Kongressreise einer wissenschaftlichen Gesandtschaft nach Ostchina

(am „kaiserlich kapitalistischen-kommunistischen“ Hof)

 

Ein lustiges Trauerspiel oder Eine tragische Komödie in zwei Akten:

1. Konferenzreise

2. Stadt und Land

 

Auftretende Personen:

Martin (ein Thüringer unter Chinesen)

600 Kongressteilnehmer

Feilschende Taxifahrer(innen)

Übersetzerin

Gaffer

Elektro-Roller

Englischgrundschullehrerin

Pfandsammler

Lastenträger

Volkstanzgruppen

Menschenmassen

und andere

 

Prolog

 

Im Leben eines Wissenschaftlers kommt der Moment, da er den Elfenbeinturm verlassen und seine Arbeit der Außenwelt präsentieren muss. Dann geht er auf große Fahrt, um sich in aller Herrgottsländer mit den anderen Kreaturen der Forschung zu treffen, die aus ihren Löchern gekrochen kommen, um sich an einem entlegenen Ort der Erde über die Ergebnisse ihrer Studien auszutauschen. Wie sinnvoll solche Zusammenkünfte der weisen Druiden wirklich sind, darüber herrscht allerdings Uneinigkeit und sicherlich müssten sie sich nicht mehrmals im Jahr an verschiedenen Orten auf verschiedenen Konferenzen treffen, weil sie erstens nicht so viele neue Ergebnisse erforscht haben können und zweitens enorme Zeit- und Energieaufwände für diese Treffen anfallen.

So muss die Reise bereits mehrere Monate zuvor - wenn nicht gar ein Jahr vorher - geplant werden: da gilt es die passende Konferenz auszuwählen, Visa zu beantragen, Flüge und Hotels zu buchen oder Bahnreisen zu organisieren, Impfungen zu planen, Vorträge oder Poster vorzubereiten und nicht zuletzt die Finanzierung zu klären. Denn häufig kommen die Institute und Universitäten nur schwerlich für die Reise auf oder das eigene Forschungsbudget ist einfach zu knapp gestrickt.

 

Konferenzreiseziel: China

Chinareise: Purpurberge in Nanjing, Oriental Pearl Tower in Shanghai und das Huangshan-Gebirge
Chinareise: Purpurberge in Nanjing, Oriental Pearl Tower in Shanghai und das Huangshan-Gebirge

Wenn es dann in ein Land wie China geht, gilt es außerdem grundlegendes Kartenmaterial und Übersetzungen der wichtigsten Worte anzulegen. Das chinesische Handzahlensystem zu kennen ist sicherlich auch hilfreich.

Erzählt sei hier also die Reise einer multinationalen Gesandtschaft von Wissenschaftlern, die sich mit den chinesischen Kollegen über den Zustand der Binnengewässer und die neuesten Forschungsergebnisse und Methoden zur Wasserqualitätsverbesserung auszutauschen. Einer von ihnen, nennen wir ihn Martin, auch wenn dieser typisch deutsche Name hier ohne Belang ist, soll beispielhaft im Fokus dieser Reise ins östliche China stehen.

 


1.      Teil: Konferenz in Nanjing

 

Nachdem ihm der Deutsche akademische Austauschdienst (DAAD) endlich vier Wochen vor Konferenzbeginn die Finanzierung zugesagt hat, muss alles kurzfristig organisiert werden: Flug, Hotels, Visum, Impfungen, private Reiserouten, Geldumtausch und der Vortrag. Bisher waren alle DAAD-Anträge und die Registrierung zur Konferenz lediglich Vorgeplänkel gewesen und er hatte schon bald nicht mehr an die Reise geglaubt, zumal ein Kollege die Zusage schon zwei Wochen zuvor erhalten hatte. Doch jetzt wird es tatsächlich Ernst!

Damit auch ja keine Blamage zu erwarten ist, hat er den Vortrag bereits zwei Wochen vorher fertig gestellt, muss allerdings nach der Probevorstellung vor dem Chef alles noch einmal gründlich ändern. Schließlich übt er die Präsentation jeden Tag mindestens einmal, nimmt alles auf Band auf und verbessert Unglaubwürdigkeiten oder sprachliche Hänger, denn auf Englisch muss man als Nicht-Muttersprachler doch manchmal zweimal überlegen, wie eine Ausdrucksweise wirklich funktioniert. Um die größte Nervosität zu dämpfen, macht er sich immer wieder verschiedene Perspektiven klar, z.B. dass sich hier eine gleichgesinnte Gemeinschaft lediglich über ihre Forschungsergebnisse austauscht und Fehler daher normal sind oder dass die meisten Chinesen noch schlechteres Englisch sprechen als er oder dass sowieso die wenigsten an seinen Ergebnissen interessiert sind oder dass jeder mal eine schlechten Vortrag im Leben hält, usw.

Und dann geht es los: Von Berlin nach Amsterdam und mit zwei Stunden Verspätung, weil die Maschine aufgrund eines Triebwerkschadens ausgetauscht werden muss nach Shanghai – die große Weltstadt.

 

Von Shanghai nach Nanjing – Wie kommt man ohne Chinesisch-Kenntnisse zum Bahnhof? Und zu welchem?

Wer sagt in Shanghai könne man auch Englisch, wird schon am Flughafen mit wenigen Brocken dieser internationalen Weltsprache enttäuscht abgespeist. Folgendes Ereignis erzählt davon:

Nach der Landung dort ist es aufgrund der Verspätung schon unwahrscheinlich noch rechtzeitig im Nanjinger Hotel anzukommen, zumal er erst einmal die U-Bahn zum Bahnhof finden muss. Kaum hat er also das Gepäck abgeholt, tritt schon ein Mann in Uniform auf ihn zu, der ihn in schlechtem Englisch fragt, ob er helfen könne. Eigentlich will Martin nur wissen, wo die U-Bahn abfährt und ob es irgendwo eine Flughafen-Information gibt, wovon aus er das Hotel über seine spätere Ankunft informieren könne. Doch stattdessen versteht der Typ, der Fremde wolle ein Handy kaufen und führt ihn zum chinesischen SIM-Karten-Anbieter um die Ecke, aber noch im Flughafen. Nachdem Martin dem „Informanten“ und den Damen am Handystand zu verstehen gibt, dass sich eine chinesische SIM-Karte für zwei Wochen nicht lohne, sehen die Damen das nach einer Weile auch ein, doch der Mann wird ärgerlich, offensichtlich weil er kein Geschäft mit dem widerspenstigen Westler machen kann. Die Zeit rinnt unterdessen davon und während Martin überlegt, wie er doch noch beim Hotel anrufen könnte, zerrt ihn der chinesische Geschäftsmann zu einem befreundeten Taxifahrer. Während dieses Ganges bemerkt Martin, dass der Informant gar kein Flughafenangestellter ist, sondern eine Hoteluniform trägt. Als er den Uniformträger darauf anspricht, bedeutet dieser ihm plötzlich kein Englisch mehr zu verstehen.

Der „Taxifahrer“ schließlich versteht zumindest, dass es zum Bahnhof nach Nanjing gehen soll. Doch das angebliche Taxi entpuppt sich natürlich als stinknormaler PKW und bevor Martin sich versieht, ist sein Gepäck schon im Kofferraum verschwunden und er muss wohl oder übel einsteigen und das Beste hoffen.

Der erste Blick auf Shanghai
Der erste Blick auf Shanghai

280 Yuan sollte die Fahrt kosten und eine Stunde dauern, das hat der Privattaxifahrer bestätigt und um den Fahrgast abzulenken fragt er in ein paar einstudierten, englischen Sätzen die üblichen Small-Talk fragen: Woher man komme und was man so mache. Die überwiegend restliche Zeit vergeht allerdings mit Schweigen, denn viel mehr weiß der Fahrer nicht in der fremden Sprache zu sagen. Um sicher zu gehen, dass er auch wirklich ankommt, schaltet Martin sicherheitshalber das GPS seines Smartphones ein, was der chinesische Fahrer auch mitbekommt und etwas verlegen grinst: „Ah, GPS? Not far, not far!“

Zumindest stimmt der Ankunftsort und auch die Zeit: nach etwa einer Stunde sind sie da. Nun will Martin bezahlen, doch statt 280 Yuan kostet es auf einmal 300 Yuan – was fast schon zu erwarten war. Nur will der Kerl das Geld in Euro haben: 50 Euro verlangt er, worauf Martin meint, dass er das nicht mache. Dann bekommt er etwas von 10 Euro zu hören und denkt sich, dass das doch ein angemessener Preis sei. Daher gibt er ihm das Geld, soll nun aber noch die 300 Yuan extra bezahlen und protestiert. Da spricht der Chinese plötzlich etwas von Taxi-Servicegebühr, wofür die 10 Euro bestimmt seien und die 300 Yuan nur das reine Fahrtgeld darstellten, obwohl der Typ nicht einmal ein Taxameter im Fahrzeug vorweisen kann. Als Martin dem Windhund schließlich die 300 Yuan aufgrund von Zeitdruck gibt und dafür die 10 Euro wiederhaben will, grinst der Chinese, murmelt mehrmals einen Dank, verbeugt sich und verschwindet im Taxi – so kann man jedenfalls auch Geld loswerden und dann gleich das Doppelte des eigentlichen, ohnehin schon zu hoch abgesprochen Preises, an einen illegalen Taxifahrer. Wenigstens kann dieser nun bei seinen Kollegen erzählen, wie er einen weiteren, ahnungslosen Touri abgezockt hat und wie leicht es ist die trotteligen Europäer auszunehmen.

Mittlerweile ist es Nacht geworden, obwohl die Uhr erst 18:30 lokaler Zeit anzeigt. Nach einigem Umherirren in der riesigen Bahnhofshalle schafft er es endlich eine Fahrkarte nach Nanjing zu ergattern, muss allerdings erst einmal entziffern, welcher Bahnsteig zu nehmen ist und was von diesen chinesischen Zeichen die Abfahrtszeit darstellen soll. Zu alledem gibt es hier wie am Flughafen auch Gates und Sicherheitskontrollen, wodurch er noch nicht einmal direkt zum Bahnsteig vordringen kann. Also fragt er immer mal wieder einen der zahlreichen Polizisten auf sein Ticket deutend und beobachtet die anderen Chinesen, die vor einem der „Gates“ warten. Wie ein Bienenschwarm stürmen diese dann zum Zug, als würde der Erste den einzigen Sitzplatz bekommen. Dabei sind die Sitze mit der Fahrkarte zusammen gebucht!

