hab mir das nicht ausgesucht. Vor einigen Monaten war ein Krieg in meinem Land. Da musste ich mit, bin gefangen worden und nun bin ich hier“, lapidarierte Manfred aufgebracht. Daraufhin dachte der ihm Nachfolgende nach und meinte dann:

„Das heißt du würdest von diesem Dekret profitieren, wenn man dich mit zu viel Erz erwischt?“

„Das ist wohl so. Wahrscheinlich hat mich Heinrich deshalb mitgeschickt, um mich zu testen“, mutmaßte Manfred.

„Wie meinst du das? Was will er testen?“, wunderte sich der Neuminengänger erneut.

„Na ob ich abhaue oder darauf warte, dass er mich irgendwann von selbst rausschmeißt“, bekräftigte der potentielle Arbeitslose.

„Gäbe es dabei denn einen Unterschied?“, wollte der scheinbar Arbeitgebende wissen.

„Wenn ich jetzt flitze, können sie mich finden und bestrafen. Wenn sie mich aber später rausschmeißen, ist das eine Belohnung. Verstehst du?“, belehrte der Altkumpel. Matthias beschloss daher ihn aufzuklären:

„Ach, weißt du, ich glaube wenn du frei sein willst, kannst du ruhig nachher gehen. Diese Ankündigung von mir vorhin war frei erfunden.“

Matthias hätte nie geahnt, welche Folgen seine kleine Maskerade anrichten würde. Aber in so einem maroden Gebilde wie diesem mussten wohl schon kleine Schürfe an der Oberfläche große Wirkungen haben. Derweil hatte sich Manfred umgedreht:

„Das heißt, wenn ich jetzt gehe, bin ich frei?“

„Nun ja, du wirst wohl verfolgt werden, wie du selbst sagtest. Aber dass du freigelassen würdest, ist eher unwahrscheinlich“, wollte Matthias seinen Minenführer anspornen seine Möglichkeit zu ergreifen und damit im Zweifelsfalle einen Gegner weniger zu haben.

Wieder verging Zeit, in der zwei unterirdische Wesen unter den Berggipfeln hintereinander her huschten und die erste Gestalt offensichtlich nachdachte.

„Pass auf: ich gehe nicht zurück. Ich gehe fort. Aber ich weiß nicht, was ich machen soll. Rüber in den Westen komme ich nicht. Dafür gibt es zu viele Grenzposten und die lassen einen nur mit Passierschein weg“, drückte Manfred seine Sorgen aus.

„Dann sieh erst mal zu, dass du diesen Maulwurfsbau verlässt“, schlug Matthias vor, „Kennst du Niklas?“

„Gehört habe ich von so jemandem. Aber wie soll ihn finden?“, wollte Manfred wissen. Doch darüber hatte sich Matthias auch noch keine Gedanken gemacht und versicherte:

„Wo er sich aufhält, kann ich dir leider nicht sagen. Ich weiß es selbst nicht. Aber suche nach dem Teufelsjoch. In der Nähe davon muss er sich aufhalten.“

„Dann hör zu: das geht woanders lang. Du musst nachher nur noch den Schienen folgen. Aber  noch was für hier unten: wenn du eine Fackel hast, halte sie tief nach unten. Wenn sie ausgeht, ist entweder das Öl alle oder es wird gefährlich und du drehst besser um“, warnte der erfahrene Strafkolonist.

„Und wenn alles in die Luft fliegt?“, scherzte der Neukumpel.

„Dann gab’s Grubengas. Fieses Zeug ist das!“ mahnte Manfred.

„Wofür war eigentlich dieser Rabe im Käfig?“, erkundigte sich Matthias.

„Glaube das ist für die Sicherheit. Wenn der Vogel von der Stange kippt, darf man nicht weiter gehen oder so. Wir haben dann besser keine Fackeln mehr angezündet.“

An einer der mannigfaltigen Kreuzungen deutete Manfred in eine Richtung, verabschiedete sich kurz und gab noch den Hinweis sich vor Kobolden in Acht zu nehmen. Dann war er in eine andere, gegenüberliegende Tunnelung verschwunden. Die plötzliche Stille irritierte Matthias nun etwas. Er bezweifelte freilich die Existenz besagter Kobolde. Aber eigentlich wollte er nur noch raus aus diesem engen, kanalartigen Labyrinth und daher machte er sich rasch auf den ihm angewiesenen Weg.

Dieser wies auch bald bereits die versprochen Schienen auf. Oft trafen sie auf andere aus Nachbarstollen und vereinten sich mit ihnen zu einer einzigen. An einer Stelle jedoch spalteten sich die Gleise auf. Davon hatte Manfred nicht gesprochen. Nun galt es der richtigen Dunkelheit zu folgen. Matthias wählte die Abzweigung mit etwas größerem Durchmesser. Eine der spärlich verteilten, aber noch nicht so weit heruntergebrannten Fackeln nahm er aus der Halterung und quetschte sich durch die teils nur noch rumpfgroßen Löcher. Anscheinend wurde dieser Ausgang nicht häufig genutzt. Es gab auch schon lange keine Fackeln mehr an den nunmehr einheitlich dunkelgrau erscheinenden und mit einzelnen bläulichen Schimmern durchsetzten Tunnelwänden. Als die Gleise schließlich an einem Steinhaufen endeten, wunderte er sich kurz. Offensichtlich musste es einen Erdrutsch gegeben haben. Aber an einer Seite war noch genug Platz um sich vorbei zu zwängen. Es erforderte etwas Kraft und Geschick sich nicht vollends darin zu verkeilen, klappte aber schließlich. Zwar konnte er nicht glauben, dass sich die Arbeiter täglich hier durch manövrierten, aber andererseits interessierte es ihn gleichzeitig was dahinter lag. Das Gleis hörte hier auf und frühere Generationen hatten dort wohl auch nicht vor gehabt weiter zu graben. Vielleicht hatte auch der Steinschlag dazu geführt diesen Teil als zu gefährlich aufzugeben. Er fand, dass er sich diesem vorsichtigen Gedanken nicht verschließen und ebenfalls von dannen schleichen sollte. Beim Versuch wieder umzukehren verrutschte aber die Felspartie und er konnte gerade so zurück hechten, um nicht von den Brocken erschlagen zu werden. Einige Zeit versuchte er noch die verschütteten Gleise wenigsten etwas frei zu räumen. Bald schon gab er es aber auf und folgte seinem Drang nach der einzigen, verbleibenden Richtung.

Zahlreiche Biegungen später blieb er unvermutet stehen, wusste nicht genau warum, bemerkte dann aber einen Abgrund, der sich vor ihm auf tat. Darunter verbarg sich ein riesiger Hohlraum, den er im fahlen Flammenschein kaum ermessen konnte. Die Tunnelbreite umfasste eine Armesbreite, an manchen Stellen auch knapp zwei. Über den offenbar eingebrochen Abschnitt konnte er allerdings nicht springen. Dafür war die Decke zu niedrig um entsprechend schnellen Anlauf zu nehmen oder ausreichend Höhe im Sprung zu erreichen. Die zwei bis drei Mannslängen des Abgrundes musste er irgendwie anders überbrücken. Erst versuchte er es damit über noch festem Grund beide Beine gegen die Wände zu stemmen und sich auf diese Weise voran zu arbeiten. Doch mangels Kraft und sich ändernden Wandabständen gab er es vorsichtshalber wieder auf.

Während Matthias so auf dem Boden saß, mit dem Rücken gegen das Gestein gelehnt und die Füße ausgestreckt zur gegenüberliegenden Seite bemerkte er die Bedeutung einer Brücke, vor allem wenn diese über einer Schlucht hängt, die nicht tief genug für Stelzen und Pfeiler ist. Also klemmte er sich zwischen beide Felswände und probierte so voran zu kommen. Als das zu klappen schien, warf er die Fackel hinüber und begann zu klettern. Doch der Abstand wurde nun breiter und fast rutschten ihm die Füße weg, weil seine Beine nicht mehr lang genug waren, um genügend Druck aufzubringen. Doch jetzt umkehren wollte er auch nicht und so schob er den linken Arm in Richtung des rettenden Ufers über seine Brust und drehte sich langsam mit dem Rücken zur Decke, während die rechte Hand es der linken gleich tat und er nun mit dem Gesicht über einer dutzende Schritt hohen Höhle hing, ausgestreckt über die gesamte Länge. Glücklicherweise musste er sich nicht weit auf diese Weise voran tasten und wäre beinahe noch auf die Flamme der einzigen Lichtquelle gefallen.

Die Ruhepause danach viel länger aus, war aber bitter nötig. Zu hoffen blieb nur, dass es dort auch irgendwo weiterging und dieser ganze Krampf nicht umsonst gewesen war. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, ging allerdings die Verwirrung durch verschiedene Abzweigungen los. Anfangs machte er sich noch Zeichen auf dem Boden und in Sichthöhe. Nachdem allerdings auch die altbewährte Methode bei jeder Gabelung immer nur noch rechts lang zu gehen um sich so durch alle Totenden systematisch durchzuarbeiten, versagt hatte, weil er am Ende wieder bei dem Loch über der Höhle herauskam, begann er etwas heftig zu verzweifeln. Sollte er denn wirklich noch tiefer hinunter steigen, in den so mühsam überwundenen Hohlraum, in der Hoffnung einen Ausgang zu finden? Falls das nicht klappte, wie käme er dann wieder hoch? Und wie sollte er dort überhaupt hinunter gelangen ohne sich sämtliche Knochen zu brechen? Kurz besann er sich seines mitgeführten Seiles, merkte aber schon bald, dass es hier nirgendwo an den glatten Wänden sicher befestigt werden konnte.

Überlegend bemerkte er im Augenwinkel das Feuer der Fackel wackeln. Der Luftzug in diesen Tunneln blies die Fackel seltsamer weise in die Höhle hinein. Frischluft hätte eigentlich entweder von vorn aus der Richtung mit dem Steinschlag oder aus der Höhle kommen sollen, falls dort eine Verbindung zur oberirdischen Welt bestand. So musste sich dieser aber hinter ihm im Labyrinth befinden. Also folgte er der Fackel in seiner Hand, oder zumindest dem Verhalten der Flamme. Schon als er an der ersten Biegung links ging, kehrte sich das Flackern um. Ebenso als er rechts ging. Alle Flammenhinweise deuteten auf den Dreieckspunkt des Labyrinthenanfangs. Doch von wo? Hier gab es auch kein Loch unter seinen Füßen, das eine Höhle darunter vermuten ließ. Dann hielt er das ölgetränkte Stück Holz unterschiedlich vor sich her und beobachtete wie sich die Fackel in einer bestimmten Haltung wie unter Schmerzen zu krümmen schien und schaute hinauf. In der Tat hatte er gar nicht bemerkt, wie hoch hier die Decke hing. Da schien ein Lüftungsschacht die ganzen Gänge mit Frischluft versorgen. Nur wenige Ellen musste er hinauf gelangen und wendete das vorangegangene Konzept zur Überquerung des Hohlraums aus der Waagerechten nun auf die Senkrechte an, noch immer in der Horizontalen hängend. Einmal auf dem Vorsprung konnte er die nun schräge Steile hinauf über eine halbe Meile steigen, jedoch stets darauf bedacht auf den losen Steinen nicht den Halt zu verlieren.

Oben wurde er von einem eiskalten Hauch empfangen. Doch die Erschöpfung trieb ihn auf die rettende Ebene, in der Furcht wieder ganz hinunter zu rutschen. Ein seltsamer Ort, den er hier gefunden hatte: Ein kleiner Wall und eine Überdachung bewahrten den Eingang vor einschwemmendem Wasser. Doch rund umher stiegen Berge in die Höhe. Nur in die Richtung, aus der der Sturm heranzog, verlief auch ein Tal. Schöne Aussichten waren das. Wie ein Matrose verloren auf den Weltmeeren kam er sich vor: hinter ihm ein Wasserfall am Weltenende und vor ihm ein Schweres Unwetter mit peitschenden Windböen, unkontrollierbar und unvorhersehbar. Dabei waren das nur Vorboten eines übermenschlichen Sturmes. Was half’s aber, wenn er nicht wieder zurück in den Untergrund wollte? Matthias war heilfroh aus diesem schwarzen Loch endlich wieder raus zu sein. Nun konnte er Georg wahrlich verstehen und seine Angst vor den Minen nachvollziehen. Doch, wo blieb Georg eigentlich ab? Dass er nicht hier an einem gottverlassenen Lüftungsschacht wartete, war durchaus klar. Aber wo war der frisch Errettete eigentlich selbst?

Das Tal weitete sich nach den ersten Schritten durch das Schneetreiben. Eine gewisse Sicht wurde frei und er sah sich auf einer vereisten Hochebene, weit und eben, nur begrenzt von dem Schneesturm und gespickt mit einigen aufragenden Felsen darin. Matthias überkam hier ein Hauch von Altertum. Er fühlte sich wie eine Figur aus den altgriechischen Sagen, als ob er den Olymp erklommen hatte und nun die Götter suchte.

Bis zu einem der Felsen stapfte er nordwestwärts, weiter hinauf anscheinend auf dem Rücken eines Gipfels. Am Stein angekommen beschloss er sich im Schnee einzugraben, bis die hereinbrechende Nacht vorüber war. Genug Zeit und Schnee für eine Unterkunft gab es, sodass er den klirrenden Winden entkommen konnte. Ein Feuer ließ sich allerdings nicht entzünden. Dafür legte er seinen Mantel locker über sich und die übrige, dicke Kleidung darunter. Der Wasserschlauch lag noch im Wirtshaus, wäre hier allerdings ohnehin eingefroren. In einen Becher wurde darum Schnee gefüllt und unter dem Mantel durch die Körperwärme geschmolzen. Es war zwar kein heißer Grog, wie er ihn sich jetzt wünschte. Doch nach einer Stunde ließ es sich fast schon lauwarm trinken. Etwas Proviant aus dem Wirtshaus hat er noch dabei. Doch länger als einen Tag sollte er nicht mehr unterwegs sein, denn die Kälte zehrt erheblich an den Kräften und das Laufen durch den hohen Schnee strengt stark an. Aus seinem Seil und vier ellenlangen Stöcken, die er meist als Feueranzünder dabei hatte, flocht er sich des Morgens ein Paar kleine Schneeschuhe. Zwar sank er immer noch etwas ein, aber längst nicht so sehr wie zuvor. Die verlassene Gegend und die weiße Helligkeit machten ihm mehr zu schaffen, wenn man nicht mehr weiß, wo man sich eigentlich befindet oder ob man richtig geht. Gedanken flossen ihm so durch den Sinn und er rezitierte vor sich hin:

„... ,Hinter mir schon düstre Einsamkeit mir starken Willen abverlangen, in stetig dunkler Wegbarkeit. Bald schon schneit es stärker noch. Muss trotzdem endlos weiter stapfen. Verkriech’ mich hier in keinem Loch! Ess’ Schneeeis und Nadelzapfen.’ Nur dass es hier nicht einmal mehr Bäume hier gibt! ,Weites Feld, lichte Ebene, zaghafter wird bald der Wald. Hier preist man alles Gegebene, was die Natur dir wieder galt.’ Aber wie war doch gleich die Passage im Schnee?“

Er durchforstet seine Erinnerung, während die Füße ihn weiter vorantragen und er sich so von der Kälte ablenkt:

