Der Wahnsinn eines arbeitssuchenden Tages

 

Es ist früh halb fünf. Die Wecker spielen ein Konzert mit unterschiedlichen Melodien. Noch bevor ich es schaffe sie alle an verschiedenen Orten des Zimmers abzustellen bin ich genervt. Dann fällt es mir ein: Ich muss nach Bielefeld für ein Bewerbungsgespräch. Und frage mich, welcher Job so toll sein kann, dass man dafür extra 360 km fährt – mit der Bahn! Immerhin war es 2 Euro billiger als mit dem Auto zu fahren, wenn man zu den Spritkosten noch die Abnutzung, Steuern, Versicherung und Konzentrationsleistung während der Fahrt hinzurechnet. Für den günstigeren Preis muss ich allerdings schon 6:33 am Bahnhof sein und werde in Bielefeld-Sennestadt angekommen – mit sieben Stunden Aufenthalt bis zum Vorstellungsgespräch um 17:00. Nun gut, ich war noch nie in Bielefeld (warum auch?) und hörte laut einer urbanen Legende von der scheinbaren Nichtexistenz dieses Ortes. Also entweder kann ich mich später damit rühmen in einer Stadt gewesen zu sein, die es gar nicht gibt. Oder ich entdecke etwas völlig Neues, eine archäologische Sensation sozusagen. Vielleicht haben die Römer damals deshalb so alt ausgesehen, als sie von Hermann und seinen Germanen im Teutoburger Wald niedergemetzelt wurden. Vielleicht dachten sie damals auch: ‚Bielefeld gibt’s doch gar nicht!‘ Und damit hatten sie vor 2000 Jahren auch Recht. Manche Vorurteile bleiben einfach ewig in den Köpfen der Menschen.

 

   Frühmorgens im Zug döst jeder vor sich hin und ab und zu sitzt mal eine attraktive, junge Frau allein auf einem Viererplatz. Da es jedoch so früh am Morgen ist, registriere ich das oft zu spät und gehe daran vorbei, um mich auf einen engen Zweisitzplatz zu zwängen, wo mein Sitznachbar daneben im Schlaf seltsam lebendig aussehenden Speichelfluss auf seine Jacke auswirft. Die junge Frau langweilt sich derweil, schaut aus dem Fenster und ich denke mir: für ein sinnvolles Gespräch ist es zu früh und bin ich zu müde. Was ich in dieser Stimmung allenfalls hausbrächte, würde sich beschränken auf die Frage: „Hey, fährst du auch mit diesem Zug?“

 

   Ab Paderborn (Nordrhein-Westfalen) steigen dann Massen an arabisch und westasiatisch (man ist versucht zu sagen „orientalisch“) aussehenden Leuten zu, viele mit Kindern und mit vielen Taschen und Tüten. Als sich einer der Flüchtlingsjungen neben mich setzt, beginnt es kurz darauf streng zu riechen. Später steht er wieder auf und ich sehe, dass auch seine Hose mit Schlamm überzogen ist. Es erinnert mich an die vielen Expeditionen in die Wildnis während der Exkursionen im Studium und die Situation, als ich wieder in die Zivilisation und öffentliche Verkehrsmittel zurückkam: mit fettigen Haaren, schmutzigen Hosen und wahrscheinlich auch einem Gestank, den ich selber nicht mehr roch. Aber das war egal, denn ich war froh, alles so überstanden zu haben, um nun doch endlich wieder in der Zivilisation zu sein. Hier drängen sich zu allem Überdruss die Flüchtlinge mit solchen Erfahrungen in den ohnehin schon überfüllten Alltag mit den Einheimischen und Tagesmigranten wie mir zusammen. Das muss auch der Umverteilung der Flüchtlingsmassen in Deutschland nach dem Königsteiner Schlüssel geschuldet sein, der ja besagt, dass in NRW mit der höchsten Menschendichte auch die meisten Flüchtlinge aufgenommen werden sollen. All diese Leute steigen schließlich in Bielefeld aus.