Eine Station später steigt eine Frau zu, die perfektes Englisch spricht. Sie erklärt ihm schließlich ein paar Sachen über die Bahn und über China. Nach dem sprachlichen Desaster kurz zuvor kommt ihm diese Begegnung wie ein kosmischer Ausgleich vor. Gleich darauf fragt er sich aber auch, ob er das Glück nicht überstrapaziere bzw. was er mache, wenn er kein Glück mehr hat! Oder muss man das Glück versuchen, um es zu trainieren – ganz so wie künstliche, neuronale Netzwerke Intelligenz?

Es dauert nicht lange, da ist ihm jenes Glück schon wieder entglitten. Denn nachdem ihn die Metro in Nanjing einigermaßen umstandslos an die Zielstation gebracht hat, zweifelt er am Adressort des Hotels angekommen, dass es sich jedoch überhaupt um eine Herberge handelt, trotz der vorhandenen Rezeption. Per Übersetzungs-App bekommt er dort mitgeteilt, dass jedes Zimmer belegt sei und seine Buchung nicht existiere bzw. gestrichen wurde. Da er wie gesagt nicht einmal sicher ist, ob er sich hier überhaupt im richtigen Hotel befindet, zieht er entnervt weiter, um ein anderes Hotel zu finden. Es ist mittlerweile gegen 23:00 Uhr. Aber der Jetlag hält ihn wach. Beim nächstgelegenen Hotel gibt es ebenfalls keine Zimmer mehr, sondern nur einen ungläubig blickenden Jungen in der Lobby, der einmal komplett um ihn herum läuft, allerdings ohne etwas zu sagen oder die Augen von ihm lassen zu können. Vielleicht hätte Martin doch einen Koffer statt der Kraxe nehmen sollen? Sieht er etwa aus wie ein Lastenträger? Man empfiehlt ihm jedenfalls ein anderes Hotel im selben Gebäude wie zuvor, nur ein anderer Eingang. Dort erklärt er den beiden Rezeptionistinnen erneut seine Situation und nach einiger, umständlicher, aber meist englischer Diskussion und einem zu hohen Preis von umgerechnet 100 € pro Nacht zeigen ihm die Empfangsdamen ein günstiges Angebot auf der Internetseite des vorigen Hotels – ja, genau: jenes, indem der Junge ungläubig starrte und in welchem auch kein Zimmer mehr frei sei. Dort erneut angekommen gibt es auch plötzlich das Zimmer, aber zum doppelten Preis! Denn er ist Ausländer.

Genervt wandert er weiter, einen Block noch, um zu sehen, ob es nicht noch ein anderes Hotel in der Nähe gibt. Es ist gegen Mitternacht. Da fällt ihm das GTA-Hotel ins Auge. Kundige Computerspieler würden herzlich feiern ob des Namens, bedeutet es doch in dieser Branche sich dem Autodiebstahl im großen Stil hinzugeben. Aber ein Auto hat er ja nicht dabei. Und nach einiger Diskussion mit der gleichen Handy-App wie zuvor, einem weitergeleiteten Telefongespräch mit dem gebrochen englisch-sprechenden Chef und der darauffolgenden Besichtigung des Zimmers, beschließt er auch zu bleiben. Denn es ist geräumig, hat zweit Betten, ein eigenes Bad, ein Fenster (was keine Selbstverständlichkeit ist in chinesischen Hotels) und eine Klimaanlage – bei noch immer schwülen 35°C Außentemperaturen nachts ein wahrer Segen! Ihn beschleicht zwar die Vermutung in einem Stundenhotel abgestiegen zu sein, doch das morgendliche Kindergeschrei spricht dagegen.

Einigermaßen zur Ruhe gekommen fällt ihm auf: Dies ist eine der wenigen Reisen, bei denen er froh ist, wenn sie vorbei sind und als „Geschichte“ erzählt werden können. Denn man fühlt sich einfach nicht wohl, wenn man sich nicht verständigen kann.

Eine weitere Erkenntnis an diesem Abend: chinesische Frauen sind wesentlich freundlicher als Männer. Vielleicht liegt das an dem immer noch starken Rollenverständnis der Chinesen, dass Frauen zierliche Wesen seien, die sich möglichst keiner körperlichen Arbeit hingeben sollten. Darum bewegen sie sich auch stets mit Sonnenschutz unter freier Sonne.

 

Die Purpurberge

Der Schlaf relativiert vieles und natürlich ärgert er sich immer noch über die Fehler und Missverständnisse des Vortages. Doch nun befindet er rechtzeitig am Konferenzort und hat ein Hotel gefunden, das sogar noch ein wenig günstiger ist als das ursprünglich Gebuchte. Außerdem bleibt noch genügend Zeit um etwas die Stadt zu erkunden, bevor der durch getaktete Konferenzplan kaum noch Freizeit übriglässt. Die sogenannten Purpurberge bieten dafür ein gutes Ausflugsziel – sofern man den Zugang findet. Denn zunächst führt keine U-Bahn direkt dorthin, so dass er von der nächstgelegenen Station gute drei Kilometer laufen muss. Normalerweise ist das für ihn kein großes Problem, doch in der Hitze und Schwüle Mittelchinas im August muss man sich jede Bewegung gut überlegen!

Nach einigem Laufen durch die Straßen Nanjings stößt er schließlich an eine Mauer, wundersam hoch… halt – nein, Das war eine andere Geschichte. Jedenfalls scheint es nach erster Begutachtung keinen wirklichen Durchgang zu geben und auch die digitale Karte weist ringsherum keine begehbare Straße aus. Doch wer in Berlin wohnt, der kennt sich mit Mauern aus und deshalb läuft er so lange an ihr entlang, bis er schließlich einen winzigen Durchgang zum dahinter liegenden Park findet.

Einladung zum Wandern, Bambuswald, Observatorium

Und dann beginnt die Ächzerei: statt das Ticket für die Seilbahn zu nehmen, will er sich nach den üppigen Ausgaben des letzten Tages lieber das bisschen Bargeld sparen und geht die endlosen Treppen zu Fuß hinauf, durch Bambuswälder und höllisch lautes Grillengezirp. Nach einer Stunde ist es auch schon geschafft: bis zum alten Observatorium hat er die Hälfte der Gesamthöhe erreicht und Schweiß trieft aus all seinen Poren. Wasser hat er dabei, aber Essen ist rar. Ein Eis muss daher reichen und als Pause vor der weiteren Bergtour gibt er gerne das Eintrittsgeld für einen Blick von der Sternwarte aus.

Nach einiger Überlegung entscheidet er sich doch noch den restlichen Weg zum Gipfel einzuschlagen. Verschwitzt ist er ohnehin schon und Zeit für eine weitere halbe Stunde Aufstieg ist auch noch übrig. Oben angekommen ist das erste, was er sieht: ein KFC-Fastfood-Laden. Es scheint, als hätten die kapitalistischen Amerikaner das „kommunistische“ China schon längst in der Hand. Aber die Zubereitung des Hamburgers als einzige, wählbare Mahlzeit ist immerhin dem chinesischen Gaumen angepasst, mit zähem Hühnerfleisch und Mangolimonade. Zumindest aber entlohnt der Ausblick die Plackerei, wenn es auch recht diesig über die Stadt zu schauen gilt.

Nanjing von den Purpurbergen, Der Aufstieg, Ein Baum?, Ein Buddha!

 

Der Xuanwu-See

So weit, so gut. Nachdem er die Berge bezwungen hat (immerhin handelt es sich um knapp 400 Höhenmeter), will er allerdings auch noch den Xuanwu-See erleben. Denn dieser zeigt sich als wahre Erholungsoase für den gestressten Nanjinger: mit der Legende behaftet einen schwarzen Drachen (wahrscheinlich ein Krokodil) zu beherbergen, gilt der See neben den Purpurbergen als Ausflugsziel schlechthin bei den heimischen Chinesen. Mehrere, über Brücken miteinander verbundene Inseln bieten grüne Wiesen, Teiche und Gärten zum Flanieren und einen herrlichen Blick auf die umgebenen Hochhäuser der Stadt.

Martin allerdings ist auf dem Weg dorthin gerade dabei seine letzten, verbliebenen Wasseratome auszuschwitzen, welche von Hemd und Hose mit letzter Not aufgefangen werden, so dass es aussieht, als würde er schmoren wie ein Schwein im Regenwald – und wer sich das einmal vorgestellt hat, wird das Bild nie mehr los!

Der Stadtsee hält allerdings auch noch eine andere Überraschungen bereit: Was nämlich von den Bergen oben aussah wie ein vorgelagerte Liegewiese erweist sich als Wasserpflanzenmatte – Lotus. Auf den Inseln selbst sind Gärten, Tempel und Pavillons angelegt und hinüber gelangt man über geschwungene Brücken, so dass das Gefühl von vergangenen Tagen entsteht, als hier wohl noch der Kaiser entlang wandelte. Heute allerdings wird man eher von Touristenbussen überfahren. Durch ein imposantes Tor der mächtigen Stadtmauer gelangt man schließlich wieder in den Großstadtbereich.

Xuanwu-See: Lotusblüte, Lotusmatte vor den Purpurbergen, Gartentor auf einer Xuanwu-Insel, Stadtmauer vor der Innenstadt, Boote vor dem Greenland Square Zifeng Turm

 

Die Konferenz der internationalen Gesellschaft von Limnologen (SIL)

Und genau um solche Seen handelt auch die Konferenz. Dem Leser sei darüber nur kurz gesagt: es geht um die Wasserqualität von Binnengewässern.