„ ...,Seicht wiegen sich Fichtenbäume und mir scheint, als ob ich träume, denn immer wieder mein’ ich fern das Murmeln eines Tons zu hör’n. Durch dichten Schnee zieht es mich fort, längst bin ich weiter, Richtung: Nord. Noch immer klingt’s mir in den Ohren – und bald bin ich im Schnee erfroren! Stetige Dämm’rung zum Begleit’ und auch der Wind hat für mich Zeit. Zerrt an den Wipfeln, weht verwegen, mal zu den Gipfeln und mal entgegen. Doch das ist just die richt’ge Richtung: immer hin, zur Selbstvernichtung! Ins Gebirge muss ich hoch, vielleicht überleb’ ich es ja doch, wenn mein Schicksal günstig steht. Bin glücklich, wenn es dann noch weht!’ - Stimmt, wenn man tot ist, geht einen das alles nichts mehr an. - ,Wälder enden und auch Leben. Es scheint, als hätt’s nie was gegeben. Zwischen schneebedecktem Fels, mal zu Fuß mal mit dem Seil, zieh’ ich mich vor – hoffentlich hält’s! Dass ich nicht gar zu lang verweil’. Wie auch der Wind hier seltsam pfeift, wo nichts gedeiht und auch nichts reift, glaub ich dem Ursprung nah zu kommen, wenn ich die Höhen jetzt erklommen. Man fühlt sich wie zu and’ren Zeiten: als ob noch Götter sich hier streiten. Kann beinah schon ihre Nähe spüren, und denke auch, dass sie mich führen. Ist’s dort nicht Stein auf Stein gebaut? Seltsam, was man alles schaut. Nur Fels auf Stein um Eis formt sich. Erwartung, Hoffnung trüget mich. Weiß nicht mehr welches Tal zu nehmen, bin ganz und gar und wüst verirrt, beschäftigt meinen Geist zu zähmen, der nur um meine Seele schwirrt. Nun, g’rade durch ist die Devise, wo wenig Nebel, enge Schlüchte. Da weht schon eine kleine Brise. Dort will ich hin, und wie ich flüchte! Zwar bin ich oft und gerne frei; auch der Entdeckung wohn’ ich bei. Doch wo man sich verloren sieht, dort liegt dann auch mein Grenzgebiet.’“

Seltsam wirklich kamen ihm dieser Vers vor. Eine Weile beschäftigte er seine Gedanken damit die Worte daraus mit seiner eigenen Situation zu vergleichen. So nutzte auch er ein Seil um besser voranzukommen. Doch die Eiswüste wollte nicht enden und der Horizont verschwamm zwischen Wolken und Schnee. Er erinnerte sich an sein Dorf, an Magda, Niklas, den Faulbaum, Georg, die Jägerfreunde und ein paar Dinge, die er noch machen wollte. Wohl so gegen Ende des Tages verloren sich seine Gedanken und er merkte gar nicht mehr, wie seine Bewegungen aufhörten. So schneite es über ihn hinweg und verband ihn mit der Umgebung zur Ewigkeit.

 

*

 

Ob sich nun sein Wille wehrt oder das Pflichtgefühl drängelt kann man in solchen Momenten schwer nachvollziehen. Doch wird ihm bewusst, dass es hier kein Ende für ihn gibt. Vielleicht brauchte er auch nur eine Pause. So steht er auf, putzt kurz den gröbsten Schnee von sich und geht weiter. Jetzt ist sein Verstand klar und Erinnerungen dringen nicht mehr hervor. Der Takt seiner Schritte lässt nur die Melodie einiger Musiker zu, die eines Tages auf dem Markt ausgelassen spielte. Eines dieser Lieder wiederholt er immer wieder im Kopf und die mächtige Chorpassage aller Anwesenden in diesem Lied geht ihm immer wieder durch den Kopf, treibt ihn an und nimmt die Angst vor Tod und Versagen. Ja, sie katapultiert ihn in eine gedankliche Welt, in der nur noch dieser Rhythmus existiert und sein Geist selbst das Kältegefühl seines Körpers nicht mehr hinein lässt. Auch wenn er allein seiner Wege geht, niedergeschlagen und verloren in dieser unwirtlichen Welt und eigentlich verzweifeln könnte, weil er ja den Weg nicht kennt und der Wildhüter oder der Zöllner hier schon weitaus länger lebten, so erinnert er sich daran, dass er bis ins Gebirge ebenso allein gewandert war und sich nicht darum gesorgt hatte, wie es zu schaffen sei. Dieser Glaube an die eigene Überlebensfähigkeit musste er nur wieder hervorrufen. So beginnt er sich wieder auf seine Aufgabe zu fokussieren und sich sein Ziel vor Augen zu halten: das da heißt diesen vermaledeiten Baum zu finden. Vielleicht kann er das allein sogar schneller schaffen. Denn Freundschaft ist gut, aber man kann auch sehr einsam sein, wenn man weiß, dass die Freunde nur auf Zeit geborgt sind. Das macht abhängig von anderen Menschen und deren Willen. Doch niemand außer ihm weiß so sehr um die Dringlichkeit seines Anliegens und würde daher mit gleichem Eifer voranstürmen.

Die Musik im Hinterkopf wirkt nun als treibendes Element seines jetzigen Hochgefühls. So hält er stundenlang das Wandern durch Eis und Wind durch. Es führt ihn zum Ende dieses wilden Treibens aus Schnee, Fels, Wind und Trotz wider die Elemente. Vor ihm gähnt ein Tal, so tief, dass er glaubt am Grund nicht einmal mehr Schnee zu sehen. Schon will er aus dem Übermut heraus voranstürmen, merkt aber schon wie er wenige Schritte später in den Tiefschnee rutscht und lässt sich instinktiv auf’s Kreuz fallen um nicht unkontrolliert abzuschlittern. Es hilft und nicht viel später bleibt er im Schnee liegen. Die Gefahr einer Lawine ist hier nicht unerheblich, erinnert er sich dabei. Daher schnallt er die Schneeschuhe ab und geht er auf dem Grad zwischen zwei Felsen lang um eine Abrisskante zu verursachen. Noch beginnt aber nichts zu rutschen. Etwa in der Mitte hüpft er daher einige Schritte möglichst rasch ins Tal. Wenn dabei nichts abgeht, so glaubt er, kann er einigermaßen sicher den Abstieg wagen. Nach wenigen Sprüngen aber merkt er eine Bewegung um sich herum. Der Schnee beginnt Matthias zu überholen und wieder wirft er sich rücklings in den Hang. Nun wird er jedoch von einigen Massen des weißen Pulvers überrollt, kann sich aber rasch wieder abputzen. Unter ihm dagegen rauscht ein Monster ins Tal. Der Lärm dringt auch zu ihm herauf, lässt ihn aber weniger erschauern in einer Lage, in der dieses todbringende Geschöpf auf ihn zu rasen würde.

Schon beginnt für ihn das nächste Geschick. Die Schneeschuhe festigt er diagonal mit ein paar weiteren dünnen Zweigen, die er in seinem Kreuzsack noch fand. So verhindert er zu starke Bremseffekte dadurch, dass das zur Befestigung verwendete Seil auf dem Schnee aufliegt. Nun muss er freilich der Versuchung widerstehen möglichst schnell hinunter zu gleiten. Zwar nutzt er die Abtriebskraft um kräftesparend voran zu kommen, aber oft greift er absichtlich tiefer mit beiden Armen in den Schnee um abzubremsen. Die Übung als winterlicher Teilzeitjäger hat ihn glücklicherweise mit so manchen Techniken vertraut gemacht.

Nicht einmal eine halbe Stunde später ist er auch schon am Ende der befahrbaren Schneedecke angelangt. Es gilt nun, sich erst einmal einen Überblick von diesem Ort zu verschaffen. Innerhalb von geringen Höhenabständen wachsen hier nicht nur krüpplige Kiefern oder Bergfichten. Sondern sogar alle möglichen Arten von Laubbäumen finden seine erstaunten Augen. Glitzerndes Sonnenlicht fällt hier flach auf die bemoosten Stämme. Das Tal scheint selbst im Winter von der Früh bis zum Abend Sonne abzubekommen, während sich weiter oben die Wolken an den Kämmen stauen. Denn Richtung Süden finden sich keine hohen Berge mehr, und diese breite Schlucht vor ihm liegt höher als das Umland. Sie trennt sich davon durch eine hohe Steilwand ab, in der ein gegenwärtiger eher kleiner Wasserfall das Tal entwässert. Dennoch scheint es sumpfig zu sein. Aus dem Moos unter Matthias’ Füßen quillt Wasser hervor und über ihm verhängen Flechten das Durchkommen. Aus dem Nachlass einiger Heilkundler hatte er sich eine Zeichnung abgemalt, die zeigt, wie die Blätter und Wuchsform eines Faulbaums aussehen. Das hier wäre eine geeignete Stelle für dessen Wuchs. Die Ebene ist nicht sonderlich groß, doch fällt es ihm schwer ein entsprechendes Gewächs zu finden. Denn scheinbar jegliche ihm bekannte Pflanze wächst an diesem Ort und noch einige mehr, die er nie zuvor sah. Schließlich stößt er auf einen Baum mit roten und schwarzen Früchten, dessen Blätter ihn an Buchen, aber mehr noch an Ulmen erinnern. Das hölzerne Gewächs ist zierlich und an Zahl nur ein einziger. Doch fragt er sich ob dieses Kleinparadies nicht auf einen Baum verzichten könne. Falls Matthias ihn nämlich im pharmazeutischen Sinne ernten will, muss die komplette Rinde abgezogen werden und das übersteht keine Holzpflanze. Andererseits wimmelt es im Boden nur so an Beeren, die im nächsten Frühjahr aufgehen werden und außerdem hat er diesen mühseligen Weg nicht auf sich genommen, um jetzt aus Gewissensbissen um einen Baum sein Dorf aufzugeben. Rasch ist also die Rinde eingeschnitten und löst sich vom Stamm. Die schalenförmigen Stücke bricht Matthias auf Packgröße, um sie verstauen zu können und gerade rechtzeitig zum Sonnenuntergang kann er das Tal wieder verlassen. Nur wohin? Abwärts führt nur der Bach in einem Dutzende Feldlängen reichenden Gebirgsfuß. An den Hängen hinauf schauend kann Matthias die Gipfel nur in den Wolken verschwinden sehen. Allein ein kleiner Pass im Nordosten lässt hoffen wieder auf die andere Seite des Gebirgszuges zu gelangen. Doch muss er es noch heute Abend probieren, denn morgen wird die Sonne bis zum Nachmittag nicht an die grasbewachsenen Felshänge scheinen und der Tau der Nacht ihm den Aufstieg wesentlich erschweren, ja ihn womöglich abrutschen lassen. Nach nur einigen Versuchen einen begehbaren Pfad zu finden sieht Matthias aber ein, dass es bereits zu dunkel und zu gefährlich geworden ist. Außerdem ist er völlig entkräftet nach den Strapazen der letzten Tage im Eis und würde wahrscheinlich mitten im Hang aufgeben müssen oder einen Krampf riskieren. Also sammelt er etwas Feuerholz und ein paar der Walderdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Heidelbeeren, Walnüsse und Haselnüsse, die er kennt und macht sich einen Eintopf mit reichlich Fetten aus den Nüssen und Zucker aus den reifen Beeren. Selbst in der Nacht kann es an diesem Ort nicht sonderlich kalt werden, sonst würden viele der hier wachsenden Pflanzen nicht überlebt haben und ohne Frost kann er sich aus seinem Mantel und ein paar Hölzern ein annehmbares Zelt basteln, das mit am Feuer getrocknetem Moos ausgefüttert wird. Erheblich angenehmer lebt es sich so als es in der letzten Nacht der Fall war.

Mitten in der Finsternis aber beginnt der Regen und will und will auch bis weit in den nächsten Tag hinein nicht enden. Der Mantel schützt zwar vor Nässe, allerdings wird das mit dem Aufstieg auch heute nichts mehr. Ein paar Beeren und Nüsse vom Vortag sind noch übrig, aber um einen unkalkulierbaren Aufstieg auf sich zu nehmen reicht das lange nicht. Erst muss Matthias noch einen gehörigen Vorrat sammeln, bevor er es wagen kann diese Anstrengung auf sich zu nehmen. So verbringt er den Vormittag damit aus dem Zelt zu schauen und das verhangene Tal zu beobachten. Ein Bach flutet seinen heutigen Vorgarten und die tiefer gelegenen Bereiche beginnen unter Wasser zu stehen.

Da tritt jemand ins Bild seines aus dem Mantel gefertigten provisorischen Zeltausgangs. Zuerst bemerkt Matthias nichts Auffälliges. Es sieht völlig natürlich aus, wie derjenige dort die Bäume begutachtet und ein paar Granatäpfel erntet. Der Regen hat auch nachgelassen, nur die weite Fläche vor dem Gebirge scheint noch dicht überhangen zu sein. Daher wagt er es den Mann anzusprechen, als er sich der ungewöhnlichen Begegnung bewusst geworden ist:

„Es gibt tatsächlich noch Menschen in dieser Region! Was machst du hier?“

Der Angesprochene reagiert zunächst nicht sonderlich erschrocken, sucht aber sichtlich nach passenden Worten und spricht dann:

„Sicherlich passe ich nicht zu den Menschen, die sonst hier in den Bergen leben, genauso wenig wie die meisten dieser Gewächse um uns herum. Aber es ist mein Garten, in dem du lagerst.“

Der Gärtner dreht sich um und blickt Matthias an. Es ist Niklas. Matthias kann sich der Fragen gar nicht entscheiden, die auf ihn einprasseln, wählt dann aber die naheliegenste:

„Wie bist du her gekommen? Die Felsen sind doch viel zu nass und andernorts zu steil zum Klettern!“

Niklas lacht leise und wissend. Er führt den überwältigten Neuankömmling zu einer etwas verborgenen Nische zwischen einigen Steinspalten. Dort hängen ein paar Taue von oben herab und eine hölzerne Konstruktion lässt auf einen Aufzug deuten.

„Reicht das?“, weist Niklas auf das etwas wackelige Gebilde, „Hol erstmal deine Sachen und ich bringe meine Früchte hinauf. Dann zieh ich dich hoch. Es ist eh besser nur einen Mann damit zu verfrachten.“

Die Fahrt nach oben ist herrlich. Matthias kann sehen, wie er über die tiefhängende Wolkendecke gehoben wird und das kleine Tal in seiner Nische fast abgeschottet in den Berg gebettet  liegt. Hinter ihm erstreckt sich dagegen ein schmaler Kamm, hüben und drüben weiter aufsteigend und auf der anderen Seite in ein Kreuztal abfallend.

‚...Zwischen schneebedecktem Fels, mal zu Fuß mal mit dem Seil, zieh’ ich mich vor – hoffentlich hält’s...’, kommt ihm dabei wieder in den Sinn, dieses Mal jedoch ohne die Strapazen sich selbst vortasten zu müssen als vielmehr einer wackeligen Konstruktion zu vertrauen.

Direkt vor ihm liegt aber erst einmal eine Steinhütte, umgeben von einem niedrigen Wald aus Fichten und Krüppelkiefern und ein paar kleineren Seen. Es scheint so etwas wie die Verbindung zweier Bergrücken zu sein. Niklas befestigt die Taue und weist mit der offenen Hand zur Eingangstür. Offensichtlich hat er noch Dinge zu tun. Daher nimmt der müde Wanderer das Angebot gerne an und freut sich auf ein unverhofft trockenes und warmes Plätzchen in der Stube.

Nach dem Vorbau mit Schuhen und Mänteln geht es in den Hauptraum. Matthias wundert sich noch über die Anzahl an Kleidern, die Niklas besitzt, bevor er die Kieferntür aufschlägt und dort bereits zwei Gestalten sitzen sieht. Er mustert sie und begreift zunächst nicht, wer sich ihm da gegenüber befindet. Eine der beiden kommt auf ihn zu und spricht:

„Grüße dich, Matthes, du bist spät, aber es ist trotzdem schon dich zu sehen.“

Sie umarmt ihn und lässt ihn eine Weile nicht los, bis er die Geste erwidert und sich eingestehen muss, dass er es gern tut, denn immerhin ist es seine alte Gefährtin.