 

   Falls mir die Zeit nachher zu knapp werden sollte, kaufe ich schon mal ein Ticket für die Weiterfahrt zu dem Vorort, wo das Gespräch stattfinden soll. Etwas stutzig werde ich dabei nur, weil etwas mit 11:28 und 11:34 darauf steht. Das eine ist die Kaufzeit, soweit klar. Aber soll das andere die Abfahrtszeit sein, zu der allein das Ticket gültig ist? Diverse Erinnerungen an vorangegangene Diskussionen mit Schaffnern lassen mir diesen Verdacht entstehen. Na ja, es wird schon keiner kontrollieren.

 

   Auch wenn in solcherlei Erzählungen menschliche Bedürfnisse eher als uninteressant weggelassen werden – in der realen Welt kann man sie leider nicht beständig unterdrücken. Daher bin ich derweil auf der Suche nach einer Toilette. Denn in dem Gedränge der Regionalbahnen und mit den kurzen Umstiegszeiten zwischen den Zügen hat man fast keine Gelegenheiten dafür. Als erfahrener Weltenbummler lasse ich den ohnehin zu bezahlenden, aber nicht funktionierenden Litfaß-Lokus unbeachtet wo er ist. Mein Weg führt zur Touri-Info, wo mir gesagt wird, dass es im Bürgeramt gleich um die Ecke eine Örtlichkeit gäbe. Hier trifft sich auch die Masse der Flüchtlinge wieder, die wahrscheinlich auf ihre Registrierung warten. Durch unzählige Migranten hindurch finde ich dann auch erleichtert eines meiner heutigen Tagesziele.

 

   Danach regnet es noch immer. Normalerweise macht mir das ja nichts aus, denn für solche Fälle gibt es Regenschirme und Rucksackkondome. Leider bemerke ich nun aber, dass meine Schuhe undicht zu sein scheinen, so dass sie jeden Tropfen Regenwasser aus dem näheren Umkreis aufsaugen und dieses nach innen weiterleiten. Noch beschränkt sich derlei Unannehmlichkeit nur auf den Fersenbereich und ich halte es für möglich noch die Sparrenburg als die wichtigste Sehenswürdigkeit dieser Stadt zu besichtigen. Natürlich liegt sie auf einer Anhöhe über der Stadt und natürlich kann man dort oben durch die starke Bewölkung – um nicht zu sagen Nebel – fast nichts von der Stadt erkennen. Nur der Nässegrad meines Fußkleidinnenfuterals steigt linear und stetig an. Bald schon hört man jeden meiner Schritte durch das platschende Geräusch des Zusammenpressens einer inkompressiblen Flüssigkeit im Stoff sowie den darauffolgenden, saugenden Klang beim Verlieren der Bodenhaftung, wobei der entstehende Luftraum dieselbe Flüssigkeit vakuumös aus dem Stoff wieder herauszieht. Und das nervt! Schnellstmöglich begebe ich mich daher wieder zum Bahnhof und verbringe meine restlichen drei Stunden Zeit damit mich möglichst wenig zu bewegen. Meine Aufmerksamkeit liegt daher bei den Versuchen der Bahnschalterbeamten den orientalischen Flüchtlingen auf Englisch, Deutsch und Französisch zu erklären, dass die Züge auch in Deutschland „manchmal“ Verspätung haben. Nachdem meine komplette Reiselektüre (bestehend aus einem Reclam-Heft) für heute bereits ausgelesen ist, schlendere ich also langsam meinem Zug entgegen. Bevor ich am Ende noch zu spät bei meinem eigentlichen Termin bin, obwohl ich seit elf Uhr in Bielefeld warte, nehme ich doch lieber einen Zug früher als nötig wäre. Dabei komme ich an dem Fahrkartenautomaten von vorhin vorbei und denke: ‚Es wäre wohl besser, doch noch mal eine gültige Fahrkarte zu kaufen, bevor mir dann wieder jemand erklärt, dass ich mir doch hätte denken können, dass Fahrkarten nur für einen bestimmten Zeitraum gültig sind. Sonst könnte man ja öfter damit fahren. Und 2,40 € extra könnten mir vielleicht viel Ärger ersparen.‘ Dazu nur so viel: Es ist nie gut auf den Konjunktiv zu vertrauen! Auf der neuen Fahrkarte steht wiederum nur eine beliebige Zeit, die mit meiner Fahrstrecke rein gar nichts zu tun hat und was soll ich sagen: Kontrolliert werde ich natürlich auch nicht.

