Nebelberge I.

- Häusliche Vagabunden

 

Hintergrund-Musikempfehlung: Faun, Versengold, Hasenscheiße, Schandmaul

 

Nebel ist über die Giebel der Dächer zu erkennen, der Tag neigt sich schon dem Ende. Der Flammenschein erhellt gerade genug um ein paar Worte lesen zu können und Stille umfängt jeden, der in dieser Kammer sitzt. Die Bretterwände sind zum Glück recht wohl gearbeitet, so dass die Wärme hinnen bleibt. Umso langsamer senkt sich der Tag, von dem man nicht einmal weiß, ob es nicht lieber eine Nacht geworden wäre.

Auf der einen Seite des Hauses erkennt man die Straßen der Stadt, leicht beschneit, von den Fußspuren und Rädern der Fuhrwerke durchpflügt und mit Abfällen übersät. Ein wahrer Sündenpfuhl, der allerlei Krankheiten zum Keimen bringt und deren Früchte man demnächst in den Hospizen in ihrer mannigfaltigen Ausprägung angeekelt bestaunen darf.

Über der weiten Landschaft der anderen Seite liegt schwer die winterliche Luft mit ihrer kalten Last, voll des Schnees und des Unbehagens. Ein Reiter taucht aus diesem Nebel auf und trottet zielstrebig auf die Siedlung zu. Seiner Richtung nach führt ihn ein Weg über die Gebirge in dieses Land. Als er durch das dürftige Stadttor trabt, hören nur zwei, drei Menschen ihn davon sprechen, dass er bereits erwartet wird und danach fragen, wie es um „ihren“ Zustand steht. Einer dieser Menschen ist der Nachtwächter. Der andere sah ihn bereits von weitem kommen und hatte das Fenster seines Studienzimmers aufgesperrt um seine Ahnung zu bestätigen. Der letzte Mensch soll in dieser Geschichte eigentlich keine Rolle spielen, doch drängt sie sich hinein, so dass es alles einen ganz anderen Verlauf nehmen wird, als es - von wem auch immer - geplant war. Ein dreistes Mägdchen war sie wohl, sich derart zu benehmen, doch: alles zu seiner Zeit.

 

Sogleich nach Eintreffen des fremden Gesellen macht sich der Tischlermeister aus dem Studienzimmer im obersten Stockwerk seines als einzigen, gut erhaltenen Hauses in der Stadt auf den Weg, um ihm zu folgen. Schwer ist das nicht, denn das Pferd hört jeder Ruhende in den leeren Gassen einige Längen weit, ohne dabei freilich viel zu sehen. Zwar ist jener mittelalte Mann im Studienzimmer kein Gelehrter im Sinne studierter Mönche, aber hier in diesem Ort ein angesehener, Weiser und Meister für fast alles, was Handwerk angeht. Deshalb gehört er auch dem Rat der Stadt an und muss nicht selten die anderen Mitglieder mit logischen Argumenten und seiner durchaus emotionalen Rhetorik zur Vernunft bringen.

Schon lang erwartete er deshalb die Ankunft des Weitgereisten. Diese Stadt verlor im letzten Jahr zu viele Einwohner und nicht nur deshalb sind die Straßen ausgestorben. Einige sind auch abgewandert, hin zu besseren Gefilden. In den letzten Jahren waren die Sommer ungewöhnlich kühl und trocken und nachdem man gehofft hatte, dass die nächsten Jahre besser würden, kam erneut solch ein Sommer. Krankheiten ließen nicht lange auf sich warten. Die Leute waren geschwächt vom Hunger und ihre Umstände verloren zunehmend an Bedeutung. Die Kinder werden von den Alten kaum noch davon abgehalten im Schlamm zu spielen und das Gesindel und die Knechte und Mägde schlafen bei den Schweinen, um die Räume nicht heizen und erhalten zu müssen. Nicht selten kommt es dort auch zur Unzucht und mehr und es werden kränkliche Kinder geboren, die nicht nur früher sterben, sondern auch als Herde für Krankheiten und Futter für die Ratten dienen – abgesehen davon, dass ihre Mütter an allerlei Entzündungen nach der Geburt sterben, wenn sie im Stall niederkommen.