„Dich hier zu erwarten, Elli, das wär’ mir als letztes eingefallen“, bringt er heraus, „Ich meine, ich freu’ mich auch dich zu sehen. Aber wie kommst du hier her?“

Sie lässt ihn wieder frei aus der Umklammerung, hält ihn aber noch an den Armen:

„Ach, ich bin schon eine ganze Weile bei Niklas. Weißt du, im Dorf konnte ich sowieso nichts machen und ich kenne ihn schon so lange, da wollte ich endlich einmal wissen, wie es bei ihm so ist. Ich wollte eben auch mal fort.“

„Wo du doch sonst eher andere in die Welt schickst“, ergänzt Matthias und fügt ein Schmunzeln hinzu, „Weißt du eigentlich etwas von Magda?“

Elli druckst. Sie weiß wohl nicht, ob sie ihm etwas verheimlichen soll. Darum antwortet sie:

„Hör mal, ich weiß, dass du sie gern hast, so wie...“, und hält erneut inne, „Meinst du aber nicht, dass euer gemeinsamer Versuch gescheitert ist?“

„Hat sie dir das so erzählt?“, fragt Matthias nachdenklich.

„Sie meinte nur, dass sie sich etwas zu vorschnell entschieden hatte mit dir zu leben und die Unterschiede dann doch zu groß waren“, versucht Elli ihm zu erklären.

„Das klingt mir so gar nicht nach ihr“, erwidert Matthias, „Und was willst du mit zu schnellen Entscheidungen sagen, wo wir doch wochenlang zusammen unterwegs waren? Bist du sicher, dass du nicht eine andere Geschichte meinst?“

Elli weiß worauf Matthias damit anspielen will.

„Tja, du hast wohl recht. Wir waren einst genauso, aber die Zeit entfremdet uns alle. Und manche Ereignisse noch viel mehr. Als euer Spross starb, wurde für sie alles andere wertlos und die Verbindung zu dir ist mit zerfallen“, erklärt sie forsch, fügt aber milder hinzu: „Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist. Sie sollte für mich einen Auftrag ausführen. Den gab ich ihr um sie abzulenken. Aber mit der Nachricht über den erfolgreichen Ausgang sandte sie mir auch eine andere Botschaft: demnach wollte sie sich einer fahrenden Gruppe anschließen und eine Weile reisen. Ich antwortete ihr noch und meinte, dass sie dich nicht einfach aufgeben solle, aber sie war offensichtlich schon weg, bevor sie das lesen konnte.“

Ihr mitleidiger Gesichtsausdruck tröstet Matthias, auch wenn er es nicht zulassen will. Denn das bedeutet gleichzeitig, dass er Elli glaubt und die Fakten akzeptiert und eigentlich will er es nicht glauben.

Nun kommt auch der Andere aus der Ecke des Raums dazu und spricht:

„Wo warst du die ganze Zeit? Ich wartete am zweiten Ausgang, eine ganze Zeit lang, bis dieser Arbeiter herauskam und nach dir fragte. Als du deshalb nicht zwischen ihm und mir gewesen sein konntest, bin ich hierher zu Niklas um mit ihm zu beraten, was wir tun können.“ Georg hat das Gespräch zuvor anscheinend nicht mitbekommen oder absichtlich weggehört, als er mit diesen Worten die beiden unterbricht.

„Seitdem sind zwei Tage vergangen! Bisher habt ihr also nichts unternommen?“, empört sich Matthias etwas umständlich.

„Hast du den Schneesturm bemerkt? Wir konnten nicht raus. Der Weg über den Pass ist komplett begraben. Aber wie bist du eigentlich her gekommen?“, staunt Georg. Niklas kommt nun auch dazu. Er bringt eine kalte Luft herein und gehörig viel Schneenässe.

„Es zieht was herauf. Der Sturm der letzten Tage ist nun angekommen“, erklärt er das Offensichtliche, „Mich wundert wie du es überhaupt her geschafft hast.“

„Jedenfalls nicht über den Pass“, erwidert Matthias.

„Wie dann? Doch nicht etwas durch den Geisterstollen und dann über die Hochebene“, Niklas lacht herzlich dabei, „Es gibt nämlich keinen anderen Weg.“

Aber Matthias erzählt:

„Einer der Arbeiter hatte mich in den Minen gewarnt vor den anderen Kumpeln und wollte mich rausschaffen. Aber ich muss mich wohl verlaufen haben und als dann ein Einsturz mir den Rückweg abschnitt, konnte ich nur noch vorwärts – das hieß, über eine Höhle und einen Lüftungsschacht an die Oberfläche. Dann kam wohl diese Hochebene, völlig verschneit. Ein höllischer Ort, nur im Gegensatz dazu klirrend vor Kälte! Aber wie gesagt, ich konnte ja nicht zurück, also musste ich weiter und nachdem ich mir eine Schneehöhle für die Nacht gebaut und die finstren Stunden sogar überlebt hatte, bin ich auf deinen kleinen Obstgarten da unten gestoßen.“

Niklas schaut ihn zuerst nur an. Eigentlich kann ihn nichts erschrecken. Das hat zwar auch diese Geschichte nicht – aber dafür ein Gedanke, der damit zusammenhängt.

„Ich muss schon sagen“, hebt er dann wieder in einem ermunterten Ton an, „Das hätte ich eigentlich niemandem zugetraut. Aber wenn ich es bedenke, bist du ja ein ehemaliger Winterjäger, wenn auch aus den kleineren Bergländern. Ihr müsst dabei wirklich was gelernt haben.“ Niklas kramt ein paar Sachen zusammen. „Iss mal was Ordentliches. Ich hab zwar schon gesehen, dass du meine Bäume und Büsche geplündert hast, aber von Beeren allein wird man doch nicht satt.“

Als sich daher Matthias über ein Stück Bärenschinken hermacht und auch die beiden anderen Gäste etwas zu sich nehmen, erzählt Niklas seinerseits:

„Ihr müsst wissen, dass ich schon früher hier gelebt habe. Viele kennen mich als Seemann. Das war ich auch, eine Zeit lang. Aber zuvor habe ich mein Leben in diesen Bergen verbracht und wusste alles über sie. Auch in den Minen habe ich mich daher verdingt. Das ist schon etliche Jahrzehnte her. Damals nahm man noch Kinder dafür, weil sie besser in die engen Stollen rein kamen. Und dabei habe ich auch einige elendig verrecken sehen – oft am Grubengas, das war noch das friedlichste. Denn das Zeug konnte auch in die Luft fliegen. Dann flutete es oftmals die Gänge und die Leute ertranken wie die Matrosen. Da dachte ich mir dann auch, dass ich ebenso gut gleich aufs Meer flüchten kann. Aber es gab auch immer wieder Felsstürze und schwache Gänge, die welche von uns begruben, verstümmelten oder in einem Alten Mann abschnitten - das sind Sackgassen, tote Gänge - und dort zum Verhungern verurteilten.“

Niklas sah nachdenklich aus, fuhr aber fort:

„Doch vielmehr als vor diesen Gefahren hatten wir Angst vor den Toten: den Geistern dieser verlorenen Seelen, die nicht mehr aus dem Berg fanden: eingeschlossen, begraben, zerfetzt oder verlaufen. Heute kommt mir das freilich albern vor, aber nicht nur wir Kinder fürchteten uns davor. Selbst die älteren Bergleute hatten schon Generationen vor uns einen Bereich der Gänge verschlossen, in dem sie das Unheil vermuteten. Es hieß, dort hatte sich einst eine Kaverne im Boden aufgetan, aus dem die Kreaturen der Hölle und alle verlorenen Seelen an die Oberfläche gelangen konnten und die Menschen von der Erde fegen würden. Ich bin kein abergläubischer Mensch, wahrlich nicht. Selbst der Klabauter konnte mich nicht schrecken und die Kaventsmänner warfen mich nicht um, als der Rest der Seemannschaft vor Angst unter Deck verschwand. Nur wenn ich an diesen Stollen denke, den sie den Geisterstollen nannten, wird mir noch heute etwas mulmig.“

Georg und Elli blicken mit Schrecken und ergriffen zum Erzähler. Elli glaubt wie viele andere ihrer Zeit an Geister und Dämonen. Georg kennt die Gefahren und Geschichten der Berge. Er respektiert Niklas und wenn ein so erfahrener Mann sich schon vor etwas in Acht nimmt, dann sollte man lieber zweimal darüber nachdenken, sich Hals über Kopf blindlings voran zu stürzen. Auch wenn Georg nicht an Trolle oder andere Fabelfiguren glaubt. Matthias aber kann das nicht nachvollziehen. Deshalb meint er auch gleich:

„Ich bin dort auf eine Grotte gestoßen, konnte aber kaum etwas erkennen und musste mich ziemlich anstrengen über diesen klaffenden Abgrund zu klettern. Sah auch ziemlich groß aus, diese Höhle. Aber ich musste weiter und kam dann nur noch in einem Kreis von Gängen heraus, so dass ich wie gesagt nur noch steil nach oben konnte, woher ein Lüftchen den Ausgang verriet.“

Man sieht direkt wie Niklas erblasst:

„Das heißt“, folgert er erschrocken, „es gibt eine Verbindung zur Welt?“

„Offenbar ja“, lapidiert Matthias.

Im jenem Moment, als ihm bewusst wird, wie besorgt Niklas darüber ist, fügt er noch abmildernd hinzu:

„Aber wie du siehst, ist bisher nichts aus den Tiefen heraufgestiegen, seit den Generationen vor dir – außer mir.“

Die letzten beiden Worte will er schon bereuen, um sich selbst nicht als Dämon darzustellen, aber das meint ohnehin keiner von ihm. Niklas blickt erschüttert ins Nichts. Er denkt nach und kommt mit der Zeit zu sich:

„Ich muss schon sagen, mein lieber Winterjäger, du bist schon ein erstaunliches Wesen. Nicht genug, dass du die Hochebene im schlimmsten Sturm durchquerst, den ich hier oben je erlebt habe und das auch noch ohne Essen oder besondere Ausrüstung. Sondern du hast es tatsächlich geschafft, mir meinen letzten Kindheitsmythos zu rauben – und den Schrecken davor zu nehmen. Erlaube mir dazu eine Frage: Wie kamst du in den Geistersto... ähm, den verlassenen Bereich überhaupt hinein?“

„Das war nicht so schwer. An einer Seite war ein Spalt im Geröllhaufen, durch den ich mich zwängen konnte“, ließ Matthias verlauten.

„Aha“, analysierte Niklas nun nüchtern, „Denn zu meiner Zeit im Berg war der Zugang meterdick versiegelt und getarnt. Nur wenige wussten noch, wo er sich überhaupt befand. Ich vermute deshalb, dass jemand von außerhalb sich dieses Geheimnisses habhaft machen konnte und nun von der Gier getrieben ist dorthin vorzudringen. Derjenige kennt natürlich nicht die Geschichten, ist nicht mit ihnen aufgewachsen und fürchtet sich nicht davor. Vermutlich sind auch schon welche in die Grotte hinab gestiegen und haben etwas gefunden, das sich lohnt es auszubeuten. Das würde dann auch die Geheimniskrämerei erklären, die es in letzter Zeit um die Minen gibt und die Mordlust, von der du erzählt hast. Dieser Vorarbeiter, Heinrich, der ist auch nicht von hier. Vermutlich steckt er da mit drin. Dem Ganzen werde ich mal auf den Grund gehen.“

„Deine Mühen in allen Ehren“, hakte Matthias wieder ein, „Aber ich bin aus einem anderen Grund hier. Als du damals in unser Dorf kamst, erklärtest du uns, wir müssten zum Apotheker in Lauschitz ziehen um die Seuche zu beenden. Der half uns zwar weiter, aber das Mittel reichte nicht aus. Deswegen kam ich in die Berge, denn ich hörte, dass es noch eine stärkere Arznei hier geben soll: den Faulbaum.“

Niklas erinnerte sich natürlich daran, gab aber zu Bedenken:

„Ich habe mich mit eurem Fall in der Zwischenzeit befasst“, trägt der stämmige Seebär vor, „Faulbaum ist zwar nützlich, aber sicher nicht heilsam, zumindest nicht endgültig. Dafür braucht ihr noch anderes Zeugs. Das wächst hier unten in meinem Gärtchen. Das nächste Mal hätte ich es mitgebracht, wenn ich wieder bei euch durchgekommen wäre. Aber jetzt bist du ja da, Matjas. Dann kann ich mich gleich um die Minenangelegenheit in der Stadt kümmern.“

„Sag, wie kommst du denn an diese Gewächse und wie kommen die Gewächse hier her?“, brennt es nun Georg auf der Zunge, als Wildhüter und Weidmann an solchen Fragen interessiert.

„Ach, weißt du, ich bin ja viel gereist und die Leidenschaft der Heilkunst ist überall auf der Welt verschieden. Mit der Zeit habe ich immer mehr Kräuter und Pflanzen gesammelt und hier angeschleppt. Dann dachte ich: warum nicht gleich selbst einen Garten anlegen, in dem der ganze Krempel von allein wachsen kann und erinnerte mich an dieses wunderbar milde Tal unter uns. Dort scheint die Sonne selbst im Spätherbst noch hinein und spiegelt die Wärme an den Kalkhängen. So kann auch exotischer Wuchs dort wuchern. Du kennst doch meinen Wein! Herrlich süß ist das Gesöff. Genauso reift auch alles andere. Aufmerksam wurde ich damals durch den außerordentlichen Boden, der schwärzer ist als die Kutte des Seelenhändlers. Die besten Bedingungen sind hier ausstaffiert und deshalb ist es ein Refugium der Fremdpflanzen; mein persönlicher botanischer Garten war lange mein wichtigster Schatz“, erzählt Niklas zuletzt zu Elli gewandt.

Die Gespräche führen noch so manche Begebenheit aus, während der Wind immer heftiger immer größere Flocken herbeischafft und alle die Gelegenheit nutzen etwas zur Ruhe zu kommen, im Schutz der Blockhütte. Dabei fällt nicht nur die sparsame Geräumigkeit der zweigeteilten Hütte auf, sondern auch eine Schriftrolle, die an die Wand genagelt ist und von Niklas beiläufig als Geschenk eines befreundeten Heilers angepriesen wird. Er hatte sie einst bekommen um ihn auf See an die wichtigsten Arzneien und deren Wirkung zu erinnern, die schließlich den Grundstock für seine Begeisterung zur Medizin bedeutet:

 

» Der Trank

 

Wenn Seele oder Körper kränkeln

hol ich den Topfe aus dem Schrank,

häng ihn auf an seinen Henkeln,

pack die Bücher auf die Bank

und den Wetterfrosch an seinen Schenkeln,

putz die Arbeitsfläche blank,

schnür‘ fest die Stiefel mit den Senkeln.

 

Denn wenn die Kräfte erst entfesselt,

und das Gebrodel deftig kesselt,

zeigt sich dann das wahre Wesen:

Stur und bockig, wild und edel.

Sogar des Zauberlehrlings Besen

wird da verängstigt zum Staubwedel.

Zwei Schwestern sind’s, so nennt man sie:

Alchemie und Pharmazie.

 

Sie bestrafen jeden Fehltritt!

Darum beachte jeden Schritt:

Wenn auch nur ein Teilchen fehle

verwirkt der Kranke seine Seele.

 

Drum entfaltet sich das Elixier

durch diese Vorschrift nun vor dir.

