Durch den Ural

 

Jekaterinburg heißt das Ziel. Wieder mal nur vorläufig. Mein bruchstückhaftes Verständnis dieser gaumenlastigen Sprache vermischt sich regelmäßig mit wilden Spekulationen über den Zweck meiner Deportation. Das letzte Stück zivilisierten Lebens, an das ich mich erinnern kann und das hier schon ein Luxus wäre, bestand in einem Tee, den ich im Zug nach Nischni Nowgorod trank und in der behaglichen Sicherheit des steten Vorankommens kaum noch würdigte.

Hier sitze ich aber in zweiter Reihe um ein Feuer, das kaum die Fingerkuppen wärmt. Schon ist die Erinnerung an den Tee vorbei, aber ich muss sie erhalten, solange es geht.

Ich glaube es dämmert, aber ich kann es nicht sagen. Denn immer haben wir Nebel. Manchmal verfluche ich ihn, denn er raubt mir die Orientierung. Oft segne ich ihn dagegen auch, denn wer weiß welche Gefahren meiner Vorstellung dadurch erspart bleiben, die mich sonst nur verzweifeln ließen.

Es ist ein schweres Leben. Oft pfeift uns der raue Wind um die Ohren und dringt durch die Kleidung auf die Haut und wie mir scheint auch in die Gedanken. Denn die werden ebenso rau und abgestumpft. Zwischen kargen Felsen fristen wir oft Tage mit dem abwechselndem Rhythmus von Wachehalten, Lagerarbeit und dem gefürchteten Schürfen. Denn meist führen die grob angelegten Schächte tief in die Berge hinein. Es ist kalt und feucht, nur der fürchterliche Wind ist hier seltener zu spüren, außer wenn man sich in einem Lüftungsschacht befindet. Draußen dagegen ist es meist neblig, denn die Berge sind hoch genug, dass sich die Wolken daran fest hängen und abregnen.

Die Reichtümer aus dem Untergrund bewegen mich jedoch kaum. Sie sind kaum erkennbar und noch roh und selbst wenn es im kraftlosen Schein der Funzel mal funkelt, reizt mich mehr die Vorstellung einer warmen Stube als diesen kalten Stein in den Händen zu halten.

Je mehr ich mich hier unter diesen rauen Bedingungen befinde, umso mehr keimt in mir der Wunsch nach Wärme. Je weiter ich weg bin, umso mehr suche ich Nähe. Zwar befinde ich mich unter Menschen und sie benehmen sich auch sehr männlich, weil es eben nur Männer sind. Das fällt mir auf, weil ich diese Konstellation in einer Arbeitsgruppe immer als die beste erachtet habe. Gemischte Gruppen fand ich nie produktiv. Aber unter diesen Männern stelle ich mir jetzt immer vor, wie es wäre, wenn auch nur ein Weib darunter wäre. Allein diesen Gedanke liebe ich über alles und mir wird klar, dass ich genau dieses Weibliche hier vermisse und eigentlich absurder Weise in der Tiefe des Berges suche, in einem Stollengang, in einer Höhle. So muss ich mir eingestehen, dass ich das verlange, was ich selbst als schwach angesehen habe. Aber wie kann man sich nach Schwäche sehnen wollen?

 

Mit den ausgebeuteten Minen werden wir weiter getrieben, zu produktiveren Gefilden. Der Weg führt nun ins Gebirge hinauf. Noch immer sehen wir nicht mehr als den Vordermann. Der Pfad reicht gerade, um darauf einen Fuß vor den anderen zu setzen. Zum Glück hält sich mein Gepäck in Grenzen, denn im Gegensatz zur preußischen Armee, die der Meinung ist, wer zu schwach für sein Plangepäck sei, könne umso mehr tragen, um stark zu werden und Gehorsam zu lernen, wenn er dazu auch erst die Naturgesetze außer Kraft setzen müsste, wird das Gepäck hier nach Statur vergeben. Doch muss es das üppige Gewicht meines Vorgängers sein, der die schmale Passstraße in Bewegung setzt. Kaum noch ein Schrei ist zu hören, als er schon von Gepolter, Gestein und Gerumpel fortgerissen wird. Mehr um mich in Sicherheit zu bringen als der Gruppe hörig zu folgen oder die Gelegenheit gar zur Flucht zu nutzen suche ich mir nach dem Abrutsch des Weges einen neuen Weg durch das unwegsame Gelände. Die allgemeine Verwirrung und der Nebel helfen mir dabei unentdeckt zu verschwinden. Mit etwas Glück wissen sie nicht einmal, wer ihnen abhanden gekommen ist. Doch erst als ich das begreife, denke ich auch wieder nach. Auf Felsen lassen sich Spuren nur schwer verfolgen. Jetzt heißt es viele Meilen zwischen mich und die Gruppe zu bringen. Während ich noch abwäge, ob es die richtige Entscheidung ist weiter zu flüchten oder doch besser umzukehren und so zu tun, als hätte ich mich verlaufen, merke ich, dass ich nahezu vollständig ausgerüstet bin um einige Tage zu überleben. Der Entschluss spornt mich nun an, mein angebrochenes Glück zu probieren. Leichten Fußes trägt es mich voran, wie ich es nicht geahnt hätte und plötzlich erscheint mir die gleiche Landschaft frei und neu, freundlich gegenüber einem Fremden. Denn ich bin nun wieder mein eigener Herr und habe ein Ziel: zu verschwinden und jede Gelegenheit auf diesem Weg zu ergreifen, die sich mir bietet.