Der Fremde soll daher den Segen der Heilung bringen. Er ist Arzt und zugleich Geistlicher. Bruder Niklas wird er genannt, sofern man dem Gerede Glauben schenken darf. Vielleicht - so die Hoffnung der Stadtväter - kann er auch die kommenden Ernten segnen, falls man ihn gut bewirtet.

Drum hastet der Tischlermeister den Schritten nach, die Niklas‘ Pferd frisch im Schneeschlammmatsch hinterlässt, hinter ihm bewacht und verfolgt von zwei braunen Augen. Auf der Schwelle zum Stadtältesten holt der Handwerksmeister Niklas ein und kann ihn beim Eintreten behilflich sein.

„Eine Wärme habt ihr hier hinne“, sind dessen erste Worte, mit denen er sich seiner Stiefel entledigt und den schweren Mantel auf eine herumstehende Truhe ablegt, „Unterwegs liefen mir diese Schweine über den Weg. Zeigt mir doch, wo ich sie lassen kann, bis wir sie zubereitet haben.“ In gallischer Manier packt er sie einem dienstbotenähnlichen Manne vor die Füße. Schwer gebaut kommt der fromme Arzt daher und die Knechte haben alle Mühe das Viehzeug hinfort zu schleifen, auf dass sie es in der Küche weiter malträtieren können. Da findet auch sein neuer Begleiter die einführenden Worte:

„Lasst mich euch diesen Herren vorstellen…“ Doch schon wird er vom Namensurheber unterbrochen:

„‚Niklas‘ mein Name. Ich hörte von euren Problemen mit allerlei Fieber?“

„Dein Ruf eilt dir voraus, hochwürdiger Niklas, manche nennen dich einen Heiligen in deiner Kunst.“

„Nu lasst mal die Drachen in der Höhle und die Kirche im Dorf. Heiligkeit endet nicht selten in Scheinheiligkeit. Mich schätzt man für die Heilkunst, aber mit heiligen Mitteln kommt man in meinem Gewerbe nicht weit, das sag ich euch“, und grinst spitzbübisch dabei.

„Uns ist es ja gleich, wie du beim Volke heißt. Solange du uns helfen kannst, bist du in jeder deiner Züge ein gerngesehener Gast“, erklärt der Meier stellvertretend für den Rat.

 

Stimmen dringen von außen in die Kälte. Die Magd steht vor der Tür und versucht die Worte zu verstehen. Als sie einsieht, dass es zu unverständlich ist, dreht sie sich enttäuscht zum Gaul von diesem Fremden um und sieht sich diesen genauer an. Ein stolzes Pferd ist das und trotzdem einfach und eigentlich ein ganz normaler Klepper, nur ein bisschen kräftiger gebaut. „Muss er wahrscheinlich auch“, spricht sie leise zu sich, „bei der Masse seines Herrn hat das arme Vieh ganz schön zu tragen.“

Dabei findet sie eine Wolldecke, die als Unterlage für den Sattel dient und das Tier warmhalten soll. Ein Gedanke kommt ihr dabei. Sie tauscht die Decke gegen ihren Umhang aus und hängt sich selbige um, so dass nun ein wilder Barbar an ihrer statt dort ersteht. Der Schweif des einst so stolzen Rosses wird um einige Strähnen verjüngt und dient unter einer improvisierten Kapuze als wildes Barbarenhaar. Außerdem stinkt es so schön nach Pferd und unterstreicht die wilde Erscheinung. Damit schreitet sie so dann durch die Tür und als sie den dicken Mantel dahinter liegen und einen Hausdiener daneben stehen sieht, legt sie schnell eine Kleinigkeit auf dem frisch dargebotenen Mantel ab, damit es so aussieht, als kenne sie genau das Gewand des Fremden und als habe alles seine Richtigkeit. Dennoch stutzt der Hausdiener:

„Was machst du hier? Scher dich raus!“

Zwar versucht sie nicht ihre Stimme besonders tief erklingen zu lassen, denn das würde zu sehr auffallen, aber sie baut einen ausländischen Akzent in ihre Erklärung ein:

„Vom Fremden binisch dr Kecht“, und überlegt, welcher Name zu einem Knecht passt, „Ruprecht min Name.“ Der Diener feixt:

„Knecht Ruprecht? So, dann willst du also der hünenhafte, grausame Knecht des Herren Niklas sein, von dem alle Welt seine ehrfürchtige Gestalt fürchtet?“

„Na isch wiß ja nischt, was du so geheert hast, abr da war so’n Keerl, der immr umin num geschlischen ist. Un als dr misch zu nah kam, stach min Messr in sin Wanst.“ Dabei tätschelt sie den eingeschlagenen Gegenstand, den sie gerade auf den Mantel gelegt hatte. Der Hausdiener schluckt kurz, denn diese Geschichte kommt ihm zu ruhig herüber, als dass sie erfunden wäre und jenes Antlitz kennt er auch nicht aus der doch recht übersichtlichen Stadt. Daher meint er nur:

„Na schön, dann wärme dich meinethalben hier drin ein wenig auf. Aber rein kannst du trotzdem nicht. Die Versammlung ist nur für ehrenwer… ähm, für Herrschaften.“

„Scho ghut. Nu mach dr nischt in die Hose. Bis jetz hast mr nischts getan.“

Die Ruhe in ihrer Aussprache kommt dabei nicht von ungefähr. Sie muss aufpassen nicht laut loszulachen, denn natürlich kennt sie den Diener. Deshalb bedenkt sie jedes Wort sorgsam und spricht sehr langsam, so dass es erscheint, als wäre jede ihrer Silben Gesetz. Von hier kann sie zumindest aber verstehen, was drinnen gesprochen wird.

Eine Weile verharrt sie da auf Niklas‘ Mantel sitzend bis plötzlich die Tür zum Versammlungsraum aufgeht und Niklas mit ein paar neugierigen Städtern heraustritt.

„He, was machst du da auf meinem Mantel?“ Damit hatte die Magd nicht gerechnet. Rasch muss sie jetzt eine Lösung finden, doch so geschwind fällt ihr nichts ein. „Runter da Kindchen. Ich kann ja verstehen, dass ein Fremder hier Eindruck schindet bei den jungen Fräuleins, aber so nah muss es dann doch nicht sein.“ Und grinst um die Situation aufzulockern. Sogleich springt der Hausdiener ein:

„Sie gab sich als dein Knecht aus, Herr Niklas.“

„So, so, mein Knecht. Nimm die Pferdedecke runter, sieht ja erbärmlich aus“, knettert Niklas.

„So und jetzt raus mit dir zurück zu Ellis, der alten Kräuterhexe“, schimpft der Meier, obwohl stadtbekannt ist, dass die Alte ihre Augen und Ohren überall zu haben scheint und er die noch gar nicht so alte Frau eigentlich auch gar nicht so unausstehlich findet.

„Nein, lasst sie“, fällt Niklas ins ein, „Du sollst mein Knecht sein, vielmehr eine Magd, wenn es dir so gefällt. Erledige diese Aufgabe für mich im Norden, so dass ich mich schon um die anderen Probleme kümmern kann. Der Lohn soll von den Bürgern dieser Stadt gern bezahlt werden, wenn ich ihr Anliegen recht verstehe.“

Erstaunen ging um in den Gesichtern. „Wie heißt du, Kind, Magd von Sabeth?“

„Magdalena, ehrenwerter Niklas“, antwortet sie gekonnt schüchtern.

„So dann, Magd Magda. Unterstütze unseren rechtschaffenen Handwerksmeister Matthias bei seiner Reise nach allen Kräften. Jetzt, da ich nicht mehr mitzugehen brauche, musst du meinen Part übernehmen. Ich wünsche dir viel Glück dabei. Aber gib mir vorher doch bitte die Decke für mein Pferd zurück, es friert sonst so leicht ein und du müffelst nur nach diesem braven Tier.“ Mit einem weiteren Grinsen verlässt er damit den Rat samt den anderen Herrschaften in Richtung Wirtshaus am anderen Ende der Straße.