Sei aufmerksam und höre,

wie man die Lebensgeister weckt

was die Dämonen verschreckt,

wie ich die Energie beschwöre,

und den Tode bei der Arbeit störe.

So lese ich das Heilrezept:

 

>Das Antisept.

 

Vorweg lest Paracelsus’ Schrift:

‚Nicht zu wenig und nicht viel.

Denn die Dosis macht das Gift!’

Seit jeher ein gewagtes Spiel.

 

Füge bei das Kraut, die Blüte

Früchte, Blätter oder Wurz.

Doch schau vorher auf der Pflanzen Güte!

und warte nicht zu lang, nur kurz.

Frische ist meist das Gebot,

denn frisch ist meistens auch die Not.

 

Bei allgemeinem Nasenlaufen,

Husten, Fieber, Schwäche, Schmerzen

kannst du getrost mit reinem Herzen

diese Mittelchen verkaufen:

So ist der heilkundige Wille,

es hilft unbedingt stets die Kamille.

Und eines wisse:

ruhig wohl tut auch Melisse.

Sei versichert, dass ich nicht scherze:

wichtig ist die Königskerze.

Statt so manchem Kräuterplunder

nimm lieber etwas mehr Holunder.

Zwar juckt’s gehörig in der Kutte,

aber der Tee aus Hagebutte

kuriert so gut wie Blüten der Linde,

und beides schmeckt, so wie ich finde.

 

Geht’s jedoch um Darm und Magen

nimm Fenchel, Kümmel und Anis;

auch Koriander bringt Wohlbehagen –

doch eins davon schmeckt meistens fies!

 

Was dich dann wieder wohl erbaut,

ist ein Schuss Johanniskraut

den ich für die Seele empfehle.

Zwar kann das auch der holde Hopfen,

doch vom Gersten-Gasthaus-Bräu

nimm bitte nur ganz wenig Tropfen,

denn trägt es mehr zum Siechtum bei.

 

Schon lange in der Kräuterkunde

tun wir Ringelblumen auf die Wunde.

Wenn du keine Kamille findest

und dich durch alle Wiesen schindest,

schaue doch einmal zumindest

auch am Rand auf deinen Wegen –

dort steht oft ein wahrer Segen:

Plantago lanceolata,

oder im Gebirge oben Arnica.

All das ist keine Hexerei,

selbst Thymian und auch Salbei.

Und hast du schlimme Scheißerei

macht dich Leinsamen davon frei.

Wie das Feuer unterm Kessel

verbrennt das Leid auch Brennnessel.

 

Nun rühre so, wie man es kennt,

misch alles wie gewohnt bei Tisch,

wo man es dann sogleich verbrennt...<

Da fehlt ein Stück vom Pergament.

 

So kommt es dann, dass unvollendet

der Trank, die Salbe oder nur der Rat

die Gesundheit des Patienten schändet -

das Ende jeder guten Tat!

 

Und stirbt dann doch mal einer eher,

beschuldigt man den Pillendreher

Der Quacksalber hat es getan!

Doch mischt er nur die Tränke an.

 

Eine allein fuhrwerkt am Patientenleib.

Sie ist des Apothekers Weib.

Keine Frau und keine Dame,

trägt daran Schuld, doch hier ihr Name:

Diese „Natur“, so schrecklich weibisch -

Ah, ich weiß: es fehlt noch Eibisch!

 

Bei Schwermut oder Körperleiden

Brau ich den Trank für euch mit Freuden.

Nur der Natur zolle Tribut und Dank

für den segensreichen Heilungstrank.

 

Und haut das alles auch nicht hin,

war’s doch die falsche Medizin. «

 

Also haben auch die Heiler ihren Sarkasmus um mit der Schwere ihrer Berufung fertig zu werden, wenn es mal nicht klappt! Etwas, das Matthias seit jeher bewunderte. Denn allein die Vorstellung in diesem Aufgabenbereich einen Fehler zu begehen und jemanden dadurch zum Tode zu verurteilen, widerstrebt ihm sichtlich sich auch nur vor Augen zu halten, welche Verantwortung ein Medikus wohl hat. Sinnierend blickt er hinaus und es keimt der Gedanke, dass er nun als Hilfsheiler eine recht ähnliche Verantwortung trägt. Die Dringlichkeit dringt zurück in sein Bewusstsein und Nervosität regt sich in ihm. Während er hier im Sturm festsitzt, müssen zuhause die Leute leiden. Allerdings hat es keinen Sinn sich jetzt kirre zu machen. Planung ist wichtiger. Georg tritt hinzu und meint:

„Die beiden sind beschäftigt, da störe ich nur“, schaut Matthias an und fragt: „Du wirkst unruhig. In solch einem Unwetter fühle ich mich in einer wohlgeheizten Hütte immer sicher und freue mich darüber, dass ich unbeschadet dem fürchterlichen Treiben zuschauen kann. Der Winter wird auf diese Weise zu einer inneren Ruhe, eben wenn er am heftigsten wütet.“

„Das mag wohl sein und ich kenne es ebenso“, antwortet der Rastlose, „Nur bleibst du auch gefangen in der Höhle ohne Sorge ruhig sitzen, wenn draußen das Untier versucht deiner habhaft zu werden und beständig versucht hinein zu gelangen? So geht es mir derzeit, wenn ich nicht voran komme und ausharren muss, von anderen Mächten abhängig.“

„Dann ist es aber auch nicht in deiner Macht etwas daran zu ändern“, versucht ihn der Wildhüter zu beruhigen.

„Das kann ich nicht wissen, wenn ich es nicht probiere“, widerspricht Matthias, „Stets vermag ich mich damit zu besänftigen, meine Schritte würden von höheren Mächten gelenkt, während andere an mir vorbei laufen. Sobald sich der Sturm verzieht, muss ich aufbrechen, zurück in die Heimat. Es hängt nicht nur meine Gesundheit daran.“

Der fremde Reisende kann sein Schicksal nicht ohne weiteres akzeptieren, zumal er doch anscheinend im Schnee bewiesen hat, dass er die Natur bezwingen kann.

Noch zwei Tage vergehen, bevor das Wetter zwar nicht aufklart, aber zumindest das Schneetreiben und der Wind nachlassen. Niklas hat seinen Garten inzwischen auf allerlei nützliche Arzneien abgeerntet und verarbeitungsfertig zubereitet. Nun stehen Matthias die langen Wege des Abstiegs bevor, durch noch immer winterlichste Gebirgslandschaft. Zuvor tritt Niklas an ihn heran und übergibt ihm mit den Arzneien noch ein paar wärmende Worte:

„Denk dran, Matjas: Lass die Kälte nicht in deinen Schädel. Wenn du frierst, mach dir klar, dass es nur dein Leib ist, der sich beschwert. Viel Glück bei deiner Heimreise, wir sehen uns dann bald wieder bei euch im Dorf.“

Elisabeth tritt aus der Hütte heraus und bleibt bei Niklas stehen.

„Kommst du nicht mit?“, verwundert sich Matthias. Sie kommt an ihn heran und erwidert ernst:

„Matthias, ich lebe jetzt hier. Nachdem du mit meiner Magd wieder kamst, glaubst du, da hätte ich einfach zurückstecken können? Du solltest mich doch soweit kennen, dass ich keine zweite Wahl bin, auch wenn ich deine Entscheidung akzeptierte.“

„Also habe ich euch beide verloren“, schließt er verzweifelt.

„Das hattest du schon vor dieser Reise, bevor du mich hier gefunden hast und vor der letzten Reise, bevor du auf Magda trafst. Nur die Hoffnung auf alte Zeiten stürzt dich jetzt ins Leid zurück. Vielleicht kannst du die Naturkräfte bezwingen, die Berge, die Kälte und sogar dich selbst. Aber die Liebe ist das einzige, das du nicht erzwingen kannst.“

In diesem Sinn verlässt er die Schutzstätte mit ein paar frischen Vorräten und lässt ein paar Hoffnungen zurück – genauso einsam wie zuvor und doch fühlt es sich noch verlassener an, er aufbricht um einem Hochtal zu folgen.

Wieder versucht das Gebirge ihm den Weg zu verschneien, stärker noch als zuvor. Dieses Mal jedoch verzagt er nicht aufgrund der Verzweiflung über sein verlorenes Glück. Denn er hatte es bereits genießen dürfen, für eine Weile. Und er weiß, dass solches Glück nicht von Dauer ist. Denn entweder gewöhnt man sich daran und es verebbt oder die Bande zwischen den Menschen brechen und die Wonne versiegt, wie nun geschehen. Darüber ärgert er sich. Sein Zorn wächst so weit, dass er nicht weiß, wie dem Ausdruck zu verleihen sei und so jagt er durch den Sturm, der mitsamt seiner Wut nur noch weiter wächst. Man möchte gar glauben, Sturm und Ärgernis sind hier zu einem Ganzen verschmolzen und dieser Mann könne die Naturgewalten heraufbeschwören. So bahnt er sich den Weg durch den Hochgebirgswinter, unter der Hitze der Empörung, den Schnee beinahe vor dem nächsten Schritt noch schmelzend und getrieben von wilder Erregung über ... ja, worüber eigentlich? Kann er irgendjemandem etwas vorwerfen? Wenn, dann dem Schicksal, aber doch keinem lebenden Menschen! Im Begriff dies einzusehen verharrt er in langsameren Schritt und bemerkt nun seine Lage und das Wetter um ihn herum. Wo ist er denn eigentlich und wie weit hat ihn seine Wut getragen? Hier ist nichts weiter als Felsen, die er nur wenige Häuser hoch gegen die Flocken erahnen muss und die einzige laufbare Strecke liegt hinter ihm. Das hier ist ein totes Ende, aus dem allein das Wissen um einen möglichen Pass schon verzweifeln lassen müsste. Aber zurück, auf dem Weg der Wut, das will Matthias auch nicht. Also muss sich ein Weg über die Felsen finden lassen.

Lang dauert es überraschenderweise auch nicht, da endet die Kraxelei und vor ihm liegt eine kurze Ebene, ein gefrorener See, umgeben von einem verschneiten Krater. Mit Leichtigkeit trägt ihn das Eis bis zum Anfang des Gletschers, an dessen Flanke er empor steigt, in der Hoffnung den vermeintlichen Pass zu finden. Hier ist es derart steil, dass sogar Felsbrocken aus dem Schnee empor schauen und ab und zu tritt der Bergsteiger einen davon lose. Als das wieder einmal passiert, löst der Stein einen anderen aus seinem Bett und gerät auf das Gletscherfeld, wo er an Fahrt aufnimmt und zusammen mit dem umwickelten Schnee zu einiger Größe anwächst, bevor er auf den See zu fliegt. Unter der Wucht des beschleunigten Geschosses bricht das meterdicke Eis entzwei und gibt einen Schwall Wasser der plötzlichen Freiheit preis. Den erbärmlichen Temperaturen zum Trotz ergießt es sich noch einige Meilen weiter gen Tal, bevor der Nebel aus Schnee und Dämmerung den weiteren Verlauf verschluckt. Eine mächtige, Eisdecke, einem neugeborenen Gletscher gleich, muss sich auf diese Weise geformt haben, da große Teile auch sofort gefrieren und später eine erstarrte Welle offenbaren. All dies sieht er nicht, denn er ist schon zu hoch und muss weiter, über den Pass, so hoch dieser auch liegen mag.

Hüfthoch bricht er bei jedem Schritt nun ein in die Flocken des kristallinen Wassers ein, als die Steigung wieder sanfter wird und stets glaubt er den Grat zu sehen, aber es geht immer wieder nur noch höher hinauf. Selbst die Versuche eine Schneehöhle als Unterschlupf zu bauen schlagen fehl, denn zu frisch ist das Pulver und stürzt nach einigen Stunden Arbeit wieder in sich zusammen. Also muss er weiter ziehen, denn anderen Schutz gibt es hier nicht. Dann stoßen ihm heftige Winde entgegen. Er kann nun nur noch mit den Händen als Schutz vor dem Gesicht und zu Boden blickend gegen die Böen stampfen. Aber es sind die Zeichen für das Ende des Aufstiegs. So steil wie er hinauf kam, um den kaum erkennbaren Pass zu erklimmen, so steil muss er auch wieder hinab und manches Mal wirft er sich im letzten Augenblick rücklings auf den Schnee um nicht vor lauter Räsche vornüber zu stürzen und hunderte Meter bäuchlings hinab zu schlittern. Auf einem anderen Schritt weiter unten ist der Schnee bereits zu niedrig, so dass er heftig auf einen Steinbrocken tritt, mit dem Bein im Firn stecken bleibt und zur Seite wegknickt. Neben dem Schmerz fährt ihm der Gedanke durch den Schädel nun hier oben gefangen zu sein. Das Bein, wenn nicht gebrochen, zumindest verdreht oder verstaucht, wird ihn vom Abstieg abhalten und so zügelt er seine Gedanken nach dem eigentlichen Ziel und liegt einfach nur da. Die restliche Wut über die verlorenen Liebschaften verliert sich sogleich. Der Gipfel über ihm, der Schnee unter ihm, die Anstrengung hinter ihm und den Wald vor ihm im Blick. Außerdem fühlt er den Willen in sich. Und das ist der Wille weiterzumachen. Warum auch nicht? Der Wald kann ihn schützen und dort hat er schon oft tagelang überlebt, auch im Winter. Nur wenige hundert Meter weiter beginnt die Baumgrenze. Bis dahin sollte es zu schaffen sein, auch in seinem Zustand. Immerhin geht es bergab.

Die Nacht ist schon eingekehrt, als er unter den Bäumen ankommt. Überall reicht es ihm aber nicht aus um in seinem Zustand zu rasten. Daher dringt er immer weiter vor in die Klamm, bis schon die Zollstation in Sicht kommt.

„Mann, wo kommst du denn her? Aus dieser Richtung hab ich ja noch nie jemanden humpeln sehen“, ist dann eine Stimme zu hören. Woher sie kommt, ist nicht zu sehen. Aber zwischen den Zweigen hindurch tritt eine Gestalt hervor. Der breite Hut ist zuerst zu sehen, dann ein paar Umrisse des Körpers, aber das war es auch schon. Matthias zögert erst, aber fort könnte er ohnehin nicht mehr in seinem Zustand und offensichtlich kennt sich der andere in dieser Gegend auch besser aus. Also versucht er es mit Diplomatie und hofft, so vielleicht eine gute Lagerstätte für die langen Stunden der Nacht zu finden. Da ihm dieser Mann wie ein Verbrecher vorkommt, fragt er provokant:

„Ah, sei gegrüßt, guter Mann. Ich kam gerade über den Pass vom Hochtal runter. Falls es Euch nicht zu viel Mühe macht, würde ich hier gerne die Nacht überstehen.“

„Hm“, wird Matthias forschend angesehen. Die zwei Augen sind das einzige, was bei der Finsternis noch zu erkennen ist. „Wer dort rüber kommt, der muss verrückt sein – oder ein flüchtiger Gauner. Beides ist nicht gut für mich. Sprich also, ob ich dich erschlagen soll oder ob Fortjagen reicht.“

Matthias schaut konsterniert drein und überlegt seine Möglichkeiten, während ihm schon die Antwort vorweggenommen wird:

„Na nu lass mal. Das war ja nur ein Spaß. Ich mein, du musst verrückt sein dort herüber zu kommen, aber ich versteck mich ja selbst hier vor dem Gesetz, also bleib ruhig bis morgen früh, wenn du willst.“

Also doch ein Verbrecher!