Gerade noch rechtzeitig kann er die verschwitzten Klamotten im Hotel wechseln und duschen bevor er erneut in die schwüle Hitze hinaus treten muss. Zur Eröffnungszeremonie zu spät zu erscheinen gehört schon fast zum guten Ton und dort offenbart sich ohnehin nur, was ihn die nächsten fünf Tage erwartet: noch mehr schlecht Englisch sprechende Chinesen. Eindrucksvoll gibt sich allerdings das Gelände: zehn Hallen groß genug um einen Jumbojet darin zu parken plus die Kongresshalle, über vier Etagen verteilte Säle, Seminarräume und teils im Rohbau befindliche Toiletten verwirren die Besucher fürs Erste. Auch die künstlerische Darbietung der Konferenzeröffnung überwältigt mit Tanz und Musikern, die abwechselnd je eines der traditionellen Instrumente spielen: die Zither, die Laute, die Geige und die Flöte. Das tun sie auch jeder für sich in hervorragendem Maße, untermalt von kalligraphisch anmutenden Leinwandanimationen im Hintergrund. Was diese Menschen jedoch geritten hat, im Anschluss der Einzelauftritte zusammen unter dem Namen „Edelweiß-Ensemble“ aufzutreten (und hierbei handelt es sich um den Originalnamen, nicht etwa um eine schlechte Übersetzung ins Deutsche) und die entsprechende Alpenmelodie mit Bayrischen Flachdachhäusern auf der Leinwand vorzutragen, muss wohl ein Rätsel bleiben!

Die Konferenzhalle
Die Konferenzhalle

Ihm kommen solche Konferenzen vor wie wenn sich Hunde beschnuppern: sie wollen herausfinden, ob sie miteinander auskommen. Aber ist das wirklich physisch nötig oder um beim Beispiel zu bleiben: olfaktorisch? Muss man um die halbe Welt jetten, nur um sich ein paar Vorträge über Studienergebnisse in schlechtem Englisch anzuhören oder etwa einer mit 50 Folien in 15 Minuten völlig mit Informationen überfrachtete Präsentation hinterher zu hecheln, die man genauso gut auch in der Originalpublikation nachlesen könnte? Kommt es nicht viel mehr auf die Leistung des jeweiligen Wissenschaftlers und auf seine Verlässlichkeit an, z.B. in Bezug auf Zusagen in der Zusammenarbeit? Ja, möchte man sagen. Aber auch gemeinsame Erlebnisse wie ein Geschäftsessen oder eine Exkursion tragen besonders zum Abschätzen der zukünftigen Zusammenarbeit bei und schaffen Vertrauen. Denn Konferenzen werden dann interessant, wenn man mit anderen ins Gespräch kommt, meist ungezwungen und durch Zufall, z.B. weil man am gleichen Tisch diniert (auf welche Weise Martin einen Ungar, Finnen, Kanadier, Polen und mehrere Chinesen kennenlernt) und feststellt, dass man die gleichen Leute kennt oder das gleiche Thema bearbeitet, was sich nach genügend Alkohol aber immer zu Gemeinsamkeiten und über die berüchtigten „Schnapsideen“ auch zu fruchtbaren Kooperationen führen kann, weil der Alkohol zielsicher die Denkhemmungen aufzuheben versteht.

Dass das aber immer durch exzessiven Alkoholkonsum passieren muss, kann Martin einfach nicht einsehen. Wie er von solchen Zufallsbekanntschaften erfährt, führt jedoch genau dieses Verhalten zu geheimen Informationen interner Praktiken darüber wie z.B. Forschungsgelder vergeben werden: zum einen muss man auf den Trend aufspringen (also derzeit irgendein Projekt mit China anleiern) und zum anderen mit den entsprechenden Entscheidungsträgern Brüderschaft trinken.

Der Plenarsaal, Der Heimweg, Ein „besseres“ Hotel
Der Plenarsaal, Der Heimweg, Ein „besseres“ Hotel

Der Ablauf der Konferenz gestaltet sich jeden Tag mehr oder gleich: Man geht zu Vorträgen, zu den Kaffeepausen, trifft meistens seine bekannten Kollegen vom beheimateten Institut und ab und zu auch mal auf einen noch unbekannten Wissenschaftler – durch Zufall oder weil sich einer von beiden in den Kopf gesetzt hat, mit dem anderen unbedingt sprechen zu wollen. Wenn man Glück hat, findet der eigene Vortrag Montagmorgen statt und wenn man ihn gut präsentiert, erinnern sich auch noch ein paar Leute daran und sprechen einen an, diskutieren über die Ergebnisse und Methoden oder bieten zukünftige Kooperationen an. Martin selbst tritt mit einem Äthiopier ins Gespräch, um ihm Ökosystemleistungen als mögliches Druckmittel für die örtliche Politik vorzuschlagen, damit die Akzeptanz von Maßnahmen für besseres Flusswasser steigt.

Hat man allerdings Pech, so wie Martin, dann ist der eigene Vortrag der allerletzte der ganzen Konferenz am Donnerstagnachmittag und so ist für ihn die ganze Woche ein ständiges Ausharren, ob denn der Vortrag auch gelingen wird. Denn gerade englische Fragen von Chinesen im Anschluss an den Vortrag gestellt können sehr unverständlich und daher unangenehm sein. Glücklicherweise kann er alle Fragen beantworten und es stellt sich heraus, dass das Interesse an seinem Thema einigermaßen groß ist, denn der Seminarraum ist zu Dreivierteln belegt. Ganz falsch kann seine Forschungsrichtung also nicht sein.

Abends finden dann die Gesellschaftsdinner statt, wo örtliche Spezialitäten auf einer gläsernen Drehscheibe in der Mitte der runden Tafel aufgetischt werden: neben Algensalat, kleingehacktem Fleisch am Knochen, Erdnüssen, gekochtem Aal und einem nackten Suppenhuhn gibt es auch Seegurke und getrocknete Quallen. Zuerst denkt er letzteres seien Trockenfrüchte und will schon zugreifen, hält aber inne, als er von den neuen Bekannten vom Karlsruher KIT erfährt, worum was es sich dabei handelt. Auch die glitschigen Seegurken erweisen sich als widerspenstig, da sie mit den glatten Stäbchen kaum zu fassen sind. Als er es endlich unter dem Gelächter der Chinesen am Tisch geschafft hat doch noch eine Seegurke auf seinem Teller zu transferieren, legt er sie nach einem Bissen auch schon wieder dezent zur Seite. In China gilt es ja ohnehin als höflich, etwas auf dem Teller übrig zu lassen.

Kurios: Ein Chinese vom Organisationsteam fragt ihn auf dem Gang in gebrochenem Englisch, ob er wüsste wo das Dinner stattfindet. Auf seine sofortige Antwort es sei im dritten Stock, fragt der Chinese zurück, ob Martin es auch sicher wüsste und ließ schließlich etwas unbefriedigt von Martin ab, als dieser dem Chinesen mit Sicherheit bestätigte, es sei die Tage zuvor immer dort gewesen.

Auf der Abschlussparty staunt Martin immer wieder, wie agil selbst die älteren Konferenzteilnehmer das Tanzbein schwingen. Da rockt und rollt so mancher Forscher (nicht selten angestachelt durch die Macht des Alkohols) u.a. zu „Gangnam Style“ durch die ganze Nacht.

 

Schließlich gibt es noch einen Exkursionstag, an dem man sich entscheiden muss, zu welchem Thema und an welchen von fünf Orten man kutschiert werden möchte. Martin wählt wie fast alle den Taihu-See bei Wuxi, einen der größten Seen Chinas mit einer extremen Eutrophierung im Sommer, so dass fast die komplette Wasseroberfläche von der dreifachen Größe Berlins durch die Algen giftgrün gefärbt erscheint. Für die Millionenstädte ringsherum sind die Algen allerdings eine Katastrophe im Hinblick auf die Trinkwassernutzung des Sees, da solche Algen sehr giftig sein können. Was überlegt sich also der schlaue, chinesische Ingenieur? Lasst uns doch einen Kanal zum Jangtse bauen und das Wasser dorthin umleiten. Blöd nur, wenn das Wasser mit den gleichen Algen auf der anderen Seite wieder in den See eingeschwemmt wird. Die nächste Idee: für 2 Milliarden US-Dollar die Algen in einer Filteranlage fangen und in ein unterirdisches Reservoir pumpen. Aber auch blöd, dass die gleichen Algen auf der anderen Seite mitsamt dem Wasser wieder hochgepumpt werden. Einfacher wäre es natürlich Kläranlagen gegen die Algennährstoffe im Abwasser zu bauen und Uferrandstreifen gegen den Nährstoffeintrag durch den landwirtschaftlichen Dünger. Aber dieser Vorzug von Ingenieurslösungen als Schnellschuss gegenüber ökologisch-naturwissenschaftlichen Ansätzen ist irgendwie auch typisch für China.

Sonnenschutz auf dem E-Roller, Massiver Wohnungsbau in Wuxi, Lotusverkauf
Sonnenschutz auf dem E-Roller, Massiver Wohnungsbau in Wuxi, Lotusverkauf

An diesem Tag allerdings ist von der Algenblüte kaum etwas zu sehen, denn der Taifun eine Woche zuvor hat die Algen verweht. Eine weitere Zufallsbekanntschaft mit möglicherweise zukunftsweisendem Charakter ist der kanadische Professor, der neben ihm Bus sitzt und während der stundenlangen Fahrt so einige interessante Geschichten über seine Universitätsstadt in Quebec City, aber auch über seine Forschung in den arktischen und antarktischen Polarseen erzählt. Vielleicht wäre es eine Option für eine wissenschaftliche Karriere?

Algenblüte, Wuxi, Taihu-Inseln, Alte Fischerboote

 

Allein in Nanjing

Dann ist die Konferenz auch schon vorbei und er versucht sich allein weiter durch China zu schlagen. Gleich am nächsten Tag lockt Shanghai, das er bisher nur als Durchgangsstation erfahren hat. Doch auf dem Weg dorthin und zum Bahnhof gilt es noch das alte, wahre Nanjing zu erfahren: den Kern der einstigen Kaiserstadt.