„Da hast du dir und mir – uns was Schönes eingehandelt, meine Liebe“, resümiert der Handwerksmeister Matthias und blickt den anderen noch hinterher.

„Wieso? Du hättest doch ohnehin fortgehen sollen. Und mir ist es lieber mit dir mitzukommen als bei der alten Lisbeth zu bleiben. Sie ist zwar nett, aber so langsam nervt sie mich mit ihrem Fimmel“, entgegnet sie frech.

„Welcher Fimmel?“ Matthias gibt sich überrascht, aber neugierig ist er trotzdem.

„Ich bin übrigens Magda, wie du ja gerade mitbekommen hast. Wann geht’s los, Matthias?“ Der weiß gar nicht, was er zuerst tadeln soll, aber dafür ist er eigentlich nicht zuständig. So grün ist sie nun auch nicht mehr und ihm gefällt eine aufgeschlossene und offensichtlich sehr wissbegierige, junge Frau im Grunde besser, als ein grobschlächtiger, wenn auch lustiger Hüne, mit dem er nur schwer Schritt und mithalten könnte.

Sie machen sich noch etwas Wegzehrung aus der Gemeindeküche zurecht und legen sich ein paar Stunden auf die Decken für das Gesinde, bevor es am Morgen zu Fuß losgeht. Der Norden ist das grobe Ziel.

 

Nachdem die ersten Häuser der Stadt hinter ihnen liegen, durchbricht Magda die morgendliche Müdigkeit ihres Geistes:

„Warum nehmen wir eigentlich keinen Gaul mit?“, fragt sie nach einer Weile, als ihre Füße die kleine Gemeinschaft über die nackten Felder am Stadtrand tragen.

„Weil Niklas nicht mitkommt und ich keinen habe“, bringt Matthias wehmütig hervor, „außerdem wären die Pfade, die wir demnächst einschlagen werden, für Hufe nicht geeignet.“

„Wie lang werden wir eigentlich unterwegs sein?“

Magda schaut dabei in den blattlosen Wald. Hier unten sieht es trist aus, ohne Schnee, Blätter und Sonne.

„Eine Woche etwa, schätze ich“, wird ihr von ihrem Begleiter zu verstehen gegeben.

Anschließend nutzt er das begonnene Gespräch um die unbeantwortete Frage von gestern noch einmal anzubringen. Denn es beschäftigt ihn noch immer:

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, was Elli für einen Fimmel hat.“

„Und wie sollen wir das mit den paar Fressalien anstellen?“, bekommt er stattdessen zu hören Beide befinden sich absichtlich in unterschiedlichen Gedankensträngen.

„Aber ich kann es mir schon denken. Deine Herrin will mich beobachtet wissen und was ich so treibe“, setzt er stur fort.

„Vor allem fragt sie sich, was du in deinem stillen Kämmerlein so alles ausheckst“, erwidert Magda nun wirklich und tut ernst dabei, „Aber mal im Ernst, wieso kommst du drauf, dass sie so an dir interessiert ist?“

„Weil sie das schon immer war“, erklärt er mürrisch. „Aber sie ist egoistisch und rücksichtslos. Wenn sie mich nicht ausnutzen kann, dann will sie mich zumindest erpressbar machen und Einfluss im Stadtrat bekommen.“

„Wer weiß, was du für Erfahrungen in deiner Jugend mit Menschen gemacht hast! Selbst wenn es noch so schlimm war, was sie tat. Aber auf mich macht sie einen ganz normalen und eigentlich eher gutmütigen Eindruck“, verteidigt sie ihre Herrin.

„Du arbeitest ja auch für sie. Aber wenn man sie einmal näher kennt…“, kontert er.

„Glaubst du! Wer weiß, wie das kam und ein Mannsbild versteht die Weiber sowieso meist falsch“, erklärt sie und mürrisch belässt sie es bei dieser Ausflucht.

„Mag sein. Aber ich wäre nicht der erste, den du für sie ausspionieren sollst. So viel ist klar“, versucht er die ausgeuferter Unterhaltung zu einem Ende zu bringen.