Unentschlossen darüber, was zu tun sei und ob er sich schlafen legen sollte oder sich lieber heimlich aus dem Staub macht, starrt Matthias ins Feuer. Über ihm sind anscheinend Fichtenzweige zusammengeflochten, die eine Art Vordach für eine primitive Hütte aus Zweigen und Moos bilden. Mit seinem Bein kann er aber kaum weiter und jetzt in Ruhe schwillt es nur noch mehr an. Darum beschließt er ein Vertrauensverhältnis zu diesem zwielichtigen Menschen aufzubauen und ihm arm, aber ungefährlich gegenüber zu treten.

„Wessen wirst du bezichtigt?“, bildet die Einstiegsfrage an den Hüttenbewohner, woraufhin Matthias schon den Entschluss gefasst hat dessen Tat schönreden zu wollen, damit es aussieht, als hätten sie die gleiche Meinung.

„Ach, eine unbedeutende Geschichte. Aber wenn du schon so anteilsvoll fragst, musst du nun auch die Folge ertragen. Also“, räuspert sich der Einheimische mit viel Pathos, „Einst hatte ich ein lustiges Leben geführt, war schlagfertig aufgetreten und mir für keinen Spaß zu schade. Doch als man meine Frau auf unserer gemeinsamen Reise durch die Welt ermordete, wandelte sich auch mein Leben und ich stürzte in dunkle Gedanken. Die kamen mir reichlich, als ich dorten im Kerker hockte, weil man mich ihres Mordes bezichtigte. Als dann der Tag des Galgens kam, richtete ich den Henker und verflüchtigte mich hierher. Seitdem habe ich immer einen Blick auf das Zollhäuschen dort drüben, wo es zum Vorwald geht.“

Matthias muss nun nicht einmal mehr Zustimmung heucheln, denn er empfindet sie spontan, auch wenn die Worte nur eine Sicht widerspiegeln. Den Scharfsinn hat dieser Mensch durch die Umstände des Schicksals zwar nicht verloren, aber die Motivation ihn einzusetzen dafür schon. Denn sonst hätte er versucht das Missverständnis aufzuklären.

„Du denkst jetzt vielleicht, ich hätte Beweise für meine Unschuld suchen müssen“, errät der Mitleiderregende die Gedanken seines Gastes, „Aber das ist in jener Stadt vergebens. Sie wird vom Minenbesitzer und Lehnsherrn höchst selbst beherrscht und gegen seinen Willen läuft da nichts. Meine Verhandlung hat dementsprechend nicht stattgefunden und nach dem öffentlichen Tod des Richtmeisters haben sie nun ganz reale Anschuldigungen gegen mich. Nur weil ich mich meinem Schicksal nicht beugen wollte und den Gesetzen dieses fremden Landes.“

Doch bevor die Verbitterung wieder Besitz von ihm ergreifen kann, fügt er noch hinzu:

„Na ja, aber das gehört eben auch zu meinem Schicksal.“

„Erzähl mir von dieser Stadt. Ich muss nächstens dorthin, aber beim Abstieg vorhin habe ich mich am Knöchel verletzt und werde so schnell wohl nicht ankommen“, tischt Matthias nun die Wahrheit auf.

„Sie heißt Bergheim. Ich wollte hier mit meinem Weib ihre Verwandten besuchen, als man uns auf der Straße in den nächsten Ort überfiel. Irgendwer musste sie erkannt haben und hegte wohl einigen Groll gegen sie oder ihre Familie. Denn mich kennt hier niemand und ich bin auch nicht bedeutend genug um wichtige Feinde zu haben. Wir wohnten in der gleichen Straße wo auch das Bordell steht. Vielleicht dachte der Besitzer, sie sei eine Wanderhure und ich ihr Aufpasser, weil sie manchmal etwas aufreizend gekleidet war. Aber das sind nur solche Gedanken, die mir im Schädel herumgeistern um eine Antwort zu suchen.“

„Warum gehst du nicht einfach zurück in deine Heimat?“, wundert sich der Gast.

„Würde ich ja gern“, gibt der verglichen mit Matthias noch einsamere und verlorenere Gastgeber zu, „aber am Grenzübergang sucht man bestimmt nach mir und bis das ein wenig verflogen ist und mein Gesicht nicht mehr wichtig genug, bleib ich vorerst hier.“

Der Fremde muss sich erst wieder an die eigentliche Frage erinnern, bevor er weiter spricht:

„Du wolltest etwas über die Stadt wissen? Sie stinkt! Und zwar nicht nur in den Straßen sondern auch vor Bestechlichkeit und Verderbnis. Hinter dem nächsten Berg, ungefähr in der Richtung aus der du kamst, lebt ein Einsiedler. Keine Ahnung wie er heißt oder was er macht. Aber er ist den Herren der Stadtverwaltung wohl ein Dorn im Auge und daher haben sie beschlossen ihn loszuwerden. Ein Spion wurde zu ihm geschickt um herauszufinden, was er über die Mine weiß, die dem Schulzen gehört und weiter unten liegt, ein paar Wegstunden.“

‚Ha! Ein paar Wegstunden’, denkt sich Matthias. ‚Wohl eher Wegtage!’

„Und wenn der arme Teufel zu viel weiß, soll er von dem Spion gleich beseitigt werden“, fährt der Einsame fort. Da wird Matthias hellhörig und erkundigt sich sogleich:

„Woher weißt du das so genau?“

„Im Knast wird viel erzählt“, plaudert der, der es wissen muss, „Und meistens ist es die Wahrheit. Da drinnen hat man nicht viel Abwechslung und auch nicht viel zu erzählen. Die Wärter werden nicht gut bezahlt und sitzen auch nur auf der anderen Seite des Gitters den halben Tag herum, wie wir auch die andere Hälfte dort sitzen. Da kriegt man so einiges mit.“

Das bedeutet, der Spion muss schon bei Niklas sein und außer Elli war nur Georg bei ihm. Natürlich, deswegen hatte dieser Besudler des guten Namens eines Wildners auch nicht auf ihn am Minenausgang gewartet! Jetzt versteht Matthias: Er durfte niemandem vertrauen, der von hier ist, also auch nicht Georg, der ihm das gesagt hatte. So ein Halunke! Andererseits, vielleicht war er ja auch nicht von hier und hatte mit seinen Denunziationen nur die Einheimischen gemeint? Oder man darf nicht alles so ernst nehmen und er hatte es nur überspitzt dargestellt um Matthias zu warnen. Nun, hier würde ihm so schnell jedenfalls niemand wieder die Gelegenheit bieten diese Thesen zu überprüfen, denn zu selten konnte man jemanden in der Umgebung treffen. Jedenfalls aber muss jemand der Sache mit dem Verrat nachgehen und weil er das im Moment nicht selbst machen kann, scheint dieser Fremde hier ideal dafür geeignet zu sein. Auch wenn der Gast dem Gastgeber nicht traut, da sich schon Georg als mutmaßlicher Verräter herausgestellt hat, setzt Matthias dem Gesetzesflüchtling doch einen Anreiz entgegen und erklärt ihm daher seinen Plan. Dann fügt er noch hinzu:

„Wenn du Niklas hilfst, kannst du davon ausgehen, dass er dich zurück in deine Heimat bringt.“

„Das kannst du wissen!“, zeigt sich der Fremde überzeugt, „Dieser Niklas scheint ein ganz anständiger Bursche zu sein, und wenn dieser verrottende Köter eines Schwurgerichtsvorstehers mit Namen Georg mich auch versuchte in die ewigen Jagdgründe zu schicken, will ich ihm nun den Weg dorthin zeigen.“

Die Zeit drängt nun und für Matthias bleibt keine Zeit sich lang auszuruhen. Aus zwei Stöcken lassen sich einfach ein Paar Krücken für sein lädiertes Bein basteln und der Weg führt von hier aus gemächlich durchs Gebirge und den Vorwald hinunter bis nach Bergheim, während der Fremde sich zu Niklas aufmacht, allerdings auf einem einfacheren Pfad als Matthias’ Krepelweg.

Obwohl es bereits seit einigen Wochen Winter geworden war, scheint nach Bergheim noch lang der Herbst geherrscht zu haben. Wenig ist hier verschneit und einige Bäume tragen noch das bunte Blätterkleid, nur spätherbstlich ungemütlich und stark durchnässt. Auf einer raddurchfurchten Straße kann er von der Zollstation aus gut reisen, selbst mit seinem immer noch geschwollenen Bein. Schutz in Jagdhütten gibt es reichlich und so muss er sich nicht beeilen die Stadt zu erreichen. Im Grunde liegt dieser Ort freilich ganz hübsch, von hier aus gesehen, am Fuß der hohen Berge, umgeben von mittleren Höhenzügen.

Nach knapp drei Tagen erblickt er schließlich doch das Stadttor, zum späten Nachmittag, als die Sonne schon der Dunkelheit Platz macht und die ersten Arbeiter sich zum abendlichen Trunk in den Gasthäusern zusammen finden. Es ist seine erste Anlaufstelle, denn an den Tischen hört man immer die meisten Neuigkeiten, ohne aufdringlich fragen zu müssen. Einem Auswärtigen würde man hier sowieso nichts auf die Nase binden, schon gar nicht bei dem fragwürdigen Ruf dieser Bewohner. Aber manchmal täuscht auch der Eindruck der Herrschenden über die schaffende Bevölkerung hinweg. Auch bei dem letzten Fremden hatte sich Matthias getäuscht und wer, wie die Leute hier, an aus Fässern gezimmerten Tischen auf morschen Holzbretter sitzt und sich schales Bier als Feierabendtrost einverleibt, der hat nicht viel mit den Herrschenden zu schaffen. Daher merkt Matthias umso lieber unter jenen einfachen Menschen zu weilen als er zuvor noch befürchtet hatte und ist froh endlich wieder in eine Gemeinde zu kommen. So ganz allein ständig im Wald zu leben ist eben doch nichts mehr für ihn, vor allem, da er die letzten Jahre in der Dorfgemeinschaft zugebracht hat.

Der Verdruss über den Schulzen spricht an diesen Tischen aus jedes armen Mannes Wort. Aber so lange er auch an verschiedenen Fässern lauscht, scheint doch niemand eine Ahnung zu haben, was wirklich vor sich geht. Also bricht er auf, um die Straßen zu erkunden und eine Herberge für die Nacht zu finden.

Als er von Weitem Stimmen aus der Kirche vernimmt, mitten in der sonst nachtschlafenden Stadt, zieht es ihn aus Bedürfnis nach Geselligkeit dorthin. Trotz seiner wenig starken Begeisterung für geistliche Belange setzt er sich leise zum Gottesdienst dazu und spürt die Erhabenheit um ihn herum. Die hohen Wände und die dicken Säulen erinnern ihn nun auch an einen Wald, dessen Äste das Kronendach über ihm tragen, mit feinen Verstrebungen bis ins raffiniert verzweigte Blattwerk hinauf. Der Himmel selbst wird verdeckt, doch lassen des Tages die Sonnenstrahlen durch die Fenster erahnen, wie sie sich ihren Weg durch den dichten Buchenbestand mühsam suchen müssen und morgens im Nebel den Blick verzaubern, der hier vom Weihrauch nachgeahmt wird. Wie zwischen den Bäumen auch ist die Umgebung in der Kirche angenehm temperiert, im Sommer kühl, im Winter mild und der Klang jedes Geräusches entfaltet sich in jeden Winkel. So kann er in dieser Stimmung nachvollziehen wie die Menschen sich dem Glauben hingeben können und sich sogar darauf freuen die Messe mitzuerleben. Für einige mag es die einzige Zusammenkunft derart vieler Menschen sein und der Einklang des Chores erhellt die Seele, ja lässt die eigene Zugehörigkeit zur seligen Ewigkeit des Paradieses erhoffen oder zeigt zumindest schon einmal ein Stück davon vor dem geistigen Auge: die mächtigen Stimmen lassen einen selbst klein erscheinen. Mit der Kraft vereinten Gleichklanges vieler Stimmen scheinen sie einen höheren Willen zu verkünden. Matthias fragt sich dabei, wie es wohl hinter der sichtbaren Talaren-Maskerade der Pfarrer aussehen mag, ob die Priester selbst von ihrem Prozedere ergriffen sind, über das, was sie da hören oder ob sie es bewusst inszenieren um das einfache Volk zu beherrschen. Meist wissen die Kirchenleute auch um das Geschehen in der Gemeinde am besten Bescheid. Daher beschließt er den Pfarrer nach der Vorführung gezielt aufzusuchen, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

„Einen schönen guten Abend, Pater. Neulich musste ich zur Mine in den Bergen hoch um dort eine Sache zu erledigen und da sah ich ein paar arme Kerle wie Sklaven gehalten schuften. Verzeihen Sie, falls ich Sie umsonst damit belästige, aber meinen Sie ich sollte das dem Richter melden?“, beginnt der späte Gast unschuldig naiv den Heiligen Mitarbeiter anzusprechen. Die Krücken unterstreichen Matthias‘ Unschuld in diesem Falle und lassen ihn hilflos wirken. Der Pfarrer sieht verdutzt aus und weiß nicht so recht etwas mit diesem Anliegen anzufangen, besinnt sich aber schließlich darauf eine nichtssagende Antwort zu geben, wie es seinesgleichen gut zu Gesichte steht:

„Das musst du mit Gott ausmachen. Wenn es dein Bestreben ist diesen Menschen zu helfen, dann gehe zum Richter.“

Aber Matthias setzt nach:

„Sehen Sie“, führt das gräuliche Schäfchen aus, „deswegen kam ich zuerst zu Ihnen, Heiliger Vater. Denn ich fürchte vom Richter als Mittäter diffamiert zu werden oder gar des Rufmords gegen den werten Herrn Minenbesitzer. Ich glaubte – nein: ich hoffte, vielleicht könnten Sie mir den richtigen Weg weisen um mich nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu bringen.“

Der mehr oder weniger gute Hirte zieht eine Braue zu anderen und meint dann:

„Das ist ein lobenswerter Gedanke, mein Sohn. Vielleicht wartest du besser noch mit dieser schwerwiegenden Anklage bis du mehr Beweise vorlegen kannst. Begib dich aber nicht in unnötige Gefahr für dieses Unterfangen. Eine gute Nacht wünsche ich.“

Dieser Gotteskerl ist gerissen. Er lässt seine Meinung nicht durchblicken, aber als Matthias über die gewechselten Worte nachdenkt, fällt ihm auf, dass der Pfaffe von Gefahr gesprochen hat und davor warnte. Offensichtlich kennt er die Machenschaften hier und fürchtet sich sogar davor Genaueres zu offenbaren. Oder er weiß wirklich nicht viel und ist nur weise genug niemanden zu Unrecht zu beschuldigen? Nein, die Kirchenleutchen sind immer eingeweiht in die Stadtgeschäfte. Er muss also etwas wissen. Nur ist die Gelegenheit es ihm zu entlocken jetzt vergeben. Vielleicht lässt es sich woanders ansetzen, wo man näher dran ist an den Bütteln der Stadt und freigiebiger mit Auskünften, vielleicht sogar gegen Bezahlung. In dieser Gedankenkombination fällt ihm nur das Freudenhaus ein. Auch wenn es ihn nicht nach Triebbefriedigung gelüstet, denn in seinem fortgeschritteneren Alter kann man das mittlerweile auch eine ganze Zeit lang kontrollieren. Aber wer so despotisch mit seinen Arbeitern umgeht, wird das auch bei bezahlten Frauen tun – oder hat Männer um sich geschart, die ihm in seinem Verhalten nacheifern und ihre Knute an die Schwächeren weiterreichen. So sehr er das auch zu seinem Vorteil ausnutzen kann, fehlt ihm doch momentan noch das Geld für seinen Plan. Gerade wer Angst hat muss umso besser bezahlt werden, sofern man nicht hoffen kann den Peiniger ganz und gar los zu werden. Das aber kann Matthias den Freudenfrauen nicht versprechen, zumindest noch nicht.