Altstadt von Nanjing
Altstadt von Nanjing

Das Zentrum dessen ist das Viertel um den Konfuziustempel mit seinen Kanälen und alten Herrenhäusern. Aber die tatsächliche Pracht liegt beim daoistischen Gujiming-Tempel vor der großen Stadtmauer, direkt am Xuanwu-See. Mit den zwei Rucksäcken, der großen Kraxe huckepack und dem kleineren für Tagesausflüge bäuchlings staunt sich Martin durch die alte Kaiser-Metropole. Ein chinesischer Tourist spricht ihn auch darauf an und fragt auf Englisch, ob das nicht schwer sei und er antwortet müde: „Stimmt: das ist es.“ Aber das ist es wert!

Große Stadtmauer und Xuanwu-See, Innenleben des Gujiming-Tempels, Gujiming-Tempel und Skyline

Dennoch wiegt die Last immer schwerer mit der Zeit und den Schritten, nicht zuletzt unterstützt von der drückenden Hitze und der hohen Luftfeuchtigkeit. Am See entlang wandelt er noch durch den konfuzianischen Xuanpu-Park, mit den Schautanztruppen und dem Karaokepavillon, um bereits kurz nach Mittag ermattet am Bahnhof nach Shanghai anzukommen.

Xuanpu-Park am Xuanwu-See
Xuanpu-Park am Xuanwu-See

Die Fahrt nach Shanghai verläuft endlich einmal unaufgeregt und auch das Hotel kennt noch seiner Reservierung, so dass er die Eindrücke an sich vorüberziehen lassen kann:

-         Alles muss schnell gehen: ob beim Drängeln in die U-Bahn, der Ticketverkauf am Bahnschalter oder das Bauen von gänzlich neuen Städten. Dass sich dabei zwangsläufig Fehler durch zu wenige Kontrollinstanzen einschleichen, zeigt sich schon am Programmheft der Konferenz: doppelte Seiten, Schreibfehler in rauen Mengen und Länderflaggen werden einfach mal falsch herum dargestellt. Bei Deutschland fällt das zwar auf, löst aber nicht gleich einen politischen Skandal aus. Was Aber, wenn man die Niederlande mit Luxemburg verwechselt? Oder Polen mit Malta? Oder gar Serbien mit Kroatien?

-      Geschäftliches Glück und Pech liegen in China oft nebeneinander: Hatte ihn anfangs der Taxifahrer um 10 Euro gebracht (und wahrscheinlich auch noch wesentlich mehr verlangt als üblich wäre), so bekam er beim Bankautomaten 200 Yuan zu viel ausgezahlt. Fand er anfangs keine Bleibe, weil die Reservierung storniert wurde, konnte er dann doch zu einem günstigeren Preis ein anderes Hotel finden, usw. Vielleicht stellt sich am Ende allerdings heraus, dass ihm die Rechnung für das erste Hotel und das Geld vom Bankautomaten doppelt vom Konto abgezogen wurde. Doch wir werden sehen.

-            Über China: nachdem der chinesische Drache vom englischen Opiumgift scheinbar vernichtet wurde und die Europäer und Amerikaner in seinem Blut badeten, erhebt er sich nun feuerrot und durstig auf die Welt aus seinem Schlaf.

 


2.      Teil: Stadt und Land

 

Shanghai – eine wahre Weltstadt

Schon nach den ersten Stunden ist ihm klar: Nanjing ist schöner als Shanghai, weil es Geschichte hat, ruhiger, grüner und kleiner ist. Shanghai erinnert mit seinem Wolkenkratzermassaker dagegen nicht nur optisch an Dubai, welches ja ebenso jung ist.

Noch am selben Abend in Shanghai trifft er auf der Nanjing-Road auch schon den persischen Arbeitskollegen aus Berlin wieder. ‚So groß kann die Stadt also nicht sein‘, denkt er sich – es ist mit ja gerade einmal 24 Millionen Einwohnern auch bloß die drittgrößte Stadt der Welt! Trotz der von den Reklameschildern hell erleuchteten Innenstadt hat die Nanjing-Road aber auch ihre Schattenseiten: Was in anderen, meist europäischen Städten die Drogenhändler auf den Straßen sind und einem nachts ihr Oregano für Cannabis andrehen wollen, sind hier die „Massage“-Vertreter, die oft auch ganz offen „Sex“ und junge Frauen anbieten. Wie viel „jung“ oder „Frau“ wirklich dahinter steckt, ist allerdings eine andere Frage, die Martin lieber nicht beantworten wollte.

Die Prachtpromenade „Bund“ zu erreichen erscheint fast aussichtlos, vor allem bei Nacht. Denn tausende von Menschen strömen jeden Abend hier her, um die Skyline auf der anderen Huangpu-Uferseite zu sehen. Die Lautsprecher rufen alle fünf Sekunden anscheinend zum maßvollen Umgang miteinander auf, er kann es jedenfalls nicht verstehen. Aber was hieran noch maßvoll sein sollte, wäre ohnehin maßlos untertrieben!

Shanghai: Der dystopische Turm über der Nanjing Road, Feuer in der Nacht, Shanghais Skyline, Der „Bund“

An diesem Beispiel des übermäßigen Gedränges sieht er, dass China den Kapitalismus mit dem Kommunismus vereint, aber es scheint vor allem die schlechten Seiten zusammen zu bringen: Statusdenken und Ellenbogengesellschaft des Kapitalmarktes mit Überwachung und Einschränkungen in der persönlichen Freiheit des Kommunismus bzw. einer Diktatur. So ist Schlange stehen in China zwar normal, aber warum sollte man sich hinten anstellen, wenn man vorne schneller dran ist? Entsprechend oft wird er einfach übergangen.

 

Schließlich bleibt nur noch die Flucht aus der Zivilisation. Am besten weit wech und hoch hinaus: ins Huangshan-Gebirge. Gleich am nächsten Morgen nach seiner abendlichen Ankunft in Shanghai will er dorthin aufbrechen, so gut gefällt es ihm in der Großstadt. Nach der mittlerweile gewohnten Wartezeit am Fahrkartenschalter hört er mit etwas Misstrauen, dass die immerhin etwas Englisch sprechende Ticketverkäuferin wirklich fragt, ob er heute noch fahren möchte. Dabei hat der Tag doch gerade erst angefangen! Aber lediglich 20:00 Uhr ist noch eine Fahrkarte für den Zug zu haben und deshalb muss er sich wohl die Zeit bis dorthin doch wieder in dem geliebten Menschendschungel vertreiben.

So lockt beispielsweise der buddhistische Jing’an-Tempel, unweit des Nordbahnhofs mit seinen entspannten Golddächern und traditionellen Zügen als Oase der Verweilung. Dort kann man auch wunderbar den Mönchen bei ihren Ritualen zusehen oder den Touristen beim Versuch Münzen in den Glücksschrein zu schmeißen. Martin selbst gelingt dieses Kunststück nach andauernden Studien der Chinesen, zumindest auf die untere Ebene des Schreins. Doch nimmt er von weiteren Versuchen Abstand, als eine seiner Münzen unglücklich vom Metall abprallt und einer Chinesin beinahe ins Auge springt. So viel zum „Glücksschrein“. Vielleicht sollte man sich doch nicht zu oft an Fortunas Busen laben oder ihr gar dauerhaft nachstellen und sie einzufangen wollen.

Jing’an-Tempel
Jing’an-Tempel

Beim Yuyuan-Park spricht ihn eine Frau mit ihrem Smartphone an. Sie möchte ein Foto von ihr mit einem seltsam heruntergekommenen Haus im Hintergrund geknipst haben. Ohne seine Frage abzuwarten erklärt sie auch schon auf Englisch, es sei das berühmte, japanische Viertel, das sie hier vor sich hätten und dass sie Englischlehrerin sei, allerdings für die Grundschule. Dann geht der Redeschwall weiter: woher er komme, wohin er gehe, wie lange er schon in China sei und zu welchem Zwecke – und ob er denn nicht Lust auf eine traditionelle Teezeremonie hätte. Er stimmt zu, da sein Zug ohnehin erst am späten Abend fährt und der Tag ein wenig verloren scheint – bis jetzt.

 

Sie erzählt auch von ihrer Suche nach einem festen Freund und vom Heiratsmarkt im Shanghaier Volkspark, als beide schon längst in der winzigen Teestube (die eher einer Garage gleicht und ohne Tür daher kommt, sondern nur mit einem Plastikvorhang von der Straße abgetrennt ist) der Teezeremonienmeisterin gegenüber sitzen. Diese tischt nacheinander sechs verschiedene Teesorten auf: Oolong (= für Familie), Ginseng (= fürs Gedächtnis), Früchte (= für die Nieren), Dai Hong Pao (= für Romantik), grünen Tee (= gegen Augenringe) und weißen Tee (= für Geld) auf. In den Bedeutungen der Teesorten spiegelt sich für ihn auch die chinesische Gedankenwelt und das Wertesystem wider. Als die Englischgrundschullehrerin meint, der Romantiktee sei für sie am besten geeignet, hat er bereits bei vorheriger Gelegenheit in weiser Voraussicht erwähnt, seine Freundin hätte ihm in Vorbereitung auf die Reise einen China-Reiseführer geschenkt, um sie auf Abstand zu halten. Wenig abgeschreckt übersetzt sie munter weiter, was die Zeremonienmeisterin erklärt. Am Ende sind die Gäste mit ihren bevorzugten Teesorten in einem hübschen Metalldöschen versorgt, müssen jedoch für das etwas halbstündige Erlebnis jeweils gute 1000 Yuan hinlegen.

Bis zum Yuyuan-Park begleitet die englischkundige Chinesin ihn noch, dann will sie shoppen gehen. Wenig Geld kann sie also nicht gerade haben, wenn sie so einfach eine derart kostspielige Teezeremonie mitmacht, ihm am Ende obendrein noch eine ihrer zwei Dosen schenkt und offensichtlich allein und ohne zahlungskräftigen Ehemann lebt. Noch bevor er ein entsprechendes Gegengeschenk erwidern kann, ist sie auch schon verschwunden, mit dem Versprechen irgendwann einmal nach Deutschland zu kommen und sich von ihm ein Bier ausgeben zu lassen. ,Na klar!‘, denkt er bezweifelnd und widmet sich dem eigentlichen Anliegen des Tages: dem Yu-Yuan-Park.