Doch einen setzt sie noch drauf:

„Das muss nichts Schlechtes bedeuten. Dadurch konnte sie den Menschen auch helfen. Wenn ich das nicht wüsste, würde ich ihr auch gar nicht berichten, was ich so sehe.“

„Also siebst du aus, was du ihr erzählst“, erkennt er, „dann wollen wir mal sehen, ob ich dich in einer Art und Weise positiv von mir überzeugen kann, dass Elli die Lust an mir verliert.“

Matthias grinst auflockernd. Zwar hat er sie durchschaut und es bringt wenig, die Sturheit darüber aufrecht zu erhalten. Wenn es aber schon keine Neuigkeiten über Matthias, den Handwerksmeister, für Magda, die Magd gibt, dann soll es für Magda zumindest ein gutes Abenteuer werden. So macht sie sich wenigstens Mut.

 

Nach einigen überwundenen Höhenmetern beginnt recht plötzlich der Schnee die Landschaft einzudecken. Ebenso wird der Wald immer dichter. Immer mehr Fichten und Tannen übernehmen das Bild. Die Stunden ziehen vorüber und bevor es dunkel wird, beweist Matthias seine handwerklichen Fähigkeiten. Eine tiefverschneite Fichte am Waldrand befreit er auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung vom Schnee und packt zwei Äste über die niedriggelegenen Astansätze des Baums, einen an jeder Seite des Stamms und verbindet sie mit Schnüren. Darüber werden zwei leichte Decken überlappend geworfen und ein weiterer Ast und Schnee als Gewicht auf die Decken zwischen die zwei anderen Äste gelegt. Wo der Stoff auf dem Boden aufliegt kommt ebenfalls Schnee darauf um den Wind zu überlisten. So entsteht ein Schneehaus mit Stoffdach für die Nacht. Als Magda die Konstruktion etwas skeptisch betrachtet, schmunzelt er mit den Worten:

„Komm herein, hier draußen in der Natur schlafen die Mägde und Knechte nicht getrennt von den Herrschaften.“ Die Nacht schleicht nur langsam herüber, genug Zeit für ein gekochtes Abendessen. Feuer ist schnell gemacht und Magda richtet alles wie zu Hause am Herd an. Erstaunlicherweise gibt es wenig Unterschied zum Leben bei ihr daheim, außer dass Matthias bei den Arbeiten hilft. Viel haben sie ja nicht, aber eine Suppe aus den mitgebrachten Sachen in einem schon sehr abgenutzten und tiefen, aber schmalen Topf lässt sich ja schnell anrichten.

„Du bist oft draußen unterwegs, wie?“, fragt sie, als sie auf den Pott deutet.

„Früher war ich häufig draußen, vor allem im Winter. Da habe ich mir als Zimmermannsgeselle das dürftige Brot als Holzfäller aufgestockt. Trotz der Kälte und dem kargen Winterwald, war es ein gutes und geselliges Leben. Wir waren den ganzen Winter über frei und gingen nur in die Stadt um dort etwas einzukaufen. Aber sonst lebten wir draußen, in Hütten oder wie hier in Behelfsunterkünften.“

„Ein armes Leben“, denkt sie laut.

„Viel brauchten wir nicht. Wir jagten Wild, destillierten Schnaps, fällten Holz und wärmten uns daran. Außer Brot und etwas Obst mussten wir auch kaum etwas kaufen.“

„Und wenn ihr mal krank wurdet? Was habt ihr dann gemacht, mitten im dichtesten Wald und Winter?“, bedenkt sie weiter.