Absichtlich wähle ich nun schlechtes Gelände. Je schlechter, desto besser. Denn dahin folgen sie mir nicht und wenn doch, würde es für eine größere Gruppe zeitraubend werden. So wähle ich Bergkämme aus, um mich unterhalb der Gipfel zu bewegen und nicht gegen den Himmel gesehen zu werden, als es langsam aufklart. Nun sehe ich auch weiter, kann Himmelsrichtungen abschätzen und zum ersten Mal seit langem wieder einen sonnenuntermalten Lichtblick meines Schicksals erkennen.

Unterhalb eines der Bergrücken wird mir nach einigen Tagen eine größere Ebene gewahr. Zwar erheben sich noch immer Berge über das Land, aber die größten Höhen liegen hinter mir. Doch gehen mir die Vorräte aus und hier oben gab es kaum Wasser. Denn Schnee liegt - zum Glück - noch nicht. In der Hoffnung nach frischem Wasser und mehr Beerenausbeute beginne ich so den Abstieg. Schon finde ich mich in dichter Bewaldung wieder, die kaum einen Blick oder Weg offen legt. Nur vage folge ich daher meiner Nase in dieser Baumwüste. Des Abends muss ich also meine Vorräte auffrischen und auf Beerenjagd gehen. Leider finde ich in der näheren Umgebung nichts Fruchtbares und verlagere meine Nahrungssuche notgedrungen auf Pilze, wie sie recht üppig vorkommen sowie auf ein paar Kräuter als Salat.

Da die Pilze noch etwas schmoren müssen, nehme ich mir den letzten Kanten Brot und warte verträumt auf den schmackhafteren Pilzgang, als ich Rauch über den Wipfeln aufsteigen sehe. Schon vorhin hatte ich aufgehorcht, glaubte ich doch Stimmen auszumachen. Kann es denn sein, dass ich entdeckt wurde? Oder dass der Zufall mich mit der Gruppe wieder zusammenführt? Was ich auch tue, aber das Abendmahl muss warten. Die Stimmen werden deutlicher und ich erkenne zwei bewaffnete Männer Holz schlagen. Offenbar unterhalten sie sich gerade darüber, ob sie nicht wegen der einbrechenden Nacht lieber aufbrechen sollten. Das Feuer, das den Rauch verursacht, ist allerdings noch nicht zu sehen.

Nach einigem Warten und Diskussion sammeln beide ihre Werkzeuge zusammen und folgen dem Rauch. Noch weiß ich aber nichts über den Grund dieses Lagers und ob man mich sucht. Vorsichtig hänge ich mich an sie heran, hinter Baum und Buschwerk verborgen, gerade nah genug um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Ungewöhnlich lange wandern sie durch den Wald, unüblich für eine Marschgruppe, die Feuerholz sammelt. Einige Schritte später und ein paar Minuten weiter erkenne ich auch schon erste Holzbauten. So habe ich sogar Zivilisation gefunden!

Entgegen meiner sonstigen Auffassung, die Menschen zu meiden, trotte ich durch das Dorf. Es liegt an einem Berg und ich betrete es von oben, so dass mir der Blick über die neu gebauten Häuser gewahr wird. Anscheinend ist das ganze Dorf im Neubau, denn überall hämmert und sägt es. Was man von überall aus dem Westen hört, aus Amerika, passiert auch im Osten, in Russland.

Kinder spielen im Matsch der Straßen. Doch es hat trotzdem nichts von Armut, sondern von Aufbau. Denn man spürt das Leben und die Hoffnung: Der Geruch von gesägtem Holz und Eintopf mischt sich mit dem Geschmack von einer gemeinsamen Zukunft, gewürzt von dem regen Treiben im Blickfeld und befeuert von der Vielzahl von arbeitsamen Geräuschen. So tasten sich die Menschen voran und hoffen auf ein gutes Leben. Ich habe das Paradies gerochen: das Lagerfeuer und das brennende Holz verbindet mir automatisch die Erinnerung an eine wohlige Stimmung von Essen und netten Geschichten, Gelächter und mit Gesellschaft und Wärme in der kalten Nacht

Während der Schritte durch den Ort kommt mir ein Gedanke. Ich sehne mich nicht nach Schwäche, wie ich es noch in dem Gefangenentrupp dachte. Es ist vielmehr Verständnis und Einfühlsamkeit, die ich suche. Wahrscheinlich ist es letzten Endes genau das natürliche Verlangen eines Mannes nach einer Frau. So schwach sie auch sein möge, vermag sie doch dem Mann einen Sinn zu geben, indem sie nur da ist. Schon die Möglichkeit nach ihr lässt mich in taumelnde Wonne verfallen.

Ich weiß nicht mehr, wozu ich eigentlich nach Russland kam. Aber für mich gibt es in diesem Moment keinen höheren Grund als hier mit den Menschen eine Siedlung aufzubauen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Vielleicht können sie noch Hilfe brauchen. Ich werde einen ihrer Ältesten danach fragen.