 

   Allerdings steige ich eine Station zu früh aus. Denn noch im Zug sehe ich die Station „Senne“ vorbei ziehen. Musste ich da nicht raus? Doch zu spät, der Zug fährt bereits wieder an. Daher ziehe ich mein Smartphone heraus, wo ich meine Zielposition in einer App markiert habe. Doch Pustekuchen! Die Markierung ist weg. Wenige Minuten später kommt die nächste Station. Vorsichtshalber steige ich aus, denke noch: ‚Also 4,80 € für’n Arsch – na ja, vielleicht muss ich nur eine Station zurücklaufen‘. Als ich jedoch im Internet die Adresse des Unternehmens nachschaue, steht dort „Sennestadt“ statt „Senne“. Ich sehe mir also meine Position auf der Smartphone-App an: sieht gar nicht so weit aus – allerdings fehlt in der neuen App-Version der Maßstab, wodurch ich die Entfernung nur schätzen kann. Da ich einen Zug früher genommen habe, müsste ich eigentlich nur auf den nächsten warten. Allerdings kommt der erst in zwanzig Minuten und ist gerade mal 16:50 am Ziel. Außerdem weiß ich nicht, wie lange es dauert, ehe ich bis zum Firmensitz gelaufen bin. Nachher kommt vielleicht nicht mal eine Bahn – oder es ist bei meinem Glück eine Betriebsfahrt! Daher entscheide ich mich die zwanzig Minuten Wartezeit (plus vier Minuten Fahrzeit) besser zu nutzen, indem ich die eine Station laufe…

 

   Mittlerweile sind meine etwas getrockneten Schuhe wieder klitschnass. Bei jeder Bodenberührung strömen Sturzbäche aus ihnen auf den regennassen Fußweg. Jeder, der das physikochemische Gleichgewichtsprinzip oder den osmotischen Druck kennt, weiß, was das für das Innenleben der Schuhe bedeuten muss: „nass“ ist keine adäquate Beschreibung mehr für einen übersättigten Sneaker! Zu allem Überdruss ist mein Schirm undicht und es tropft immer mal wieder von innen. Außerdem vergleiche ich das Voranschreiten der Zeit mit der verbleibenden Wegstrecke. Die physikalischen Kenntnisse über meine daraus resultierende Laufgeschwindigkeit sagen mir: ‚Du wirst es nicht schaffen!‘ Daher beginne ich zwischenzeitlich zu rennen. Zwar befinde ich mich noch in den Vororten Bielefelds, doch eigentlich besteht hier schon alles aus Feld und Wald. Dann erinnere ich mich, wie in einer äußerst beliebten Besetzung der Fernsehreihe „Tatort“ viele der Folgen hier in der Nähe gedreht werden und oftmals in verlassenen Waldgebieten am Stadtrand Ermordete auftauchen. Die Blicke der wenigen Passanten unterwegs verfolgen mich entsprechend misstrauisch. Anscheinend rennt hier sonst niemand, außer auf der Flucht vor einem Mörder. Daher – und wegen der fehlenden Ausdauer – stelle ich immer wieder auf Schrittgeschwindigkeit um.

 

   Schließlich bin ich neun Minuten zu spät beim Vorstellungsgespräch, als ich nach einiger Suche des entsprechenden Hauses in diesem Vorstadtdorf an einer versteckten Villentür klingle. Komplett durchgeschwitzt werde ich hereingebeten. Der Chef ist nicht da, die beiden Mitarbeiter (von insgesamt sechs Leuten) sind allein, um mich zu verhör… ähm, anzuhören. Das Regen-Waterboarding habe ich ja bereits hinter mir, so dass es mir auch egal ist, ob sie mich von außen oder von innen feucht werden lassen … hm, das klingt irgendwie falsch. Aber nachdem ich das angebotene Getränk meiner trockenen Kehle wegen angenommen habe, stimmt es zumindest im biologischen Sinn.