„Dafür hatten wir unseren Hütten-Hans“, beginnt er die Erzählung, „Morgenabend werden wir bei ihm vorbei kommen. Der ist ein wahrer Meister was Kräuter anbelangt. Die speziellen Essenzen kann er nur mit Hilfe der umtriebigen Jäger ansetzen. Denn sie durchforsten jeden Winkel des Waldes und bringen sie ihm mit, auch wenn sie oft nicht wissen, wofür dieses oder jenes Kraut gut sein soll. Zum Dank revanchiert er sich dann mit seinem Wissen bei Leiden und Jagdunfällen. Mit den fertigen Tinkturen, Mischungen, Salben, Tees, Pulvern und Duftbeuteln sendet er seine Frau anschließend in die umliegenden Dörfer und Städte um sie dort als Olitäten auf dem Markt oder an der Türe zu verkaufen. Auf diese Weise profitieren alle dieser Gegend von den Interessen der Menschen am Wald.“ Matthias schwelgt in Erinnerung. „Wir sammelten über das Jahr alles, was wir finden konnten und was er uns aufgegeben hatte – jeder hatte seine speziellen Kräuter, auf die er achtete – und Hans machte dann alles mögliche daraus. In der ganzen Region kennt man seine Kenntnisse um vorzügliches Suppengrün und heilbringende Mixturen.“

Die Brühe ist fertig und er zieht ein Beutelchen hervor, streut den Inhalt in den Bottich und rührt sie um. Nach den ersten Löffeln erstaunt Magda:

„Das ist hervorragend! Kommt das vom Hütten-Hans?“

„Größtenteils schon“, bestätigt Matthias, „Mit der Zeit habe ich es etwas verfeinert mit den Kräutern aus dem Kirchgarten. Pfarrer Gotthilf liebt das Exotische und brachte von seinen Missionierungsjahren einiges mit. Das hier ist Beifuß, mit Quendel, Bärlauch und einige italienische Kräuter – Rosmarin und Basilikum, glaube ich.“

„Es gab doch bestimmt auch viele Arbeitsmöglichkeiten in der Stadt, die einträglicher gewesen wären?“, versucht sie Matthias zu verstehen.

„Aber das wichtigste war die Freiheit, die uns der Wald gab“, gibt dieser zu bedenken, „Die Freiheit von der Knechtschaft. Unter uns waren wir am besten aufgehoben und viele blieben bis heute in dieser Gemeinschaft, wurden Jäger, fahrende Händler und Waldbauern. Manche auch Wilderer. Aber mit denen wollten wir nie etwas zu tun haben. Es gibt eben immer ein paar dunkle Hirsche, in jeder Herde.“

Etwas Wehmut klingt mit seinen Worten mit.

„Warum bist du dann nicht in dieser Gemeinschaft geblieben?“, wundert sich Magda, nach dem ersten Löffel.

„Ja, das lag an Elli“, spricht er ernst.

„Was? Hattest du dich etwa in sie verkuckt?“, muss sie beinahe prusten.

„Sie war eine ansehnliche Frau, vor einigen Jahren noch! Aber darum ging es nicht. Sie wollte mir das Haus meiner Eltern abspenstig machen, während ich nicht in der Stadt war. Das hat einen langen Streit nach sich gezogen und der Meier ließ mir dieses Erbstück meiner Familie nur, wenn ich für die Stadt Zimmermannsarbeiten übernähme. Mit der Zeit wurden daraus allerlei Aufträge mehr und mittlerweile bin ich der Baumeister des ganzen Ortes, wie mir scheint. Aber es bereitet mir dennoch Freude. Und ab und zu im Winter treffe ich mich auch noch mit den alten Freunden von ehedem, so wie morgen. Danach sehne ich mich den ganzen Herbst über!“ Sein Blick schweift über die Zeltwände als sei es eine weite Ebene und er stünde auf einem Plateau zur besseren Übersicht. Magda kann diesen Blick durchaus verstehen. Sie hatte mal ähnliche Träume. Aber anders als Matthias hat sie keine Erfahrungen damit gemacht, sondern kann sich nur vorstellen, wie dieses Leben aussehen mag:

„Was glaubst du, liegt hinter diesen Hügeln und Bergen?“

„Eine Ebene, wieder ein Gebirge, noch eine Ebene und danach kommt das nordische Meer, heißt es.“

„Ja, schon, aber danach? Warst du dort schon einmal?“, erkundigt sie sich gespannt.

„Nein, ich weiß nicht mal, ob es dort noch kälter wird als hier und ob dort noch viele Menschen wohnen, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Denn Pfarrer Gotthilf erzählte von seinen Arbeiten im Süden und wie warm es dort war. Richtung Norden kann es ja nur kälter werden“, folgert er.