Yu-Yuan-Park
Yu-Yuan-Park

Angeblich 500 Jahre alt und mit seinen umliegenden, feudalen Wohnhäusern der ehemaligen Oberschicht eines der letzten Relikte des alten Shanghai bzw. seiner umliegenden Städte zeigt dieser Garten, dass offensichtlich nicht die Engländer die Landschaftsarchitektur erfunden haben. Prachtvoll, verspielt und mystisch lustwandelt es sich hier! Das wissen natürlich auch die Händler, so dass die Souvenirläden saftige Aufschläge für ihre Waren verlangen. Wie sich ihm später herausstellt, verhält es sich jedoch mit der Qualität ähnlich schlecht wie mit den Billigandenken in den Straßen direkt um den Park herum. Es ist eben „Made in China“. Im Ursprungsland der Billigkopien kann er sich nicht einmal darüber aufregen, dass es nur aus Fernost kommt. Aber wie so oft mag das der Preis für die Umgebung sein: war der Garten bezaubernd gewesen, ist es das umliegende, ehemalige Patrizierviertel genauso. Die detailverliebten Fassaden der typischen Chinesenhäuser gipfeln hier in einer ungeahnten Dichte – genauso wie die Menschenmassen. Mehr als sich mitschieben lassen geht nicht. Nur hier stellt man sich allerdings auf fremdländische Touristen ein, denn es ist der einzige Ort, an dem er bisher Postkarten gefunden hat! Diese westliche Tradition ist entweder nie in China angekommen (weil Urlaube dort noch nicht so lange Mode sind) oder man ist gleich auf die Urlaubsgrüße per Smartphone übergegangen. Denn die meisten bezahlen auch nur noch mit diesem Allzweckgerät.

Yuan-Viertel
Yuan-Viertel

Technik in China funktioniert allerdings selten richtig gut: Wo man am Bankautomaten zu viel Geld bekommen kann, steckt man eine um die andere Münze am Metroautomaten zu viel ein, ohne dass sie gezählt würden. Auf Scheine reagiert der Automat oft gar nicht oder erst nach andauernder, wüster Beschimpfung. Man sollte also genügend Münzen zur Hand haben.

Das bemerkt Martin auch, als er noch einmal vor der Fahrt ins Gebirge Geld abheben will: Am Geldautomaten steht eine kleine, alte Frau vor ihm und versucht wohl eine Summe abzuheben, die ihr Bankkonto nicht erlaubt, denn es steht auf umgerechnet ca. 60 Euro. Ungläubig fährt sie die chinesischen Zeichen auf dem Bildschirm mit dem Finger nach, als könnte sie ebenso wenig wie der Fremde hinter ihre die Schrift nicht lesen oder einfach nicht glauben, wie verloren sie in dieser Gesellschaft ist, ohne genügend Geld. Als sie sich schließlich entmutigt abwendet, will er schon zum Automaten vor treten, als sie noch einmal wieder kommt und ihr Glück erneut versucht. Wie an einem Spielautomaten steht sie noch lange davor und drückt alle verfügbaren Knöpfe, als Martin sich schon längst nach einem anderen Geldgerät umschaut. China ist stark und es erwacht gerade erst, aber dabei hängt es auch viele ab, die versuchen irgendwie Schritt zu halten. Die vielen, einfachen Arbeiter auf der Straße, die Straßenfeger, fahrenden Händler, Taxifahrer erzählen davon, aber auch die Bettler und Flaschensammler.

Doch wie ein guter Wissenschaftler es eben macht, hält er sich aus dem Alltagsleben der Chinesen weitestgehend heraus. Die Bettler gehen ihn nichts an und er versucht ohne große Interaktion seine Interessen zu verfolgen. Freilich, wenn jemand akut seine Hilfe benötigen würde, griffe ein. Aber er drängt sich nicht auf, sondern beobachtet nur und beschreibt, was er sieht. Vielleicht ist es die Mentalität eines Naturliebhabers oder Wissenschaftlers, die ihn dazu bewegt nichts zurückzulassen und nichts mitzunehmen, außer Proben in Form von Fotos und Eindrücken, um sie später in geschützter Umgebung zu verarbeiten. Er glaubt bloß das Ökosystem zu studieren und ist dennoch ein Teil davon. Denn scheint es auch noch so fremd und die Kultur unverständlich, so haben doch auch die Chinesen das gleiche Bedürfnis nach Anerkennung, nach Idealen und Zielen im Leben wie er und alle anderen „Westler“. Das ist wohl der Grund, dass Chinesen die Exotik von Fremden ohne Schlitzaugen begaffen: Kinder im Vorschulalter sind noch unvoreingenommen, so fragt ihn ein kleines Mädchen irgendetwas auf Chinesisch und läuft erschrocken und laut schreiend weg, als er ihr auf Englisch antwortet, dass er sie nicht versteht. Schulkinder und alte Menschen dagegen starren Fremde ohne Schlitzaugen mitunter verwundert und ungläubig an, als würden sie Geister sehen oder träumen. Studenten und jüngere Erwachsene dagegen halten Westler für ein normales Phänomen und würdigen höchstens ihr Geld. So ungläubig wie die Chinesen ihn anstarrten, schaut er allerdings auch nach einer Woche mittlerweile die Nichtasiaten an, weil es einfach so wenige davon unter der schieren Masse von Chinesen gibt. Da kommt es selbst einem Westler seltsam vor in ein „normales“ Gesicht zu blicken.

Es kann auch gut sein, dass es eine Masche der Chinesen ist Passanten auf der Straße um ein Foto zu bitten, um Kunden in ein solches Teehaus zu locken, wie es ihm vor dem Park erging. Denn als er in Yu-Yuang einem chinesischen Paar begegnete, wollten dieses auch ein Foto von sich vor dem Eingang zur Altstadt haben und die Frau erspähte dabei seine Teebüchsen im Beutel mit der anschließenden Frage wo er die denn gekauft hätte, da dies besonders guter Tee sei. Vielleicht wollte sie seine Entscheidung nur bekräftigen? Vielleicht wurde er auch einfach nur paranoid.

 

Huangshan – Die Gelben Berge im Himmel

Beim Aufbruch ins Huangshangebirge lässt er seine Sachen im Hotel – und ist gespannt, ob alles noch da sein wird. Mittlerweile glaubt er zwar nicht mehr die chinesischen Putzfrauen würden etwas stehlen, sondern eher den Raum säubern und von überflüssigem Ballast „befreien“. Immerhin hat er im Voraus bezahlt und wer nicht mehr erscheint, der wird eben durch den nächsten Gast ersetzt. Darum stellt er die Anzeige vor dem Zimmer auf „bitte nicht stören“. Allerdings hatte das beim letzten Mal auch nichts gebracht und so musste er feststellen, dass sowohl die angefangene Seife wie auch die Bettwäsche und Handtücher ersetzt worden waren. Um daher zu zeigen, dass er zumindest noch eine der beiden fehlenden Nächte im Zimmer wird geschlafen haben können, faltet er nun außerdem noch die Bettdecke zurück, lässt sie zerknittert liegen und verteilt ein paar Haare auf dem Kopfkissen, so dass es am nächsten Tag den Anschein machen wird, als hätte er darin geschlafen.

Morgen auf dem Chinesischen Land
Morgen auf dem Chinesischen Land

In den Abendstunden fährt nun der Zug nach Tunxi-Huangshan ab. Ein bisschen mulmig ist ihm schon dabei, denn wie spät wird er denn nun ankommen, um rechtzeitig im Hotel einzuchecken? Immerhin muss er morgens vor sechs Uhr aufstehen, um die bereits gebuchte Bustour vor einem noch ganz anderen Hotel zu erwischen.

Als er den Zug sieht, verstärkt sich dieses ungute Gefühl zusätzlich. Denn die Waggons sind von älterer Bauart, dem Aussehen nach aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Er wird statt den vermuteten zwei Stunden nach Aussage der Englischlehrerin wohl eher das Doppelte brauchen.

Wie sich nach einiger Zeit durch den Schaffner und durch die mühsam von der Übersetzungsapp abgemalten Zeichen herausstellt, soll die gesamte Fahrt sogar elf Stunden dauern, denn es geht zuerst nach Nanjing. Das bedeutet auch, die Bustour wird genau um eine Stunde verpasst werden – ganz zu schweigen vom Hotel und der bevorstehenden Nacht im Zug. Chinesische Züge sind pünktlich, aber schneller als nach Fahrplan kommen sie leider auch nicht an.

Immerhin führt die Fahrt zum gewünschten Ort. Doch so lange eingepfercht auf den engen Sitzen findet er kaum Schlaf und die altbekannten Rückenschmerzen vom stundenlangen Sitzen im Büro plagen ihn von Stunde zu Stunde mehr. Freie Plätze zum Ausstrecken gibt es auch nicht, denn kaum wird ein Platz durch den Ausstieg von Fahrgästen frei, besetzt ihn schon der Nächste als ob sämtliche Plätze perfekt ausgelastet seien.

Nach solch qualvollen Erlebnissen und der vergebenen Hoffnung auf Einhaltung der Zeitpläne, will er eigentlich nur schnellstmöglich zurück. Aber noch einmal elf Stunden im Zug sitzen? Zumindest muss erst einmal die Rückfahrtkarte her und auf dem Weg vom Bahnsteig zurück zum Bahnhofsgebäude spricht ihn eine Frau an, offensichtlich um ihm eine Taxifahrt anzudrehen. In erstaunlich gutem Englisch überzeugt sie ihn in die Berge zu fahren und am verpassten Hotel vorbei, um dort die Übernachtungen zu stornieren, so dass er ohnehin resigniert von den jüngsten Fehlschlägen einwilligt. Auch wenn es auf diese Weise vermutlich wieder teurer werden wird.