 

   Dann geht die Fachfragerei los: „Haben Sie denn schon einmal etwas von Abfallschlüsseln gehört?“, „Welche Deponieklassen gibt es?“, „Wie baut sich die VHWS-VO auf?“, „Welche Materialien braucht man für eine Untergrundabdichtung?“ usw. Ab und zu bringe ich auch mal zwischen den ausweichenden Antworten etwas Überzeugendes heraus, weil ich mich spontan an die entsprechenden Stellen aus dem Studium erinnere. Meistens aber umschreibe ich und vergleiche mein Wissen darüber mit der mir unbekannten Antwort, z.B.: „Also da ich mich im Studium eher auf Altlasten spezialisiert habe, kenn ich vor allem die Z-Klassen als Einstufungskriterien.“ Immer schön Fachbegriffe verwenden und verschachtelt reden, ist meine Devise dabei. Doch die Gegenfrage kommt sofort: „Interessant, dass Sie das ansprechen. Wir hatten neulich erst die Diskussion, ob zwischen der Abstufung Z0 und Z1 überhaupt noch von Abfall gesprochen werden kann. Wie sehen Sie das?“ Oh Scheiße. „Ähm, nun ja, das bezieht sich – zumindest im Altlastenbereich – ja meistens auf Grenz- und Schwellenwerte und deshalb muss man für jeden Schadstoff spezifisch nach dessen vorgeschriebenen Grenzwerten handeln.“ Er schaut mich an, sagt erst nichts und scheint zu überlegen. Dann meint er wie nach jeder meiner Antworten: „Ja, schön, schön. Kommen wir zu etwas anderem…“

 

   Ein Mensch, der mit geschätzten Mitte Zwanzig jünger ist als ich prüft mich in fachlichen Dingen zu meinem Studium und zeigt mir auf, was ich firmenintern alles nicht kann. Toll - und hier will ich arbeiten?

 

   „Und Sie können sich auch vorstellen hier her zu ziehen?“, fragt mich der rothaarige Jüngling. ‚Bitte was?‘, denke ich, ‚Soll ich denn andernfalls 360 km jeden Morgen her fahren? Oder kommst du jeden Morgen mit dem Privatjet an?‘ „Äh, ja, ja natürlich“, antworte ich freundlich, und hake zwecks Wohnungssituation in Bielefeld gleich mal nach: „Kommen sie aus der Gegend?“ Die beiden schauen mich betreten an. Die Frau erzählt erst etwas davon, dass sie hier in der Nähe Abi gemacht hätte und dann folgt ihre Lebensgeschichte bis zum Studium. Wahrscheinlich ist das eine Umschreibung für die ihr peinliche Tatsache, dass sie noch bei ihren Eltern wohnt. Der Jungspund bindet mir seine Fernbeziehung auf die Nase und dass er jedes Wochenende zu seiner Freundin in den Ruhrpott fahre. Hm, anscheinend habe ich meine Frage falsch formuliert.

 

   „Können Sie telefonieren?“, werde ich gefragt. Ein Stirnrunzeln verrät, was ich dazu anscheinend laut denke: ‚Häh??‘. Daher folgt seine Erklärung: „Naja, manche unserer Bewerber haben Probleme am Telefon mit Leuten zu reden.“ „Ah so,“ dehne ich die Augenbrauen nach oben. „Also solang ich nicht umständlich über Videotelefonie wissenschaftliche Diagramme erklären muss - wie es mein Masterarbeitsbetreuer gerne hatte - habe ich kein Problem damit zu telefonieren.“

 

   „Was für ein Mensch sind Sie: lassen Sie nach Feierabend den Stift fallen oder arbeiten sie auch gerne noch ein Projekt zu Ende? Können Sie sich vorstellen mehrere Projekte gleichzeitig zu betreuen und im Ausland zu wohnen?“ Ich denke: ‚Na toll, unbezahlte Überstunden und sinnloses Herumreisen.‘ Ich sage: „Da ich schon im Studium viel gereist bin, kann ich mir auch Dienstreisen gut vorstellen. Wie Sie sicher wissen, arbeitet man auch im Studium öfter mal über seine eigentlichen Kapazitäten heraus und macht mal die eine oder andere Nacht durch – mit Arbeit versteht sich. Wenn das allerdings zu viel wird, ist man leicht mit Anfang dreißig ausgebrannt.“ Ich bin jetzt 29. Dieser Realität habe ich mich bereits gestellt. Aber der Junge mir gegenüber erschrickt ein wenig.