„Aber irgendwann ist der Norden doch auch einmal zu Ende und es kommt wieder der Süden und es wird wärmer“, wirft Magda ein.

„Das stimmt, falls die Erde wirklich ein Ball ist. Irgendwo jenseits von Thule muss das wohl so sein. Aber ich habe nicht die leiseste Idee wie weit das ist. Nur ist die Eiswüste dort oben nicht erstrebenswert.“

„Aber spannend. Die alten Vorväter dachten doch bestimmt, dass dort die Götter hausen müssten, wo sonst niemand sich hinwagt“, sie beginnt geradezu das Schwärmen.

„Woher weißt du das?“, wundert er sich nun.

„Elli hat ein Buch, wo etwas darüber drinsteht und über die Herkunft unserer Vorfahren. Ich fand es immer spannend darin zu lesen und darüber nachzudenken, wo wie eigentlich herkommen. Du nicht?“, lauert sie auf Antwort.

„Irgendwie schon. Aber so genau wollte ich es dann lieber nicht wissen. Es gab viel Krieg und Ungerechtigkeit und gibt es noch. Mit dieser Schuld meiner Vorfahren möchte ich nichts zu tun haben, wenn ich auch nur deshalb am Leben bin, weil sie sich einst durchsetzten.“ So nimmt das Gespräch an Tiefe zu und wechselt noch manches Mal zwischen Träumen, Erfahrungen, Ansichten, Wünschen und Vorstellungen. Eine Weile reden sie noch so weiter, und die Nacht ist schon älter, als das Feuer gelöscht wird und Ruhe im Wald einkehrt.

 

Der folgende Morgen ist mühselig. Die Feuerstelle liegt längst ausgekühlt und es scheint kälter geworden zu sein. Es hat auch etwas geschneit. Die Wärme unter der Decke verlockt zum Liegenbleiben, aber Matthias ist schon auf den Beinen und es wird nicht wärmer werden. Ein paar Happen sind alles zur Stärkung, bevor sie weiter bergan gehen. Zwischendurch fallen immer mal wieder Flocken und der Wind frischt auf, je höher sie steigen. Bis zum Nachmittag liegt ein ganzes Stück hinter ihnen. Doch Matthias muss sich immer öfter orientieren. Offenbar ist es doch schon länger her, dass er diesen Weg nahm. Sonst ging er nicht auf direktem Weg über die Berge.

Ein wenig verloren steht Magda währenddessen hier unter den Fichten und schaut in deren Nadelgefieder. Beim Gedanken an die schier unendliche Zahl der Bäume in diesem weiten Land kommt sie sich verloren vor und wird von einer Angst vor dem Wald überfraut. Es ist mittlerweile schon dunkler geworden und die Kälte kriecht in ihr hoch. Die Macht der Natur wird ihr hier gewahr und sie beginnt zu begreifen, dass diese uralte Mutter die Menschen immer beherrschen wird. Wohingegen Magda  solange dachte, dass die Welt ein Meer von Zivilisation ist, in der nur noch wenige Bereiche von der Natur als kleine Inseln zurückgelassen wurden, überkommt sie gerade die Vorstellung, wie viele Bereiche der Mensch nur vorgibt zu beherrschen und dass eigentlich die Zivilisation immer noch nur Inseln in der Natur bedeuten. Seltsamerweise erfreut sie dieser Gedanke allerdings und die Angst vor dem Wald verschwindet langsam, weicht gar einer seligen Zufriedenheit. Denn sie beginnt zu glauben: nicht nur die Natur, sondern auch die Natur aller menschlichen Dinge ist weiblich und so glaubt sie immer siegen zu können, wenn sie es nur richtig anstellt und die Denkweise der Männer verstehen lernt.