So kommt es, dass sie ihm nützliche Tipps zu den Bergen gibt und eine Wanderroute sowie ein Hotel zu Füßen der Berge empfiehlt. Natürlich kennt sie die dortigen Rezeptionistinnen, aber wenn sie ihm so patent als Reiseführerin zur Seite steht, ihm hilft das richtige Zugticket für den Schnellzug nach Shanghai zu lösen, zu einem Geldautomaten und zur Busstation für die Seilbahnen zu fahren (ohne Aufpreis zu verlangen), soll sie ihren geldwerten Vorteil auch erhalten.

Da er nun um 7:15 in der Frühe in Tunxi-Huangshan angekommen war, steht der Tag zur Erkundung der Berge reichlich zur Verfügung. Hoffnung kehrt zurück, die ursprünglich geplanten Erlebnisse doch abarbeiten zu können, nun allerdings gewürzt von abenteuerlichen Fehlschlägen – eben jene Abenteuer, die das Reisen ausmachen. Sonst könnte man sich ja auch Reiseberichte von anderen Leuten durchlesen!

 

Tangkouzhen, Auf Talstation, Bambusstauden
Tangkouzhen, Auf Talstation, Bambusstauden

Hinauf trägt ihn die Seilbahn durch immer dichter werdenden Nebel bis oben an der Endstation schließlich gar nichts mehr zu sehen ist. Die Chinesen knipsen dennoch fleißig mit erstaunten Ausrufen die sich kaum aus dem Dunst abzeichnenden Schatten von Bäumen – oder sind es Felsen? Ganze Familien und Reisegruppen, gehüllt in Regencapes aus Plastik erschweren das Vorankommen auf den glitschigen Steinstufen. Vom Osteingang des Parks, der offiziell zum Stadtgebiet Huangshan-City gehört, bis zum Nordeingang bleibt es neblig. Dann jedoch, gegen Mittag und etwas tiefer gelegen, geben die Wolken spärliche Blicke in die Täler frei und er beginnt zu begreifen, warum sich derart viele Chinesen auf den Felspfaden versammeln, weshalb Wasser- und Lastenträger Waren und Menschen von einem riesigen Hotel auf knapp 2000 Meter Höhe zum anderen schleppen und selbst der Kaiser einst hier weilte. Denn mit den wilden Schluchten, steilen Felsnadeln, einsamen Kiefern, teils vom Nebel verdeckt, vor den weiten Landschaften der Bambuswälderberge bietet dieses Gebirge eine Kulisse für Göttervorstellungen, wie sie die alten Griechen für den Olymp erschufen oder die Inka in den Anden Perus entwickelten. Hier berühren die Berge nicht nur den Himmel, sondern sind von ihm umgeben. Man könnte sie auch die Himmelsberge nennen, denn sie liegen über den Wolken und Wasser rinnt von ihnen herab wie auch Regen von den Bäumen.

Lebensweise im Huangshan-Gebirge: Trage, Träger, Träge Träume
Lebensweise im Huangshan-Gebirge: Trage, Träger, Träge Träume

Auf den zahlreichen, gut ausgebauten Wegen durch die verschiedenen Gipfel begegnet er nicht nur Familien mit Kindern und den erwähnten Lastenträgern. Auch kleine Hunde (hierzulande bekannt als „Fußhupen“) werden mit heraufgezerrt und eine Mutter schleppt sogar ihr Kleinkind über die rutschigen Stufen. Die Saubermänner räumen selbst in den Bergen den Müll zusammen, den die Leute oft achtlos wegwerfen, so dass es überall reinlich aussieht.

Erstaunlich viele Chinesen nehmen ihr ganzes Englisch zusammen um ihn nach dem Weg zu fragen, obwohl Wegweiser reichlich vorhanden und Smartphones mit GPS- und Internetkarten ausgestattet sind. Doch entweder gibt es hier oben nur schlechten Empfang oder man kennt keine offline-GPS-Navigation, so seine Erklärung. Seine Apps jedenfalls sagen ihm die Position genau an.

Das Huangshangebirge Teil 1

Als er gegen Nachmittag gerade durch eine besonders spektakuläre Schlucht kommt, die sich einem erstaunlichen Grad anschließt, entscheidet er allerdings besser zurück zu gehen, um die Seilbahn ins Tal nicht zu verpassen und keine schlecht ausgeschilderten Wege zu beschreiten. Denn trotz digitaler Navigationsunterstützung wird es hier gegen halb sieben dunkel und die Handyakkus haben schon zu viel Energie gezogen. Außerdem war ihm noch vor der Abreise von seiner Familie gesagt worden, er solle sich nicht in Gefahr begeben und um ihnen etwas entgegen zu kommen, tritt er seinethalben den Rückweg an, verpasst aber dennoch die letzte Seilbahn talwärts, weil sich eine Reisegruppe vordrängelt. So liegt ein knapp zweistündiger Fußmarsch vor ihm und unterwegs begegnen ihm Menschen, deren Wadenkrämpfe sie durch die steilen Stufen zu etlichen Pausen zwingen oder deren Wasser ausgegangen ist und denen er von seinem Vorrat abgibt. Endlich auf etwa 900 Metern beginnt der Bambus wieder zu wachsen, also dort, wo die südliche Talbahnstation beginnt.

Noch mehr Huangshan-Gebirge (Teil 2)

Wie sich herausstellt, ist es unten im Tal gar nicht so einfach im Dunkeln das Hotel wieder zu finden. Der Erste, den er fragt, weiß es auch nicht. Der Zweite hat keine Brille dabei und erst ein Vater mit seiner Tochter und einem Sohn samt Smartphone kennen wohl dieses Hotel und begleiten ihn in die gleiche Richtung. Nach etwa einem Kilometer des überwiegenden Schweigens durch die starke Sprachbarriere erreicht er das seine Heimstätte und kann endlich duschen und ausschlafen, nach der überwiegend durchwachten Nacht zuvor. Das Angebot an die drei Chinesen (ohne Kontrabass) von seinen kurz zuvor erworbenen Gebäckstücken als Dank zu kosten schlagen diese allerdings aus und folgen weiter ihren eigenen Lebenswegen.

Und wer immer noch nicht genug hat: Huangshan-Gebirge 3. Teil

Nächstmorgens wartet schon die Taxifahrerin „Jane“ auf ihn, um sich wohl wieder ein fettes Gehalt zu verdienen. Eigentlich will er den Bus nehmen, aber da sie mit dem Preis um 60 Yuan runter geht und um sich Stress mit dem Finden der richtigen Bus- und Bahnstation zu sparen, nimmt er das Angebot an. Grinsend fragt sie schließlich unterwegs, ob er nicht auch 10 Yuan mehr bezahlen würde. Als er ihr mit einem Lächeln zu verstehen gab, dass sie sich bereits vor der Fahrt auf einen Preis geeinigt hatten und dass es also nicht nett von ihr war nun mehr zu verlangen, lässt sie das Thema vorerst auf sich beruhen. Beim Tanken schließlich hat sie wie schon tags zuvor nicht genügend Bargeld dabei, weswegen sie ihn darum bittet schon vor Fahrtende zu bezahlen, was wiederum die Preisfrage erneut aufwirft. Da sie sich als ortskundige und hilfsbereite Reiseführerin erwiesen hat, Chinesen aber kein Trinkgeld annehmen, sagt er ihr, er würde das Problem auf europäischem Wege lösen: die 10 Yuan extra betrachtetet er als Trinkgeld für ihre Hilfe und damit sie tanken könne. Wie sich herausstellt, war das eine gute Entscheidung, da zum einen ein anderer Bahnhof für den Schnellzug nach Shanghai zuständig ist als er annahm und zudem sie ihn unterwegs noch an einem alten, historischen Dorf vorbeifährt, um ihm einen Eindruck vom ländlichen und alten China zu vermitteln.

Altes, belebtes Museumsdorf Huizhou

Tatsächlich erfährt er auch so einiges über ihr Leben „auf dem Land“ – also in einer Stadt mit nur 100.000 Einwohnern. So lernte sie beispielsweise zunächst als Industriearbeiterin Kleider maschinell zu nähen, bevor ihr Betrieb aufgelöst wurde und sie mit ihrem Mann seit nunmehr 17 Jahren Taxi fährt. Es scheint einer der besseren Arbeiten zu sein, denn ihre Tochter kann 500 km entfernt studieren und sie zieht sich selbst im Auto Sonnenschutzkleidung über, um hellhäutig zu bleiben. Genau das machen eher die besseren Chinesen, um einen höheren Gesellschaftsstatus anzuzeigen. Ein wenig Anschein von lichtscheuen Vampiren hat das schon für ihn, wogegen allerdings der ausgiebige Genuss von Knoblauch in China spricht.

Die Taxifahrerin wollte zwar mehr Geld haben, aber Trinkgeld wollte sie nicht. Auch der Taxifahrer zu Beginn in Shanghai hatte letztlich mehr verlangt als ihm zustand, aber hätte er Martin deshalb beklaut? Durch viele andere, solcher kleinen Begegnungen denkt er sich, dass man in China lieber die Menschen überredet freiwillig mehr Geld zu bezahlen als Almosen von ihnen zu bekommen.

Der Schnellzug hält tatsächlich was er verspricht und so lässt er innerhalb von vier Stunden Huangshan, Shangao, Quzhou, Jinhua, Hangzhou und Jiaxing hinter sich, bevor er wieder in Shanghai einfährt.

Zugfahrt vom Huangshan nach Shanghai

An die allgemeine Geräuschkulisse muss man sich allerdings erst gewöhnen: Da wird Schleim in den Rachenwänden und aus der Nase gezogen, um ihn im Mund zu einer ausspuckbaren Masse zu formen; Hupen auf den Straßen ist normaler als man es in Deutschland kennt, auch wenn „Hupen-verboten-Schilder“ aufgestellt sind; sämtliche Smartphonetöne sind auf volle Lautstärke eingestellt, um ja keine Werbenachricht zu verpassen oder Filme im Zug nicht bloß sehen zu können, sondern gleich alle anderen mithören zu lassen (Kopfhörer würden ja auch einfach zu sehr stören); und man schreit sich eher einmal an, um seine Meinung kund zu tun oder auf Angebote hinzuweisen, vor allem wenn einem nicht-asiatisch-aussehende Menschen über den Weg laufen.