 

   „Was für Stärken und Schwächen haben Sie?“ Meine Antwort: „Ich bin gewissenhaft und möchte - noch aus meiner Arbeitsweise im Studium heraus - vieles zu einem möglichst perfekten Abschluss bringen. Das ist gleichzeitig auch eine Schwäche, da im Arbeitsleben oft Fristen gesetzt sind und man schließlich mit dem bestmöglichen Ergebnis ein Ende setzen muss. Außerdem betrachte ich es als Schwäche, dass ich nicht immer gleich sage, was ich über jemanden denke oder was mich an Menschen stört, sondern warte erst einmal ab, wie sich die Sache entwickelt, um den Menschen nicht mit einem zu früh gefassten Vorurteil vor den Kopf zu stoßen.“

 

   „Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“ Ich denke: ‚Ganz weit weg von hier.‘ Ich sage: „Da ich mich immer erst einarbeiten muss, möchte ich mir am Arbeitsort auch eine Existenz aufbauen und nicht schnellstmöglich den Job wechseln, nur weil ich dort mehr verdiene.“

 

   „Sind sie durchsetzungsfähig?“ „Ja!“

 

  Vor lauter trockenem Stumpfsinn solcher Fragen nimmt sogar der Nässegrad meiner Schuhe etwas ab. Schließlich muss ich noch nach dem Gehalt fragen, weil das nicht weiter erwähnt wurde und ich auch nicht vorhabe für lau zu malochen. Als ich dann die vergleichsweise geringe Einstiegseinstufung E11 (2.900 Euro brutto) nenne, lachen die beiden und fragen scherzhaft: „Sie meinen im Jahr?“ Doch da sie nichts weiter dazu sagen – auch nicht auf Nachfrage – bin ich mir so langsam nicht mehr so sicher, ob sie das wirklich ironisch meinen.

 

   Nun gut, mein Traumjob ist das hier sowieso nicht, deshalb sorge ich mich jetzt lieber darum meinen Zug zurück nach Hause zu erwischen. Immerhin ist es der Letzte, der heute noch fährt. Am Bahnhof treffen so langsam Gestalten ein: Nutten, Nerds und weiteren, netten Leute begegne ich dabei und obwohl ich schon den Entschluss gefasst habe, möglichst eines der anderen Jobangebote anzunehmen, festigt sich dieser Gedanke nun noch einmal um eine Größenordnung. Während der Fahrt sehe ich dann das übliche Bild: Alle hören sie Musik über ihr Smartphone und haben sich aus der Welt ausgeklinkt. Traurig irgendwie, finde ich. Darum setze ich meine Ohrhörer ein und mache Musik an, um mich abzulenken. Dann beobachte ich meine Umgebung: Auch hier in der Gegend gibt es nicht wenige hübsche Mädels: allesamt in Röhrenjeans (wie ein dicklicher Komödiant aus dem Rheinland dazu meinte: „Presswurst mit Pelle“) und fett geschminkt starren sie hinaus, gedankenverloren in die Dunkelheit oder mit dem Kopf nach unten auf ihre mobilen Endgeräte. Trotzdem schaffen sie es dabei erstaunlicherweise irgendwie hochnäsig auszusehen, nach dem Motto: „He du Opfer, wenn du mich weiter so anstarrst, verdopple ich deine Schutzgeldabgabe bei meinem Mafia-Freund.“ Dabei verstecken sich bestimmt nur zerbrechliche Wesenszüge hinter den Fassaden – und damit meine ich nicht nur die übermäßig lackierten Fingernägel.