Darum sucht er zunächst das Etablissement der Begierde und das ist nicht schwer getan. Einige Stunden des Wartens reichen schon und er kann den angetrunkenen Freiern nachlaufen um ins entsprechende Viertel zu gelangen. Heute Abend jedoch ist zu viel Betrieb für ein „richtiges“ Gespräch unter vier Augen und die Nacht ist zu kalt, um in einer Scheune nahe den Stadttoren zu schlafen. Daher gönnt er sich von den letzten Hellern noch eine weiche Ruhestätte für den Geist und etwas bissfeste Arbeit für den Magen.

Der restliche Kanten Brot muss auch für den Morgen noch reichen, bevor er sich bei den Dirnen nebenan als Hauswart bewirbt. Der Winter ist kalt und so kann er ihnen klar machen, dass sie mehr Feuerholz brauchen, besonders für die molligen Stunden der Nacht. Als er dann noch die eine oder andere morsche Treppenstufe bemängelt und ein paar Vorschläge für Umbauten anbringt, hat er kurze Zeit später eine Festanstellung in der Tasche und damit das Vertrauen der Frauen gleich dazu. Zudem kann er seine Verletzung auskurieren. So vergehen ein paar Tage, in denen er Erkundigungen anstellt und ein paar Ausbesserungsarbeiten nebenbei erledigt. Viele der Mädchen freuen sich über ein wenig „normale“ Unterhaltung nach getaner Arbeit und glauben auch nicht, dass er ihnen als einfacher Hauswart mit dem ausgeplauderten Wissen schaden könnte. Aber der Herr Bürgermeister und Minenvorsteher lässt sich nicht blicken. Als Matthias eine der Schaffenden darauf anspricht, kommt heraus, dass von Degenhardt seine eigene Mätresse ernährt. An die muss er herankommen, auch wenn er noch keine Vorstellung davon hat, wie das gehen könnte. Denn das Bordell unterhält keine Verbindungen zu freischaffenden Mädchen.

Beim abendlichen Zimmern an der Einrichtung kommt ihm der Gedanke, dass sich allerdings ein ähnliches Spiel spielen ließe wie mit den Minenarbeitern: nämlich Niklas als Köder zu benutzen um von Degenhardt gleichzeitig eine falsche Fährte zu legen und dessen Vertrauen zu gewinnen. Daher lässt er eines der Mädchen einem Schergen des Schulzen stecken, es gäbe etwas Neues über die Machenschaften des einsiedlerischen Niklas zu erfahren. Keinen halben Tag später erhält der Freudenhausmeister eine Audienz im Stadtratshof. Nach kurzer Erklärung seiner Person und seiner Reisen, die durchaus wahrhaftig von Matthias geschildert werden - wobei natürlich die Geschichte um die Minenerfahrung bewusst verschwiegen bleibt - heuchelt er Misstrauen dem Kräuterkundler Niklas gegenüber:

„Seine Medizin und Ratschläge haben uns nicht geholfen. Anfangs schien es besser zu werden, aber dann zogen noch schlimmere Seuchen über unser armes Dorf her und daher nahm ich den weiten Weg auf mich um diesen Quacksalber noch einmal um Rat zu fragen. Der aber lachte nur und wies mich mit dem Vorwand ab, er hätte sich eben geirrt. Wenn ich ihm seinen sogenannten Rat doch nur vergelten könnte!“

Jedes Wort entspricht noch immer der Wahrheit, doch mit entsprechend ironischem Ton vorgetragen hört es sich wie eine Wutrede an.

Noch unentschlossen, aber ruhig, sitzt der Minenvorsteher von Degenhardt auf seinem thronartigen Sessel. Auf seinen linken Arm gestützt sieht er etwas gelangweilt aus oder nachdenklich, bis er eine andere Gefühlswelt offenbart:

„Solche Worte habe ich schon einmal gehört. Der Wildhüter Georg hatte mir seine Dienste angeboten um sich ebenfalls an diesem Niklas zu rächen. Er leistet mir auch ganz gute Dienste, hat ein paar Nichtsnutze aus der Stadt gejagt und mir einige unangenehme ‚Geschäfte’ erledigt.“

Matthias horchte auf. Dann hatte er also doch Recht gehabt in Bezug auf Georg. Deshalb nutzte er diese Geschichte gleich um seine Absicht zu bekräftigen:

„Seht Ihr! Ich bin nicht der einzige, der so denkt.“

„Aber nun“, wirft der Thronbesetzer sofort ein, „habe ich immer mehr Grund zu der Annahme, dass der Wildhüter mit Niklas eine gemeinsame Sache macht. Meine Mine hat einige Probleme und in den letzten Tagen hat sich ein Schwindler als mein Stellvertreter erklärt und falsche Anweisungen gegeben.“

„Das muss dieser Georg gewesen sein“, lenkt Matthias schnell ein, um die plötzliche Wendung des Gespräches zu kommentieren, „Er war auch bei Niklas im Haus und hatte von solchen Ereignissen gesprochen.“

„Außerdem hat es vor einer guten Woche ein schweres Unglück in den Schächten gegeben“, fährt der adlige Zweifler fort, „Irgendwo in den Bergen muss ein Wall gebrochen sein und das Eiswasser hat die Stollen geflutet. Dutzende meiner Männer sind ersoffen! Sogar die so genannte unterirdische ‚Hölle’ ist vollgelaufen – eine enorme Erzlagerstätte! Wir haben mittlerweile den tiefsten Winter, dort oben ganz besonders. Das kann nicht einfach so passiert sein.“ Von einem Unglück hat Matthias gehört, aber niemand in der Stadt weiß etwas Genaues darüber. Er selbst kann sich nicht vorstellen, wie das passiert sein könnte. Schließlich war er weit oberhalb der Mine gerade im Hochtal unterwegs gewesen. Wo soll denn da Wasser herkommen?

„Du sagst also, Niklas sei dir bekannt und du hättest mehr oder weniger sein Vertrauen?“, hakt von Degenhardt nach.

„Das würde ich sagen, ja“, bekräftigt der neue Hofknecht diese Worte.

„Dann machst du folgendes“, beschließt von Degenhardt, „Du gehst zu ihm und sagst, dass meine Männer meutern wollen. Sie hätten die Arbeitsbedingungen leid und bräuchten nur einen Anführer, der sich unparteiisch als Anführer des Aufruhrs der verschiedenen Gruppierungen annehmen würde. Wenn er dann mit den Aufwieglern vor dem Rathaus steht, nehmen wir ihn wegen Volksverhetzung fest. Der Richter ist auf meiner Seite und du hättest deine Genugtuung. Außerdem würde für dich eine hübsche Anstellung als Vorarbeiter in der Mine herausspringen. Du sagst du seist Hauswart im Bordell? Das ist nicht gerade eine ehrenwerte Arbeit. Aber einen gelernten Zimmermann kann ich als erfahrenen Schichtleiter für die Stützbauten brauchen und wenn du dich bewährst, so nach ein, zwei Jahren, springt vielleicht auch ein Verwalterposten hier in der Stadt für dich dabei raus.“

Der Haifisch ist also auf den Köder eingegangen, die nächste Falle kann aufgestellt werden. ‚Soweit so gut’, denkt sich Matthias beim Verlassen des Stadtratshofes, ‚aber wie kann der Richter überzeugt werden die Rebellion zuzulassen? Vielleicht wüsste Niklas Rat.’

Immerhin hat Matthias als neuer Scherge des Schulzen und Nachfolger von Georg nun die offizielle Erlaubnis, ja sogar den Befehl diesen Bergseemann aufzusuchen und ihn bezüglich der Stollenflutung zur Rede zu stellen.

Viel Aufwand für Reisevorbereitungen müssen dabei gar nicht betrieben werden, denn der ehemalige Scheinverräter ist gerade wieder zurück: Georg, der Wildner hat sich des Abends in die Stadt geschlichen und ist zunächst untergetaucht. Die Freudenmädchen wissen freilich schon Bescheid. Wer einmal in der Stadt bekannt ist kommt auch nicht unerkannt durch ihre Gassen. Daher sucht ihn Matthias sogleich noch in selbiger Nacht auf um sich mit ihm zu beraten.

„Grüße dich, alter Freund“, hält er Georg freundliche Worte entgegen; denn auch wenn dessen Rolle in diesem Spiel noch nicht ganz klar ist, wird eine wohlwollende Art und Weise der Unterredung doch noch die beste Form sein, „Ich wollte mich schon zu Niklas aufmachen und mit ihm über die Minenangelegenheiten sprechen. Aber nun, da du hier bist, hoffe ich den Weg sparen zu können.“

Ein wenig überrascht darüber, dass Matthias immer noch hier weilt und ihn auch sogleich gefunden hat, bittet Georg diesen schnell herein und erklärt:

„Ich weiß nicht, wie du so rasch über meine Ankunft Bescheid weißt, aber wenn du es weißt, spricht sich das auch bei anderen geschwind herum. Daher müssen wir vorsichtig mit dem sein, was wir sagen.“

„Nun gut“, flüstert also Matthias, „weshalb bist du zurückgekehrt? Ich hörte von Degenhardt, du hättest ihn jüngst verraten. Hast du mit Niklas einen Plan ausgeheckt?“

Der Wildhüter zögert zunächst, misstrauisch gegenüber jeglichen Personen in diesem Ort. Dann erinnert er sich der gemeinsamen Zeit in den Bergen und dem Vertrauen, das Niklas diesem fremden Zimmermanne geschenkt hatte und weiht ihn ein:

„In der Tat, so ist es. Wir haben nicht viel Zeit, denn die Minenarbeiter haben sich inzwischen selbst organisiert. Als du fort warst hörten wir einer Rebellion in den Stollen, wohl angefacht durch dein Auftreten als von Degenhardts falscher Stellvertreter.“

Da hatte Matthias wohl wieder einmal mehr losgetreten als er sich vorstellen konnte, als Georg weiter berichtete:

„Als dann vor kurzem noch der Wassereinbruch kam und die restlichen Arbeiter jämmerlich in den Schächten umkamen, wie du vielleicht schon gehört hast, wurde der Mob nur noch mehr angeheizt gegen von Degenhardt zu revoltieren. Nun sind sie bereits auf dem Weg hierher oder haben sich schon im Untergrund formiert. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie vor dem Stadtratshof stehen und von Degenhardt lynchen wollen.“

„Na das kann doch nur gut für uns sein“, lehnt sich der neue Verräter des Meiers entspannt zurück, als er seinen Auftrag bereits erledigt sieht.

„So weit wird es aber nicht kommen“, fürchtet der Unglücksüberbringer, „Degenhardt kann Tage, Wochen ausharren, in denen seine Lakaien Dutzende Arbeiter meucheln. Während hier also der Bürgerkrieg ausbricht, holen seine Leute Verstärkung vom Landesfürsten und überrennen die Stadt. Wenn der Regent aber erst einmal einen Statthalter als legitim eingesetzt hat, wird der so schnell nicht mehr weichen oder abgesetzt werden können. Das müssen wir von Grund auf verhindern!“

„Wir könnten von Degenhardts Boten abfangen“, schlägt Matthias eilig vor, „Du kennst doch bestimmt die Hintertüren?“

„Nein, das wird anders laufen“, bestimmt Niklas’ Gefolgsmann, „Wir werden ganz und gar verhindern, dass dieser sogenannte Bürgermeister irgendeine Maßnahme ergreifen kann. Einst habe ich das Siegel des Herzogs aus einem Wachsabdruck eines Briefes kopiert. Das war gar nicht so einfach! Aber dadurch können wir von Degenhardt durch den Herzog festsetzen lassen. Den Fürsten interessiert ohnehin nicht, was hier passiert, solange es seine Interessen nicht gefährdet.“

Der ehemalige Berater des Meiers überlegt kurz und spricht dann dessen neuen Vertrauten:

„Da du ja momentan zu seinen Vertrauten gehörst, kannst du auch den Wachen anordnen den Boten in Ketten zu legen.“

„Du überschätzt meinen Einfluss. Soweit reicht es bei von Degenhardt noch nicht. Er meinte nur, du seist zu Niklas übergelaufen, hättest ihn verraten und würdest eine Rebellion gegen ihn anführen“, räumt Matthias ein.

„Womit er auch nicht Unrecht hat. Und wir können das nutzen, indem du mich ihm auslieferst“, schlägt Georg vor, „Dadurch gewinnst du sein Vertrauen und er fühlt sich bestätigt.“

Dabei packt der designierte Neumeier beinahe ehrfürchtig das Ersatzsiegel aus seiner Ummantelung um den Wachsabdruck zu erzeugen. Die restlichen Stunden vergehen mit Vorbereitungen der Gegenintrige zur Gegenintrige – oder was das auch immer jetzt schon ist und mit viel zu wenig Schlaf.

Gleich früh morgens zerrt Matthias den tatsächlichen Verräter in den Stadtratshof und präsentiert seine Zuverlässigkeit mit den Worten:

„Wie gewünscht: hier kniet der Strolch.“

Grummelnd sitzt Georg auf dem Holzplankenboden und blickt missmutig zu von Degenhardt, bis er sich verteidigt:

„Was sich dieser Knilch hier erlaubt ist entwürdigend! Da komme ich entkräftet von einer wochenlangen Außenmission zurück und muss mir so etwas bieten lassen.“

„Er hat versucht die Arbeiter gegen Euch aufzuwiegeln, Herr von Degenhardt. Wie Ihr vermutet habt“, bringt Matthias die einstudierte Anschuldigung vor, „Ich habe ihn gerade dort in einem Kellerraum darüber reden hören. Dann folgte ich ihm und überwältigte ihn ohne zu Zaudern.“

„Nur dass er keinen Schimmer davon hat, was wir dort besprochen haben!“, wobei Georg von von Degenhardt unterbrochen wird:

„Genug jetzt! Der vormalige Stadtrat wird einstweilen in Gewahrsam genommen, bis der Sachverhalt geklärt ist“, womit er sich Matthias zuwendet, „Und du bringst mir diese Dissidenten. Jetzt weißt du ja, wo sie sich aufhalten. Nimm dir ein paar Männer und räuchre das Pack endgültig aus.“

Dies ist eine neue Wendung, die Matthias jedoch kontern kann:

„Das Treffen ist mittlerweile vorbei und die Rebellen haben sich wieder verstreut. Nun müssen wir wieder warten, bis sie sich erneut treffen.“

Von Degenhardt schickt Georg mit ein paar Wachen fort. Dann spricht er zu seinem neuen Schützling:

„Wir lassen ihn alsbald frei und du heftest dich an seine Fersen. Danach kriegst du raus, wo sie sich treffen und schickst sofort nach meinen Leuten. Und dann haben wir sie im Sack!“

„Wird dieser Kerl nicht Verdacht schöpfen?“, wirft Matthias gespielt sorgenvoll ein.

„Dem Richter fällt schon etwas Fadenscheiniges ein um ihn laufen lassen zu müssen. Sorg dich nicht um fremder Menschen Probleme und du wirst selbst keine Probleme bekommen“, lautet der unterschwellige Aufruf zum Opportunismus des obersten Ortspolitikers.

Bevor dessen Pläne in die Tat umgesetzt werden, muss Matthias nun aber die Arbeiter tatsächlich ausfindig machen und sicherstellen, dass sie auch rechtzeitig rebellieren. Die beste Revolution nützt nichts, wenn sie zur falschen Zeit stattfindet. Solch ein Umsturz will sorgfältig geplant sein. Und was eignet sich dafür besser als die Wehrkirche zur Versammlung einzuberufen? Von Georg bekam er einige Namen, zu denen nun die Männer gesucht werden und die zum Feierabend in die Gewölbe zu bestellen sind. Einige Mühe bereitet es ihm die Arbeiter davon zu überzeugen ihn vorerst als ihren obersten Sprecher anzuerkennen und ihnen den nicht ganz einfachen Plan zu erläutern.