 

 

Shanghai – Die Zweite

Als er das zweite Mal am Volkspark in der Stadtmitte aussteigt, weiß er schon wieder nicht, wo er ist, weil es einfach zu viele Ausgänge gibt. Es empfiehlt sich daher nach einem bekannten Wolkenkratzer Ausschau zu halten, um so seinen Standpunkt zu bestimmen. Außerdem stellt er dabei fest: auch Toiletten werden mit Sturmgewehren bewacht, falls wohl jemand die falsche Schüssel benutzt oder das Toilettenpapier in den Papierkorb wirft, wie es in manchen Staaten ja durchaus üblich ist. Apropos, was ist eigentlich die richtige Verhaltensweise in China bezüglich des Toilettenpapiers?

Shanghai: Bewachsenes Kaufhaus, Am Huangpu, Skulpturenpark, Hinterhof, Jangtse(kiang)

Wenn er schon die ganze Zeit entlang des Jangtse reist, dann muss er ihn aber auch einmal persönlich treffen, beschließt er und fährt deshalb mit der Metro weit in den Norden, in der Hoffnung in der dicht bebauten Megacity von Shanghai überhaupt einen Zugang zum Gewässer zu finden. Tatsächlich entdeckt er ihn auch, nach ca. drei Kilometer Fußmarsch von der nächstgelegenen U-Bahnstation aus und… muss auch hier wieder bezahlen. Denn man hat einen Park um die womöglich letzte, verbliebene Auenlandschaft Shanghais gebaut. Doch dann sieht Martin den Fluss der Flüsse Chinas: einen 18 Kilometer breiten Ästuar, dessen Insel in der Hälfte zwischen den beiden Ufern er schon kaum noch am Horizont erkennen kann, geschweige denn die andere Flussseite. Wellen wie am Meer schlagen gegen die Seebrücke und Tanker und Windkraftwerke bewegen sich durch die Naturgewalten. Es ist ein enormer Anblick, wenn man sich bewusst macht, wie viele tausend Kilometer Wasser nicht weit von hier ins Meer münden und wie viele Millionen Menschen von diesem Fluss abhängig sind.

Lange kann er allerdings nicht verweilen, da der Oriental Pearl Tower ruft und die Stadt von seiner Spitze aus in der Dämmerung fotografiert werden will. Wie sich herausstellt, muss er dort aber noch über eine Stunde in der Schlange stehen, mit langsamen Trippelschritten nach vorn, durch den Fahrstuhl und selbst oben in der Spitze noch eine halbe Ewigkeit bevor er überhaupt zum Fotografieren gelassen wird.

Die nächste Herausforderung ist es von dieser Uferseite des Huangpu wieder zurück zu gelangen, denn Brücken gibt es hier nicht! Die gut versteckte Metro allein besitzt die Macht der Übersetzung ans andere Ufer. Nachdem er sie dann endlich auch gefunden und sich gerade in der Metro hingesetzt hat, kommt eine Frau mittleren Alters direkt auf ihn, den Ausländer, zu und blickt ihn mit großen Augen an. Er versteht und gibt den Sitzplatz frei. Doch obwohl sie sich bedankt, hat er das Gefühl, dass Fremde besonders gerne ausgenutzt werden – im Gegensatz zu anderen Staaten wie Deutschland, wo Fremde nur manchmal angezündet werden.

Oriental Pearl Tower: Bei Tag, Von oben, Auf dem Skywalk, Bei Nacht
Oriental Pearl Tower: Bei Tag, Von oben, Auf dem Skywalk, Bei Nacht

Auf der Straße unterwegs zu sein macht aber auch keinen Spaß und selbst auf dem Bürgersteig lauert eine stille Gefahr. Er merkt schon bald, spätestens während des erstmaligen Betretens der chinesischen Außenwelt in Nanjing beim Verlassen der gekühlten Metrostation, was es heißt auf Chinas heißen Straßen zu Überleben: Denn E-Mopeds terrorisieren die Städte! In Schwärmen treten sie oft auf, je größer die Stadt ausfällt und sie schleichen sich heimlich und leise auf den Fußgängerwegen von hinten an. Im Trubel der Stadt hört man sie einfach nicht, aufgrund des fehlenden Motorgeräusches. Außerdem halten sie sich an keinerlei Verkehrsregeln, was schon das Verhalten von Autos schwierig abschätzen lässt. Denn wo diese zumindest an roten Ampeln in den meisten Fällen anhalten, scheint es den E-Mopeds komplett frei überlassen zu sein, ob sie dies auch tun oder lieber doch nicht. Es scheint eine Verschiebung des stadtökologischen Verkehrsgleichgewichts in China zu geben: Bist du Herr und Meister über ein E-Moped, dann bist du Herrscher über die chinesische Straßenwelt. Nicht nur, dass sie eigene Fahrstreifen für sich beanspruchen, nein, sie benutzen ebenso nach Belieben entweder Straßen oder Fußgängerwege und auch gerne wild in die andere Richtung und natürlich ist so etwas wie Licht aus ihrer Sicht auch nachts nicht notwendig. Denn sie halten auch nicht für Fußgänger, wenn man den Fehler macht bei grün über die Ampel zu gehen, ohne sich vorher in alle erdenklichen Richtungen abzusichern, dass auch wirklich nirgendwo solch ein leises Monster lauert. Nach ihrer Meinung ist man selber schuld, wenn man ihnen im Weg steht und das tun manche auch laut kund, falls sie doch einmal ausweichen müssen. Umso erstaunlicher findet Martin, dass es so wenige Unfälle zu geben scheint.

Shanghai: Touristenstraße, Bambusgerüst, Über der Nanjing Road
Shanghai: Touristenstraße, Bambusgerüst, Über der Nanjing Road

Nach den Erlebnissen und Missverständnissen der letzten Tage muss er sich allerdings auch fragen, ob sich noch mehr Reiseziele in Ostchina überhaupt lohnen. So könnte er z.B. noch in die „Gartenstadt“ Suzhou und sich die Kanäle des Venedigs im Osten anschauen oder es doch wagen nach Peking zu fahren und ähnlich wie im Huangshan-Gebirge sich parallel zum Hotel in Shanghai dort ein weiteres Hotelzimmer zu nehmen. Aber ist es das Risiko, die Zusatzkosten und den Aufwand wert? Das beginnt er sich mit jedem Tag mehr zu fragen – und mittlerweile auch mit jeder Reise. Ein Land wie China ist vielleicht wirklich nur als Pauschaltourist sinnvoll zu erleben. Oder man nimmt abenteuerliche Fehler in Kauf, nach dem Motto: „Wer sich verläuft hat anschließend etwas zu erzählen – wer sich verreist auch“. Allerdings hat er das Gefühl dafür langsam zu alt zu werden. Zumindest sein Rücken stimmt ihm zu.

Bund am Tag
Bund am Tag

Daher will er sich die letzten anderthalb Tage nur noch die völlig überfüllte Flusspromenade Shanghais bei Tag anschauen, um nun wirklich sagen zu können: „Ich war beim Bund!“

Longhua-Tempel

Beim Longhua-Tempel erkennt er, dass die Tempel mittlerweile auch alle gleich aussehen, das Hard-Rock-Café hat dauerhaft geschlossen und übrig bleibt nur noch der Century-Park in Pudong. Dort schleppt er sich noch einmal mit beiden Rucksäcken ein paar Kilometer durch die grüne Oase um den Abschluss seiner Chinareise zu kontemplieren. Als Ergebnis dieser meditativen Stadtwanderung freut er sich auf den nahegelegenen Transrapid zum Flughafen und wundert sich nur noch, dass er die 30 Kilometer in weniger als zehn Minuten schafft. Mit 300 km/h durch die Großstadt – davon konnten ehemalige, bayrische Ministerpräsidenten nur träumen.

Ein letzter Geschmack von chinesischem Handelsaktivismus begegnet ihm am Flughafen. Denn dort will ihm jemand ein - wahrscheinlich kurz zuvor gestohlenes - iPhone aufschwatzen, seltsamerweise kommt er wieder einmal gezielt auf ihn, den Ausländer zu.

Chinas Transport-Infrastruktur: Schnellzug, Transrapid-Strecke, Flughafeninnenraum
Chinas Transport-Infrastruktur: Schnellzug, Transrapid-Strecke, Flughafeninnenraum

 

12 Stunden allein in Amsterdam

Wo der bekannte Schlager von einer einsam verliebten Frau in der holländischen Partymetropole Amsterdam erzählt, kommt Martin sich allerdings nach elf Stunden Flug und halb sieben Uhr morgens eher wie im Krieg vor. Denn die Straßen sehen aus wie nach einer Schlacht: verlassen und vermüllt. Sonnabendfrüh ist auf jeden Fall nicht die beste Zeit, um nach Amsterdam zu kommen, zumindest, wenn man nicht durch eine Müllhalde von McDonalds-Resten und ehemaligen Mageninhalte waten möchte. Außerdem stinkt es überall nach diesem ekelhaften Kraut – ist das Hasch? Oder zumindest sind es die Zigaretten, die die hier rauchen.