 

   In Hannover schließlich verkündet das Zugbegleitpersonal die frohe Botschaft von der heiligen Bahnverspätung, die bei längeren Zugreisen innerhalb Deutschlands unvermeidlich dazugehört wie das Amen in der Kirche. Die Anschlusszüge sind deshalb nicht mehr zu erreichen und man solle sich doch beim Reisezentrum eine Alternativroute suchen. Kurz überlege ich noch, ob es nicht besser wäre gleich sitzen zu bleiben, da diese Bahn hier weiter nach Magdeburg fährt und ich somit schon mal näher an zu Hause wäre. Doch dann erinnere ich mich, dass mein Ticket nur bis Hannover gültig ist. Also steige ich aus und begebe ich mich zum Reisezentrum, wo man mir sagt, dass die letzte Fahrt nach Jena heute nur noch über … Magdeburg führt. Allerdings fahre der Zug in diesen Minuten ab. Während ich also der Frau am Bahnschalter den Zettel mit der neuen Reiseverbindung aus der Hand reiße, renne ich auch schon – wieder – fort, biege um die Ecke, gleite durch die Menschenmassen, slide auf dem regennassen Boden unter zwei getragenen Koffern durch, während ich meinen Rucksack darüber werfe und auf der anderen Seite wieder auffange, wobei ich die verbliebenen Sekundenbruchteile mit freien Händen nutze, um nachzusehen, an welchem Gleis ich eigentlich ausgestiegen war und folglich wieder einsteigen muss, stehe noch im Schlittern auf und bremse mich durch einen gekonnten Griff am Geländer zum Gleisaufgang ab, um mit einem Wallrun hinauf die Impulsenergie zu nutzen und schleudere meinen Rucksack in die sich schließende Waggontür, um sie auf diese Weise aufzuhalten, als ich über das Geländer hechte und durch den noch halb geöffnete Türspalt springe. Zumindest empfand ich meine Aktion als mindestens so spektakulär! ‚Gerade noch geschafft‘, denke ich. Aber der Zug steht – und wartet noch weitere fünf Minuten lang auf dem Gleis. Völlig außer Atem blicke ich mich um und sehe die Blicke der anderen Passagiere auf mir ruhen. Irgendwie komme ich mir etwas blöd vor. Außerdem habe ich keinen offiziellen Fahrschein, sondern nur das Versprechen der Bahnmitarbeiterin und einen Fahrplan für die neue Route. Der Kontrolleur, der nun durch die Reihen geht, will mich erst nach meinem Fahrschein fragen. Doch wie ich es bereits früher gelernt habe, stellt man sich in Zügen, die bereits seit mindestens einer Station unterwegs sind, am besten einfach gelangweilt und blickt den Schaffner möglichst nicht an. Dann denkt er nämlich: ‚Den habe ich bestimmt schon einmal kontrolliert‘ und lässt von einem ab. Genauso funktioniert es auch dieses Mal wieder.

 

   Später zwischen Magdeburg und Halle knarzt die Lautsprecheranlage und eine Zugbegleiterin beginnt zu stottern, als fürchte sie bereits einen wütenden Mob hinter sich: „In Halle kommen Sie aufgrund eines verspäteten Anschlusszuges heute …“, und sie lässt eine lange Pause, die ich laut aussprechend ergänze: „… leider nicht an.“ Je später der Abend, umso mehr wächst mein Sarkasmus und der der anderen Leute im Abteil wahrscheinlich auch. Denn sie schauen nur kurz und indifferent zu mir herüber.

 