„Ihr kennt doch alle Niklas, der oben in den Bergen wohnt, nicht weit von der Mine“, versucht es der Aufwiegler.

„Der had‘doch diesen Vorbrecher von Wildhieter bei‘s‘ch oofjenomm‘!“, ruft jemand dazwischen. Normalerweise würde Matthias das unkommentiert lassen, aber unter diesen Umständen muss er wohl erst einmal Aufklärungsarbeit leisten:

„Georg ist ein ehrenwerter Mann, der auf unserer Seite steht und sich nur mit von Degenhardt eingelassen hat um dessen Vertrauen zu gewinnen.“

„Ja, ja, das ham‘mor schon’e‘malle jeheert. So hat’s‘ch schon mancheener spätter rousjeredet!“, kriegt der Redner aus einer anderen Ecke zu hören. Jede Widerrede provoziert eben auch ihre eigenen Nachfolger. Umso bessere Argumente braucht es da um doch noch zu überzeugen. Oder Redekunst:

„Ihr wollt doch von Degenhardt loswerden und eure Arbeit dennoch behalten?“, fordert Matthias daher Zustimmung ein. Murmeln und Nicken ist die Antwort, „Schön. Er will euch aber knebeln und ausbeuten. Deswegen hat er auch schon mit dem Richter ein Bündnis geschmiedet das euch entweder euer Leben kostet oder wieder zurück in die Mine zwingt, aber dann unter noch schlechteren Bedingungen. Wenn ich euch nicht helfen wollte, würde ich das gar nicht erzählen.“

„Woher weischt de‘ das denn, bitte?“, ertönt noch ein letzter Versuch des Aufruhrs gegen den Aufrührer. Die letzten Worte der Überzeugung folgen sogleich:

„Weil ich mit Georg sprach und wir zusammen mit Niklas nun ein Plan ausgearbeitet haben um diesen himmelschreienden Vorsteher endgültig abzusetzen.“

Beifall erklingt nun, wenn auch zaghaft. Der fremde Gönner fährt fort:

„Wir haben ein Dekret verfasst, dass den Schulzen und Minenbesitzer von Degenhardt des Amtes enthebt und einen neuen Vorsteher dafür einsetzt. Für’s Erste würde ich Georg vorschlagen, für den Fall, dass wir uns jetzt noch nicht auf jemand anderen einigen können.“

Das Raunen unter den Arbeitern nimmt nun zu und ein anderer Mann steht auf, der bis jetzt nur still zugehört hat und beginnt:

„Wie wollt ihr dieses Dekret autorisieren? Der Herzog hat sich noch nie um unsere Stadt gekümmert und wenn, dann würde er wohl kaum einem einfachen Arbeiter den Vorstand überlassen!“

Matthias muss daher mit den Einzelheiten rausrücken:

„Nun, da die Zeit drängt und keine weitere Unterstützung zu bekommen war, haben wir das Siegel des Herzogs neu geprägt uns dadurch zu legitimieren.“

„Na schöne‘ Dangk,“ wettert nun der Mann vor ihm, „wenn der Regent also spitze gett, was hier g‘laufe ischt, könn‘ mir uns mitsamt uns‘re Familie‘ selbscht aus der Schtadt jage‘!“

Protest begleitet jetzt seinen Zorn. Matthias muss nun deutlicher werden, um hier noch zu bestehen:

„Du hast doch selbst gerade gesagt, dass der Herzog sich nicht um eure Stadt schert. Wenn er dennoch eingreifen würde, wäret ihr so oder so wieder unter das Joch eines unbarmherzigen Herrn geknebelt. Einen kleinen Kniff müssen wir also anwenden. Wenn ihr euch darauf einig werdet, wer euch anführen soll, könnt ihr gerne auch in althergebrachter Weise wie bei den alten Griechen jemanden aus euren eigenen Reihen jetzt gleich und demokratisch ersehen. Aber wir müssen noch heute Abend gen Stadtratshof ziehen um von Degenhardt rechtzeitig zu stellen!“

Die Meute beginnt Jasper zu rufen, vermutlich der Name des Mannes, der gerade auf Augenhöhe mit Matthias steht.

‚Na was für ein wahnsinnig demokratischer Akt’, denkt dieser sich noch sarkastisch, als auch schon ein Anführer gewählt ist und von Degenhardts scheinbarer Lakai fast entnervt fortfährt:

„Gut, wenn das jetzt geklärt ist, bewaffnet ihr euch am besten mit allem, was ihr finden könnt und trefft euch Schlag elf vor dem Rathaus. Ich werde alles soweit regeln, dass ihr auch reinkommt und dann müssen wir die Wachen ausschalten, um von Degenhardt endlich festzusetzen. Bis dann.“

Und zu Jasper spricht er:

„Als ihr neuer Vorsteher musst du Anweisungen erlassen und Männer zuordnen, die die patrouillierenden Wachen jetzt schon abfangen und die restlichen später in Gewahrsam nehmen. Wir können es nicht riskieren auch nur einen seiner Leute entkommen zu lassen, bevor uns nicht die restliche Gemeinde wohl gesonnen ist. Später dann werden wir die Hintergründe von Degenhardts und der Mine aufdecken und gleichzeitig einen neuen Bürgermeister zur Wahl stellen. Georg wird auch antreten, aber wenn es jemand anderes wird, ist er bestimmt nicht böse drum. Dann fragt jedenfalls niemand mehr nach dem Schicksal des alten Schulzen.“

Jasper scheint einverstanden damit zu sein. Deshalb verschwindet Matthias in Richtung Stadtratshof um dort völlig unschuldig zu geben und die Ankunft des wütenden Mob vorzubereiten. Er lässt die meisten Wachposten gegen elf im Saal zusammenkommen und als die Arbeiter nun lauthals auf dem Marktplatz vor dem Rathaus stehen, schließt er hinter den Wachen ab und tritt anscheinend schlichtend vor die schweren Holztore. Zu einem der beiden Wächter spricht er:

„Eile zum Bürgermeister und sag ihm, er solle bloß nicht runterkommen“, denn die Gefahr über dessen Flucht ist noch immer nicht gebannt, „Dann kommst du so geschwind wieder, wie du nur kannst.“

Währenddessen steht nur noch ein einzelner Posten einigen Dutzend Minenarbeitern gegenüber und leistet daher keinen Widerstand mehr. Zu von Degenhardt ist es nun nicht mehr weit, als der Wachposten zurückkehrt und den Tumult im Hofe sieht. Rasch hat er die anderen Kameraden aus dem Saal befreit, doch als der erste von ihnen durch eine Spitzhacke eines wütenden Kumpel getroffen wird und die anderen Wachen den rasenden Gegner erspähen, ergeben sie sich auch schnell in ihr Schicksal. Zumal sie es nicht einsehen für von Degenhardt ihr Leben zu lassen. Dieser hat sich auch fast schon aus dem Staube gemacht, als Matthias mit Jasper und ein paar unterstützenden Schächtnern in seinem Gemach eintrifft. Nur seine Mätresse liegt noch halbnackt im edlen Ehebett, sichtlich verängstigt. von Degenhardt dagegen hängt schon beinahe aus dem Fenster, kann sich wohl aber nicht entschließen den Sprung in die Tiefe zu wagen und lässt sich daher von Jasper selbst wieder herunterzerren und die Eisen anlegen, vermag aber seinen Ärger nicht zurückzuhalten:

„Euch Pack hätte ich nie vertrauen sollen! Wertloser Pöbel seid ihr, allesamt!“, wofür er allerdings Hiebe kassiert. Matthias liest ihm gerade den gefälschten herzoglichen Befehl vor und zeigt noch auf das Siegel sowie eine Unterschrift, die genauso gut von jedem stammen könnte, der des Schreibens mächtig ist, als er hinaus geschleift wird um gegen Georg in dessen Zelle ausgetauscht zu werden. Schnell und fast lautlos geht die Angelegenheit über die Bühne, so dass niemand in der Nachbarschaft viel Aufhebens mitbekommen hat und als Jasper schon wieder fort ist, bleibt Matthias noch bei der Mätresse, um sie sich vorzunehmen. Natürlich begehrt er nicht die gleichen Dienste wie noch der letzte Mann einige Minuten zuvor. Eher ist ihm an Auskünften gelegen, denn solcherlei Edelhuren kommen viel bei Hofe herum und erfahren so mancherlei nützliche Dinge.

„Mein Kind, du bist hier in eine Sache hineingeraten, die dich leicht schlimmer hätte schädigen können“, versucht er ihr Angst zu machen, während er sie mit einem beruhigenden Tonfall umsorgt. Denn sie ist die einzige Zeugin dieses gerade passierten Geschehens. „Wenn du dir nicht auch noch den Zorn der hiesigen Dirnen zuziehen willst, sei dir dringend geraten mit niemandem über den jüngsten Vorfall zu reden. Sag mir doch wenigstens, wer dich her gesandt hat oder mit wem du dich sonst besprichst. Dann kann ich für dich vielleicht eine sichere Abreise organisieren.“

„Bitte, erwähnt nichts meiner Gebieterin gegenüber. Ich sollte ihr eigentlich berichten, was von Degenhardt plant, damit sie die Stadt weiterhin kontrollieren kann“, verrät das junge Fräulein zitternd die Absicht ihrer Auftraggeberin, „Der Herzog selbst hatte das angeordnet und mich dafür schweren Herzens freigestellt. Immerhin war ich zuvor seine liebste Geliebte gewesen. Doch widrige Umstände zwangen ihn zu dieser Unternehmung. Die Herrin hat wohl mit ihm ein ernstes Wort gesprochen und wenn sie jetzt eine andere Möglichkeit finden muss, wird sie mich wohl hart dafür bestrafen.“

Anscheinend stehen noch andere Interessen hinter all dem und nun ist die stempelfrische Herrschaftsordnung Bergheims schon wieder in Gefahr. Denn der Fürst interessiert sich eben doch für die Belange der Stadt und wird es wohl nicht gutheißen sie in den Händen des einfachen Volkes zu wähnen. Aber auch eine neue Konkurrentin zu Elli hat sich wohl in diesen Landen etabliert. Oder wohl eher eine Nachfolgerin, denn Elli wird wohl aus dem Geschäft ausgestiegen sein, jetzt da sie mit Niklas in den Bergen lebt – falls das nicht zu ihrer Tarnung dazu gehört.

„Nein, wir werden uns direkt mit deiner Herrin in Verbindung setzen. Lass uns nur machen, auch wir haben unsere Leute in wichtigen Positionen sitzen“, entgegnet Matthias, wobei er an eine Widerbelebung von Ellis Beziehungen denkt.

Mittlerweile ist Georg hinauf gekommen. Er rät dazu Jasper vielleicht auch noch mit einem künstlichen Adelstitel als Statthalter zu besiegeln, da man ohnehin schon dieses Briefzeichen parat hat. Aber wohl fühlt sich Matthias bei diesem spontanen Gedanken nicht, diesem Menschen derart viel Macht einfach so zu überlassen. Womöglich zieht man sich auf diese Weise gleich den nächsten von Degenhardt heran. Dann aber fällt ein Name aus der Mätressen Mund, den er nicht erwartet hat zu hören:

„Magda muss nun aber auch Nachricht davon erhalten. Wenn sie es nicht über euch erfährt, wird sie kaum noch bereit sein zu verhandeln.“

Daraufhin schaut Matthias Georg bedeutungsvoll an und verschwindet wie vom Blitz getroffen hinunter, während er noch hinauf schreit:

„Triff mich in einer Stunde bei dir im Zimmer. Ich habe zu packen!“

Als er dort mit Georg zusammentrifft, meint dieser warnend:

„Weißt du überhaupt, wie sie reagieren wird, sofern ihr euch begegnet?“

„Weiß ich nicht, aber ich kenne sie“, wehrt der Aufgewühlte ab, „Außerdem habe ich eine wichtige Botschaft dabei und bevor ich sie dem Herzog überbringe, lasse ich ihr die Wahl, diese Botschaft als Erste zu hören.“

„Na schön“, lenkt der getreue Verräter ein, „Ich werde in der Zwischenzeit Niklas davon unterrichten und wir werden uns auch mit Betti beraten. Doch brich erst morgen in der Früh auf. Derzeit herrscht noch Durcheinander auf den Straßen um die Stadt und allzu leicht könntest du für den Falschen Verräter gehalten werden, noch dazu des Nachts. Achte derweil auf den Straßen zur Harrburg auf Wegelagerer und darauf niemandem unterwegs bis zu deiner Ankunft in Magdas Kammer davon zu erzählen. Am besten, du nimmst dir eines der Pferde aus den Ställen von Degenhardts und bei Nachfrage hast du den Auftrag es an den Herzog zu überführen. Aber im Moment sollte das niemanden interessieren. Ich wünsche dir eine gute Reise, mein Freund!“

Doch die Rösser interessieren tatsächlich jemanden. Denn am nächsten Morgen bei den Stallungen stehen schon zwei von Jasper ausgesandte Wächter vor den Pforten zu den Pferden, die wohl etwaige Plünderungen verhindern sollen, also genau das, weswegen streng genommen auch Matthias hier ist. Glücklicherweise jedoch erkennt dieser in einem der Männer Manfred, seinen Führer aus der Mine wieder und kann ihn davon überzeugen die Stadt mit Jasper gemeinsam von von Degenhardt befreit zu haben und nun nur sein angeblich eigenes Pferd abholen zu wollen. Trotz der von Jasper eingeführten Meldepflicht für alle benutzten Güter, lässt man Matthias gewähren.

‚Das kann ja heiter werden, wenn dieser neue Schulze jetzt schon derart pedantisch agiert!’, könnte man in Matthias Gedanken lesen, wenn man es denn könnte.

Es sind mehrere Tage bis zur Harrburg – zu Fuß. Hoch zu Ross ist es vielleicht bis zum nächsten Morgen zu schaffen. Einer tatsächlich auflauernden Gesellschaft auf Beute hoffender Banditen reitet er einfach davon und während des normalen Ritts durch die von Schneematsch überzogene Umgebung macht der Rappenreiter sich Gedanken darüber, wie er seiner Magda am besten wieder beikommen kann. Aber ist es denn noch seine Geliebte? Und was unterscheidet sie eigentlich von Elli? Er stellt sich vor, wie Niklas ein liebevoller Liebhaber sein könnte und es fällt ihm schwer. Immerhin weiß er, dass Elli sich unterordnen kann, auch wenn sie meistens dominant erscheint. Wieso sollte sie also in Niklas nicht ihren Gegenpart gefunden haben? Matthias aber kann sich trotz aller Einsicht in ihre Worte nicht damit abfinden sie aufgeben zu müssen, als er sich daran erinnert, wie es war:

‚Zwei Menschen, die sich kennen lernen und sich ohne Schleier zwischen einander verstehen. Keine Missverständnisse, keine Kränkungen, nur Einigkeit, selbst im Streit. Und wenn sie sich einmal nicht verstehen, dann nur, weil sie ihre eigene Seele noch nicht verstehen können. Doch die Beziehung zueinander wurde gestört durch die Anziehung beider von anderen Personen, die interessant sind und beide wussten, dass es nicht alles sein konnte ein Leben lang nur noch mit diesem Partner zu tun zu haben.’