Amsterdam in schlechten Zeiten: Krumme Häuser, Schiefe Fahrräder, Vermüllte Straßen
Amsterdam in schlechten Zeiten: Krumme Häuser, Schiefe Fahrräder, Vermüllte Straßen
Amsterdam in guten Zeiten: Aufgeräumte Grachten, Gerades Reijksmuseum, Sauberes Tesla-E-Taxi
Amsterdam in guten Zeiten: Aufgeräumte Grachten, Gerades Reijksmuseum, Sauberes Tesla-E-Taxi

Immerhin gibt ihm die ausgestorbene Stadt Gelegenheit ungestört und in Gedanken versunken die Grachten zu erleben. Dabei stellt er sich vor, wie belebt die Straßen und Kanäle wohl noch vor wenigen Stunden gewesen sein mochten und vielleicht, aber auch nur vielleicht, wäre er gerne dabei gewesen. Denn so ganz allein ist es auch nicht schön zu reisen! Vielleicht heißt es auch deswegen in diesem Lied mit einem drohenden Unterton Allein in Amsterdam, weil es einfach keinen Spaß macht allein hier zu sein. Die Stadt scheint dafür da zu sein, um Party zu machen. Das hat sie mit Prag, Berlin und Barcelona immerhin gemeinsam. Allerdings bieten nur hier scheinbar sex-, aber vielmehr geldhungrige Damen in den Schaufenstern ihre Dienste selbst tagsüber feil. Zusammen mit dem reichhaltigen Alkohol- und Drogenangebot ist das hier ein Shoppingparadies für „Gentlemen“.

Amsterdamer Ein- und Ausblicke

Ähnlich wie in China, kann man sich in Amsterdam allerdings kaum unbeobachtet bewegen: überall hängen Videokameras. Außerdem wird an manchen Stellen nur noch Kreditkartenzahlung akzeptiert. Der Unterschied zu China besteht jedoch darin, dass man hier die Sprache verstehen kann und daher gezwungen ist mit anderen zu interagieren (z.B. um Fotos zu machen). Man fühlt sich fast verpflichtet den Blicken auszuweichen – aber nicht wie in China, wo man als Exot bestaunt wird. Sondern in Amsterdam wird man als Tourist gesehen: als partygeiler, bierkonsumierender und sexwilliger Kunde, der nach dem endlosen Vergnügen sucht. Die hohe Anzahl deutscher Touristen ist dabei fast schon nicht mehr auffällig. Erst später wird Martin aus den Nachrichten hören, dass aber auch in eben jener holländischen Stadt ein in Deutschland lebender Einwanderer mit offensichtlich islamistischem Hintergrund zwei amerikanische Touristen im Zug abgestochen haben soll. In China wäre das aufgrund der hohen Polizeipräsenz eher unwahrscheinlich. Dort wird man eher überfahren – allerdings nicht mehr von den Fahrrädern, die in Holland im Gegensatz zu China wieder vermehrt unterwegs sind, sondern eher von den Autos und E-Rollern.

Amsterdamer Grachtenstraße (Prinzengracht)
Amsterdamer Grachtenstraße (Prinzengracht)

Wie heimatlich war es ihm da doch gleich, als er einen angenehm unfreundlichen Busfahrer in Berlin wieder antraf, der einen ausländischen Fahrgast partout nicht einsteigen lassen wollte und über den selbst die Kollegen sagten, man solle einfach vorbei gehen, denn er sei etwas komisch.

 

 

Epilog

Es ist eine neue Erfahrung in einem Land unterwegs zu sein, dessen Schrift, Rede und Körpersprache man nicht mal ansatzweise verstehen kann (und hier ist nicht Holland gemeint). Das macht es schwierig sich überhaupt in den Städten zu orientieren, zeigt aber auch, wie sehr man auf Schilder und Geschriebenes im Alltag angewiesen ist: ob auf der Straße, im Laden für den Einkauf von verpackten und verarbeiteten Lebensmitteln, im Bahnhof oder bei Hinweisschildern in der Landschaft. Ohne Nachfragen geht es deshalb nicht – oder besser gesagt ohne Vorzeigen von Karten, Tickets und Broschüren. Und freut man sich, dass etwas schließlich geklappt hat, wartet schon das nächste Problem darauf gelöst zu werden...

 

... und das bedeutet Reisen in China.

 

Schlussbetrachtung: Chinas Weg zur Macht und Kontrolle – Das soziale Punktesystem

Ein großer Aufreger dieses Jahr war die Einführung eines Punktesystems in China, um soziales Verhalten zu steuern. China versucht damit erneut eine diktatorische Macht über seine Bürger zu gewinnen und im Gegensatz zu anderen Diktaturen wird es damit wohl auch Erfolg haben. Denn auch als das Internet reglementiert werden sollte, hieß es, das sei nicht machbar, weil zu viele Möglichkeiten bestünden Barrieren wie Firewalls zu umgehen. Doch die chinesische Regierung treibt seither ein Katz- und Mausspiel mit den Bürgern, die sich ständig neue Mittel wie VPN einfallen lassen, um ihre persönliche Freiheit zu erkämpfen. Dass man VPN aber auch richtig installieren können muss, sah Martin an seinem Arbeitslaptop, auf dem es offensichtlich nicht arbeitete, denn viele Webseiten, u. a. Google, funktionieren nicht, so dass man wichtige Informationen einfach nicht findet.

Aber natürlich gibt es auch Gründe, die für eine Reglementierung der Freiheit sprechen. Wer einmal hemmungslos im Internet unterwegs war, weiß wie viel Unsinn man dort findet und wie gefährlich für den eigenen PC und die eigene Identität solche Seiten sein können. Da infiziert man sich nicht nur mit Viren und Trojaner, die die eigenen Bankdaten ausspähen und weiterverkaufen. Sondern es gibt auch Menschen, die sich mit einer fremden Identität schwerwiegender Verbrechen schuldig machen.

Wie auch immer sich die Entwicklung dieser sozialen Lenkung entwickeln wird und ob es wirklich dazu beiträgt die Gesellschaft und den Umgang miteinander zu verbessern – an manchen Ecken in China ist das soziale Punktesystem in China schon sichtbar: z. B. im Zug, wo vor dem illegalen Rauchen gewarnt wird und es nicht nur hohe Strafen, sondern auch Punktabzug drohen. Die Folgen wären z. B. Verbote von Flugzeugnutzungen oder Auslandsreisen. Ein wenig erinnert das an den Versuch das göttliche Gericht nachzuempfinden, denn auch vor Gott werden Gläubige nach ihren Taten bewertet. Diese Neuerung der chinesischen Regierung kann also als Versuch gewertet werden sich zur neuen, göttlichen Macht für die Menschen zu erheben, als eine Art Ersatzreligion. Vielleicht hat man im chinesischen Zentralkomitee aus dem allgemeinen Aberglauben (z. B. den spirituellen Bedeutungen der Zahlen und Farben für die chinesische Bevölkerung) und aus den Problemen mit den Buddhisten in Tibet und der Falun-Gong-Sekte gelernt, dass solche Mittel hilfreich sind. Zumal in der jüngeren Generation Skill-Level und Punktesysteme in Computer-Rollenspielen einen zentralen Reiz zum Weiterspielen ausmachen.

Der allgemeine Egoismus muss außerdem auch in China v. a. durch die Ein-Kind-Ehe stark angestiegen sein. Martin merkte das des Öfteren im Alltag, v. a. wenn sich die Leute in den Schlangen ständig an ihm vorbei drängeln. Das kapitalistische Ellenbogenverhalten ist in China also durchaus schon lange angekommen. Der westliche Status ist mittlerweile so tief im Denken der Chinesen verwurzelt, dass selbst Werbung, Statuen oder animierte Hinweisschilder und Piktogramme eher Europäer abbilden als Chinesen. Und da endet auch meist der Eingriff des Staates in das Verhalten. So reglementiert, wie es in westlichen Medien oft erzählt wird, kam es mir dann nämlich beim täglichen Leben auf der Straße auch wieder nicht vor. Es geht eben doch nichts über die eigene Erfahrung durch das Reisen.

Falls nun die Neoliberalen ihre Chance wittern dieses Punktesystem für sich zu gewinnen und argumentieren Privatisierung würde hier wie überall in ihrer Gedankenwelt helfen: das wäre keine Lösung. Zwar könnte man behaupten, dass die Marktregulierung im Vordergrund steht und die sozialen Punkte durch die Preisbildung bewertet wird, aber das hätte den gleichen Nachteil wie die Schufa-Kreditwürdigkeitseinstufung in Deutschland: man wäre von einem Privatunternehmen abhängig und dessen Belieben ausgeliefert, obwohl man niemanden ins Amt wählen kann! Und doch bekommen Menschen dadurch heute keinen Kredit oder keine Wohnung, weil für sie aus teils unerfindlichen Gründen eine negative Schufa-Bewertung vorliegt (z. B. weil sie "zu oft" umgezogen sind?).

Eine funktionale Lösung könnten NGOs liefern, also Nicht-Regierungs-Organisationen, die im besten Fall unabhängig von der Gesetzesbildung einer Staatsmacht sowie vom Kapitalmarkt sind. Diese könnten dann ähnliche wie die UN (Vereinten Nationen) weltweit und international agieren, also als übernationale Instanz – aber auf eine nationale Ebene heruntergebrochen, so dass das Gesellschaftssystem idealerweise über dem Staat und den Gesetzen steht. Dann könnte man möglicherweise wirklich eine globale Gleichheit und kosmopolitische Weltgemeinschaft erreichen, ohne jedoch die regionalen Eigenheiten zugunsten einer Einheitskultur aufgeben zu müssen, die wie die amerikanische Popkultur in den letzten Jahrzehnten, alle wertvollen Eigenheiten der einzelnen Regionen mit ihren Produkten und Ideen überschwemmte und alle traditionellen Unterschiede der verschiedenen Kulturlandschaften platt walzte. Denn nicht nur Ökosysteme sind von invasiven Arten und Störungen bedroht, sondern auch Kulturen und genauso wie wir artendiverse Ökosysteme brauchen um die Funktionen des Lebens auf der Erde zu erhalten, müssen auch vielfältige Kulturen bestehen bleiben bzw. sich unabhängig voneinander entwickeln können. Das bestimmt und bereichert das Leben auf der Erde mit Geist und Ideen.

 


Leute in China:

Kunstfiguren: Lebende Polizistenstatue, Mönch?, Fantasy-Charakter, Traditionelle Frauentrachten, Stressfreie Telefonistin
Kunstfiguren: Lebende Polizistenstatue, Mönch?, Fantasy-Charakter, Traditionelle Frauentrachten, Stressfreie Telefonistin

Straßenarbeiter und Abgehängte

 

Freizeitler

 

Menschenmassen
Menschenmassen