   In Halle schließlich ist um halb zwölf Uhr nachts nur noch ein Gleis aktiv – und das ist für den IC-Nachtzug nach Zürich reserviert. Beim Einfahren des Zuges rauschen die Schilder an den Waggons an mir vorbei und überall steht: Berlin-Lichtenberg. Anscheinend werden die restlichen Waggons irgendwo abgekoppelt und ein Teil fährt nach Berlin, der andere nach Zürich. Nur: wo werden sie abgekoppelt und welcher Teil hält an meiner nächsten Station in Richtung Heimat, also in Weimar? Suchend begebe ich mich also bis zum letzten Wagen, wo aber auch wieder nur Berlin zu lesen ist. Da gerade das Zeichen zur Abfahrt gegeben wird, steige ich notgedrungen ein und kämpfe mich Wagen für Wagen nach vorne durch die schmalen Schlafwagenflure. „Es kann nur der vorderste Waggon sein, der nach Weimar fährt“, meint ein Mitreisender zu mir. Bis ich allerdings durch die ganzen Wägen dort ankommen sein werde, ist die Bahn bestimmt schon fast in der Schweiz. Es scheint mir derweil bei der Länge des Zuges, als würde ich nach Hause laufen. Unterwegs verstopft ein dicker Schaffner den Gang. Daher rufe ich schon von weitem: „Entschuldigung, ich muss nur kurz nach Weimar“. Dieser fragt mit einem Anflug nächtlichen Schalkes: „Nur kurz?“, worauf ich ihm zu verstehen gebe: „Ja, nur kurz. Wer will um diese Zeit schon länger dort bleiben?“

 

   Auch hier wundere ich mich über das Kontrollgebaren der Schaffner: Einem von ihnen zeige ich (erst nach Aufforderung, da er mich leider hat einsteigen sehen) meine bereits x-fach gestempelte, geknickte und von Regen und Schweiß aufgeweichte DIN-A4-Seite mit der selbst ausgedruckten Fahrkarte und den neuen Fahrplan, erkläre kurz die Verspätung als Grund dafür und alles wird mir sofort geglaubt. Dabei hätte ich den Plan schon vorher ausdrucken und sonst was von Verspätung erzählen können, ohne es je zu beweisen. Tja, man muss eben mit den Leuten reden, sie dusselig quatschen und mit scheinbaren Fakten verwirren.

 

   Kurz vor Jena sehe ich im Zug, wie sich eine Rastafari-Braut ihre Filzlocken in die Wollmütze dreht – da weiß ich: ich bin fast da. Dabei kann ich mich gar nicht mehr an heute Morgen erinnern. Es kommt mir vor, als wäre ich seit Wochen durch Deutschland gereist – in eine Stadt, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Was sich so mancher Migrant seit den Römern heute im Jahr 2015 wohl ebenfalls denkt.

 


 

Und der Wahnsinn geht weiter - meine Bewerbungsstatistik in Ausbildung und Beruf:

> Bewerbungen für Krippen, Kindergärten, Schulen und Armee sind hier nicht inbegriffen, da ich mich darauf nicht selbst beworben habe

> in runden Klammern ( ) ist angegeben, was bei mir nicht vorkam, womit man aber rechnen muss

> in eckigen Klammern [ ] ist die Häufigkeit angegeben

> in geschweiften Klammern { } ist die in etwa benötigte Zeit bzw. der zeitliche Aufwand angegeben

 

- Schul-Praktikum I {für 1 Woche}

 

o   Bewerbung mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen, Referenzen, Arbeitszeugnissen für einen Praktikumsplatz

 

o   (Vorstellungsgespräch für einen Praktikumsplatz)

 

o   (Assessementcenter für einen Praktikumsplatz)

 

- Ausbildung {für 2,5 Jahre}

 

o   Bewerbung mit Lebenslauf, Anschreiben (Bittstellung, Motivation, Vorstellungen, Tätigkeiten, …) Foto, Zeugnissen, Referenzen, Urkunden für einen Ausbildungsplatz

 

o   Praktikum II, Berufsausbildung I {4 Wochen}

 

>  Bewerbung mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen, Referenzen, Arbeitszeugnissen für einen Praktikumsplatz

 

>  Vorstellungsgespräch für einen Praktikumsplatz

 

>  (Assessementcenter für einen Praktikumsplatz)

 

o   Praktikum III, Berufsausbildung II {für 6 Monate}

 

>  Bewerbung mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen, Referenzen, Arbeitszeugnissen für einen Praktikumsplatz

 

>  Vorstellungsgespräch für einen Praktikumsplatz

 

>  (Assessementcenter für einen Praktikumsplatz)

 

- Studium, Medizin ZVS, - nur beworben [4x, je 6 Studienorte]:

 

o   Bewerbungen bei ZVS mit Zeugnissen für einen Studienplatz

 

o   Numerus Clausus

 

o   TMS-Test [1x]