In solchen Gedanken vor sich hin reitend kann er nicht umhin Niklas als ein Vorbild zu sehen. Immerhin hatte dieser Matthias gelobt den Weg über den Pass geschafft zu haben. Vielleicht lag es daran, denn schließlich nimmt man sich Lob eher von Autoritäten an und strebt danach solche Ehren zu erfahren. Was könnte man auch noch erreichen, wonach könnte man streben, wenn die Möglichkeit von Lob und Ehre nicht mehr gegeben ist? Wer keine Vorbilder mehr hat und wie ein Niklas in Matthias’ Vorstellung schwebt, der muss doch arm dran sein. Welche Ehren kann jemand denn noch erfahren, der bereits und ständig hoch geschätzt wird? Wonach kann er noch streben? Liegt nicht im Streben die Stärke des Handelns, wenn man ein Ziel vor Augen hat und es mit all seiner Kraft und Fantasie versucht zu erreichen, ohne auch nur einen Gedanken an das Aufgeben zu verschwenden! Diese Menschen müssen wahrlich ihre eigenen Vorbilder überflügeln.

Und daraus schöpft er dann auch den Quell seiner Worte an Magda. Fürs Erste stellt sie sein zu eroberndes Ziel dar, wie in den Balladen der alten Ritter Jahrhunderte zuvor. Und ist Liebe nicht auch eine Form des Krieges mit dem Ziel der Eroberung?

 

„Was... dich kann ich jetzt nicht gebrauchen“, wehrt Magda sogleich ab, als er durch geschicktes Fragen ihren Aufenthaltsort in der Harrburg ermittelt hat.

„Vielleicht solltest du die neuesten Entwicklungen in Bergheim erfahren? Deswegen bin ich hier“, vertuscht Matthias sein eigentliches Vorhaben, „Ursprünglich wollte ich ja mit dem Herzog persönlich sprechen, aber dann habe ich erfahren, du würdest hier die wirklichen Fäden ziehen.“

„Mit ihm würdest du nicht weit kommen. Von seinen sämtlichen Geschäften läuft keines an mir vorüber“, versichert ihm Magda selbstbewusst. Mit mehr Verachtung als Selbstrühmung spricht sie diese Worte, während ein paar Bilanzbücher ihren Platz in den hoch aufragenden Regalen finden.

„Da hast du dich ja ganz schön empor gewirtschaftet. Viel Zeit für andere Dinge sind dir dabei wohl aber nicht geblieben“, mutmaßt Matthias mit Blick auf ihre ringfreien Finger.

„Was willst du für deine Auskunft?“, erkundigt sie sich forschend.

„Weißt du, nicht immer machen Menschen etwas um Profit daraus zu schlagen. Mir liegt das Interesse der Menschen Bergheims am Herzen. Ungeachtet dessen würde ich aber schon ganz gerne mal mit dir reden.“

Die Angelegenheit zwischen ihnen beiden ist nun schon einige Zeit her und mittlerweile hat sich Magda einigermaßen Gedanken über ihre Lebenssituation machen können, die nicht mehr allein von wilden Gefühlen durchdrungen werden.

„Na schön. Dann reden wir eben. Das ist wenigstens ein geringer Preis für deine ach so wichtigen Neuigkeiten“, womit sie ihre aufkommende Unsicherheit zu überspielen sucht. „Aber erst das Geschäft“, wodurch sie sich wiederum Matthias verrät.

An sich ist der Hergang schnell in wenigen Sätzen erklärt, aber Matthias schmückt es in dramatischer Erzählkunst aus, einerseits um ihr die Tragweite der Situation zu verdeutlichen. Nicht zuletzt aber um an ihre gemeinsame Zeit in Lauschitz zu erinnern und auf das spätere Thema vorzubereiten. Als er dann bei den aufkommenden Zweifeln über die Eignung Jaspers als neuen Vorstand ankommt, antwortet sie sogleich:

„Das werden wir mit ein paar Anordnungen sofort unterbinden. Ich werde den Herzog anweisen Gesandte zu schicken mit der Aufforderung unseren Ratschlägen unverzüglich Folge zu leisten oder die entsprechenden Konsequenzen zu tragen.“

„Hast du keine Angst vor einem blutigen Rückschlag?“, mahnt Matthias besorgt.

„Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter, wie es heutzutage so schön heißt. Blutfehden sind geächtet und kaum jemand bedient sich noch dieser Taktik. Der wirtschaftliche Ruin ist das Mittel der kommenden Zeit“, belehrt ihn die Nachwuchsstrategin.

„Hilf mir mal in meiner laienhaften Beschränktheit. Was meinst du genau?“, horcht ihr aufmerksamer Schüler auf.

„Bergheim lebt vom Minenerz. Wenn wir diesen Handel unterbinden, angenommen durch Ankauf von anderen Minen oder einer möglichen Warnung der umliegenden Abnehmer vor minderwertigem Material, müssen sie sich mit uns gutstellen“, zeigt des Herzogs Kämmerin auf.

„Also könnt ihr den Bergheimern eure Bedingungen diktieren?“, wundert sich der einfache Zimmermann.

„Wir nennen es ‚verbesserte Hilfestellung’ leisten“, belehrt Magda und als sie seinen rümpfenden Gesichtsausdruck bemerkt, fügt als Erklärung hinzu: „Gerechtigkeit ist Ansichtssache. Das sieht das Gesetz zwar nicht vor, aber für die Justiz sind das sowieso eher nur Richtlinien.“

„Was ist dann mit dem hohen Himmelsgericht, mit Gottes Strafe? Habt ihr wenigstens davor Respekt?“, empört sich Matthias.

„Als ob du dich um die Religion scheren würdest“, kontert Magda.

„Weißt du eigentlich, wie ähnlich du Elli schon geworden bist? Sie muss dir wahrlich eine ausgesprochen gute Lehrmeisterin gewesen sein im Geschäft mit dem Geschäft.“

„Nicht nur das“, seufzt Magda. Denn das von ihrem einstmals geliebten Manne verlangte Gespräch ist nun wohl gekommen. Sie wird die folgenden Tatsachen als Argument benutzen müssen, um ihn davon zu überzeugen, richtig gehandelt zu haben, als sie ihn verließ:

„Weißt du, Elli hatte mir gegenüber so etwas angedeutet, was ich nicht hinnehmen konnte.“ Matthias schaut völlig unwissend.

„Ich kam in ihre Obhut als Findelkind, aus einer Familie, deren Eltern verschwunden waren“, beginnt diese obskure Offenbarung, „Das zumindest hat sie mir früher erzählt. Aber nachdem eure gemeinsame Zeit vorüber war, ließ sie durchblicken, ich hätte ihr geboren worden sein können und sie hätte die Geschichte über das Findelkind nur erfunden, um die Schande eines unehelichen Kindes nicht auf sich nehmen zu müssen. Und du weißt selbst, wie gut sie Geschichten erzählen kann!“

„Warum hast du mich denn nicht gefragt?“, wundert sich der plötzliche Vater abermals.

„Wessen Meinung diesbezüglich sollte denn wohl eher zutreffen? Selbst wenn du keine andere Geliebte zu der Zeit hattest, kannst du dann ausschließen, ob es nicht für Elli noch einen anderen Anwärter gab?“, zeigt die eventuelle Tochter ein strategisches Phänomen auf, dessen sich weibliche Partner auch in der mannigfaltigen Tierwelt sehr gerne bedienen. Fassungslos aber lehnt Matthias zwischen Fenster und Bücherregal und versucht diese unerwartete Geschichte zu ordnen. War Elli vielleicht aus Neid auf diese unglaubliche Behauptung gekommen, weil sie es nicht ertragen konnte, dass Matthias nun ihre Magd liebte?

„Verstehst du nun, warum ich gegangen bin? Der Tod unseres Kindes könnte eine Folge unserer falschen Beziehung gewesen sein. Wie hätte ich denn unter diesen Umständen, dem Gespött der Leute und der Angst vor dem Richter noch bleiben sollen? Noch dazu da Elli solch ein heikles Geschäft betreibt, was keinerlei Fehltritt duldet!“, macht Magda ihrem geliebten Matthias deutlich.

„Wir hätten zusammen gehen können“, erwidert dieser.

„Das wäre doch erst recht aufgefallen!“, schlägt sie sein Argument in den Wind.

„Aber nun sind wir doch auch beide weg vom Dorf. Was behindert uns denn nun noch?“, will er störrisch wissen.

„Die ganze Angelegenheit behindert uns! Solange ich nicht weiß, ob es wahr ist, kann ich mich nicht auf dich einlassen. Tut mir leid“, lautet ihre unumstößliche Feststellung in Manier eines Sittenrichters.

„Lass mich wenigstens nicht umsonst hergekommen sein. Der Zoll dieser Stadt ist haarsträubend und hat mein gesamtes Weggeld aufgezehrt. Dabei will ich die Arzneien noch nicht einmal hier verkaufen. Irgendwie muss ich auch noch den Rückweg ins Dorf bestreiten“, trägt er abschließend noch die Bitte vor, „Die Leute dort haben schon viel zu lange auf ihre Heilmittel gewartet. Seitdem Niklas mir nun verraten hat, wie ihnen geholfen werden kann, steht mir der Sinn nur noch danach endlich nach Hause zurückzukehren. Der Angelegenheit in Bergheim habe ich mich eigentlich nur angenommen, weil sie sowieso auf dem Weg lag und hier her kam ich auch nur... weil ich dich sehen wollte.“

Sie fühlt sich geschmeichelt, aber kann ihm nur zöllisch entgegen kommen:

„Also schön, ich veranlasse deine Zollbefreiung als Durchgangsreisender. Das sollte vorerst ausreichen“, kommt sie ihm entgegen, „für die andere Sache muss ich aber erst Elli sprechen.“

„Sobald Niklas wieder in Bergheim ist oder hier oder im Dorf, werden wir das tun“, verspricht er sogleich.

Die beiden verlassen einander, erneut und ohne sichtbares Abschiedszeremoniell. Solange keine weiteren Unternehmungen gegen Bergheim vorliegen, kann Matthias auf der Burg bleiben und seine Vorräte auffrischen, bis der Heimweg nun endlich vollendet werden soll. Verständlicherweise bewegen ihn allerdings andere Gedankengänge:

‚Falls Elli mittlerweile zufrieden ist mit der Entwicklung der Dinge, ihrem Glück mit Niklas und dem Unglück ihres ehemaligen Liebhabers sowie ihrer ehemaligen Magd, sollte sie doch nun wenigstens diese empörende Behauptung bestätigen oder widerlegen’, findet Matthias.

Wenige Tage später schon erreicht eine Nachricht die Harrburg. Sie wird von dem Fremden mit dem Fichtenzweigvordach überbracht, dem Matthias geraten hatte zu Niklas zu gehen um sich seiner Mordanklage freizusprechen. Daher ist er nun ein zum wohlgesonnenen Mitstreiter von Niklas geworden und erklärt, dass Jasper alle vorigen Stadtratsmitglieder verbannt hat und auch Georg damit verjagte. Die Minenarbeiter malochen anscheinend wie unter von Degenhardt zuvor, nur dieses Mal unter dem Vorwand der Selbstbestimmung unter einer Rätegenossenschaft und selbst Niklas gilt nun nicht mehr als willkommen in der Stadt und musste fliehen. Matthias ist es eigentlich egal, wenn sich diese Leutchen ihrem eigenen Untergang so blindlings entgegen werfen. Aber Magda wird es dem Herzog weiterleiten, wie auch die Tatsache, dass dieser falsche Schulze nicht von ihm legitimiert wurde, sondern aufgrund einer gefälschten Urkunde handelt. Außerdem ist mit Niklas’ Verschwinden auch Elli nun außerhalb jeglicher Reichweite und Matthias muss wohl akzeptieren, so schnell keine Möglichkeit auf Magdas Zuneigung mehr zu erhalten. Zumindest er aber liebt sie trotz allem noch, entweder als Geliebte oder als Tochter, was auch immer sie nun ist.

Nur ob er überhaupt ins Dorf zurückkehren sollte, befindet er als fraglich. Weder ob er es noch rechtzeitig erreicht nach all den Monaten der Abstinenz, noch ob die Arzneien wirklich wirken ist gesichert. Wenn er dagegen jetzt noch in die entgegengesetzte Richtung ginge um Niklas aufzustöbern, könnte er sogar Magda wiedergewinnen.

 

Einige Tage nach diesen Ereignissen sitzt er also an einer Straßenkreuzung, ein paar Meilen von Harrburg entfernt. Der Regen geht schwer herunter an den Mauern der hiesigen, alten Burgruine. Seit hier schon vor Generationen die letzten Bewohner fort gegangen waren, zieht es nur Matthias noch her, um in dieser Stimmung zu wandeln. Auch wenn es einsam ist auf diese Weise dem umgebenden Wald zu lauschen, und es nur von wenigen Zinnen möglich ist ins umliegende Bergland zu schauen: nach der Eiswüste oben im Gebirge ist es dennoch wahrlich angenehm und ruhig an diesem Orte. Bis jetzt weiß er immer noch nicht, wie er dem eisigen Gebirge entkommen ist. Oder warum er es überhaupt noch wollte. Denn die Einsamkeit hier war ihm oben unerträglich vorgekommen und nun ist sie ihm doch bis hier herunter gefolgt.

Matthias denkt weiter zurück, an sein Urteil über die Minengesellschaft und wie die kleinen Veränderungen große Wirkungen haben können. Wenn man das in Bezug auf den Menschen sieht, musste dieser ein genauso anfälliges Gebilde der Natur sein. Aber die Menschheit hatte trotzdem Jahrtausende und absurd viele Generationen überlebt. Vielleicht gerade weil sie sich mit jedem neuen Menschen immer neu erschafft. Doch auch Niklas muss wissen, dass seine Zeit zu Ende geht. Schon die Nomadenvölker mussten der sesshaften Zivilisation weichen. Seine Vorstellung von der Welt, in der man sich auf seinen Verstand und seine Fähigkeiten verließ, weicht denen, in der die Technik die einfache Arbeit abnimmt; Botengänge werden überflüssig, wenn die Post alles systematisch zustellt; die Haltung von Pferden nimmt ab, wenn man Dampflokomotiven hat. Es wird einsamer auf den Straßen, wenngleich auch mehr Verkehr herrscht. Man wird lernen müssen, sich ständig neu anzupassen und viele werden das nicht schaffen. Eine neue Ära des Kampfes hat begonnen, und doch ist es die altbekannte Weise des Bestehens in der Natur.

Zwei Menschen nähern sich nun dieser Kreuzung. Es ist ein Paar auf Erkundungsreise, das auf seiner Fahrt Diskurse führt:

„Hast du dich schon mal gefragt, ob die Welt wirklich so entstanden ist, wie es in der Bibel steht?“, hört man die weibliche Partition fragen.

„Absurd, die Vorstellung dass es anders gewesen sein könnte!“, widerstrebt der Mann.

„Nur weil wir in dem Glauben aufgewachsen sind, dass Gott alles so geschaffen hat muss das doch nicht stimmen. Oder hast du ihn schon einmal persönlich darüber reden hören?“, führt sie Argumente ins Feld.

„Wie soll es denn sonst gewesen sein?“, fordert er weitere Begründungen heraus.

„Wer weiß. Vielleicht haben ja auch andere Menschen alles so erschaffen, wie sie heute Städte bauen. Aber nur, weil wir es so annehmen, muss es nicht so sein. In ein paar hundert Jahren denken die Menschen möglicherweise, dass alles von allein entstanden ist und fragen sich, wie man jemals etwas anderes glauben kann.“

Mit diesen Worten beendet die Frau ihre Ausführungen. Denn ein Wanderer lässt sich dort hinter der Biegung blicken. Er sitzt auf den Mauern einiger alter Steine und starrt in die erste, zaghafte Frühlingssonne, die durch die noch kahlen Bäume hindurch auf die Schneereste dringt.