 

o   Praktikum IV (berufsvorbereitend für Medizin) {für 4 Wochen}

 

- Studium, Bachelor {für 3 Jahre} – verschiedene Studiengänge [5x]:

 

o   Bewerbungen mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen, Referenzen für einen Studienplatz

 

o   (Vorstellungsgespräche)

 

o   Numerus Clausus

 

o   (Eignungsfeststellungstest)

 

o   Nebenjob - mehrfach für jeden Vertrag extra [2x] {für 2 Tage bis 3 Monate}:

 

>  Bewerbung mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen für einen Nebenjob (Hiwi, Hilfskraft, Praktikant)

 

>  Vorstellungsgespräch

 

o   Praktikum V (Berufspraktikum) {für 6 Wochen}

 

>  Bewerbung mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen, Referenzen, Arbeitszeugnissen für einen Praktikumsplatz

 

>  Vorstellungsgespräch für einen Praktikumsplatz

 

>  (Assessementcenter für einen Praktikumsplatz)

 

o   Bewerbung um eine Bachelorarbeit

 

- Studium, Master {für 2,5 Jahre} – ähnliche Studiengänge [4x: Bayreuth, Potsdam, Jena, Dresden]:

 

o   Bewerbungen mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen, Referenzen für einen Studienplatz

 

o   Numerus Clausus

 

o   Eignungsfeststellungstest / Bewerbungsgespräch

 

o   Nebenjob - mehrfach für jeden Vertrag extra [10x] {für 4 Stunden bis 1 Jahr}:

 

>  Bewerbung mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen für einen Nebenjob (Hiwi, Hilfskraft, Praktikant)

 

>  (Vorstellungsgespräche)

 

o   Bewerbung um eine Masterarbeit

 

- Praktikum VI, beruflich - nur beworben [2x]

 

o   Bewerbung mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen, Referenzen, Arbeitszeugnissen

 

o   Vorstellungsgespräch

 

o   (Assessementcenter)

 

- Promotion / Beruf {für 3 Jahre} [12x]

 

o   Bewerbung mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen, Referenzen, Arbeitszeugnissen

 

o   Vorstellungsgespräch

 

o   (Assessementcenter)

o   Probezeit {1/2 Jahr}

 

- Beruf [56x] {für 2 Jahre} {Bewerbungsdauer: 1 Tag bis 20 Monate}

 

o   Initiativ-Bewerbung {1 Tag bis 1 Woche + 1 Woche bis 1 Monat Wartezeit}

 

o   Bewerbung mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen, Referenzen, Arbeitszeugnissen {2 Stunden + 1 Tag bis 3 Monate Wartezeit}

 

o   Telefongespräch {1 Stunde + 1 Woche Wartezeit}

 

o   1. Vorstellungsgespräch {1 Tag + 1 bis 2 Wochen Wartezeit} (8x)

 

o   (2. Vorstellungsgespräch) {1 Tag + 1 bis 4 Wochen Wartezeit}

 

o   (Assessementcenter) {1 Tag bis 1 Woche + 1 bis 4 Wochen Wartezeit}

 

o   (Probearbeit) {1 Woche bis 1 Monat + 6 Wochen Wartezeit auf Arbeitsvertrag}

 

o   Probezeit {1/2 Jahr}

 

- Beruf – Stellenwechsel I [38x] {Bewerbungsdauer: bis 24 Monate}

 

o   Bewerbung mit Anschreiben, Motivationsschreiben, Zeugnissen, Referenzen, Arbeitszeugnissen {2 Stunden + 1 Tag bis 3 Monate Wartezeit}

 

o   1. Vorstellungsgespräch {1 Tag + 1 bis 2 Wochen Wartezeit} (7x)

 

o   Probezeit {1/2 Jahr}

 

...

 


Wer übrigens mehr zur richtigen Jobsuche und erfahren möchte und sich darauf vorbereiten möchte, findet mit der Jobfibel eine Anlaufstelle zu Themen wie Jobsuche, Bewerbung oder Weiterbildung:

http://www.jobfibel.com/thema/jobsuche