Noch einige Zeit müssen sie in dieser Gegend umherstapfen, ehe der Treffpunkt naht. Eine Hütte im Wald, aus ganzen Stämmen zusammengesetzt bildet schon seit jeher das Ziel der Jäger und der Wanderer aus der Umgebung. Sie alle gehen auch im Winter auf die Pirsch, denn die karge Gegend bietet sonst kaum Nahrung. Aber keiner von ihnen möchte es missen. Das ist ihre Freiheit und der Landesfürst ist weit weg, kommt nur ab und zu im Sommer zur Hirschjagd vorbei, bleibt ein paar Tage und verzieht sich wieder. Die Männer hier im Norden bleiben aber das ganze Jahr und alle paar Wochen treffen sie sich an dieser Stelle und tauschen die neuesten Nachrichten aus. Die Zeit dazwischen sind sie mit Beobachtungen, Wildhege, Holzarbeiten und der Wildereibekämpfung beschäftigt. Denn so wie sie haben auch andere vor allem im Winter Hunger und lauern den Tieren mit brutalen Methoden auf. Nicht selten müssen verletzte Geschöpfe getötet werden, die tagelang in einer Fallgrube dahinvegetierten und deren Fleisch reicht nur noch den Füchsen, weil die angehenden Kadaver schon krank und bei lebendigem Leib madig gefressen wurden. Diese Jäger aber leben mit der Natur und versuchen sie zu verstehen, wo andere sie nur ausnutzen wollen.

Wie ihr Matthias das so erzählt, will Magda unbedingt diese Menschen sehen, die genau das verkörpern, was sie soeben begriffen hat. Vielleicht kann sie sich ihnen ja anschließen, wenn diese Burschen tatsächlich so aufgeschlossen gegenüber allem sind und auch Mägdchen zulassen. Aber sie bezweifelt es, denn letztlich sind auch jene nur Männer. Dann muss sie eben bei Matthias bleiben und sehen, wohin sie dieser Weg verschlägt. In diesem Moment denkt Magda jedoch gar nicht daran, dass sie ja auch mit einem dieser Exemplare von Jägern unterwegs ist, selbst wenn er nur ein Ehemaliger ist.

Tal um Tal überwinden die beiden den Schnee des Waldes. Viel weißes Pulver liegt nicht verstreut, angesichts dieser Höhe. Beschwerlich ist es trotzdem hindurch zu waten. Am Horizont sehen sie erneut die Dunkelheit näher kommen und es wird immer unmöglicher noch einen Weg zwischen den Bäumen hindurch zu finden. Der schwere Himmel, von Wolken bedeckt, als hätte es nie eine Sonne gegeben, schwebt drohend über ihnen und hält zur Eile an. Durch die nackten Stämme hindurch sieht Magda den gegenüberliegenden Hang, ebenso weiß und spärlich bewachsen, sodass die Berge dahinter und die Nacht darüber deutlich zu erkennen sind. Der Anblick lässt sie noch mehr frösteln, doch sie verkriecht sich noch ein wenig tiefer in ihre zwei Mäntel und will es Matthias nicht merken lassen.

‚Warum er mir aber auch keinen von seinen Umhängen anbieten will, wo die Kälte ihm doch offensichtlich nichts anhaben kann‘, bemängeln ihre Gedanken und sie blickt ihn teils missmutig an und teils schaut sie stur auf den fast immer noch blendenden Schnee vor ihren Füßen. Doch Matthias sieht schon das Dach der Hütte auf der anderen Seite des Tals. Er hat natürlich bemerkt, dass sie friert und sucht es zu verbergen – denkt andererseits aber auch schon daran ihr einen weiteren Mantel zu reichen. Doch dann nimmt er zumindest flüchtig den verwitterten Pfeil wahr, der in einen Baum geritzt wurde und in Richtung der nahen Zuflucht deutet. So entscheidet er sich diese lieber schnell zu erreichen als noch mehr Zeit zu verlieren. Denn mit zunehmender Nacht wird der letzte Pfad umso mühsamer werden. Hier ist das Tal nämlich zu Ende und das bedeutet die beiden Grate begegnen sich an einer dünnen Brücke.

„Diese müssen wir überwinden um hinüber und zur Hütte zu gelangen“, ruft er ihr zu, während seine geschickten Hände bereits sicher einen Strick um den Stamm einer dicken Tanne knoten. Magda wird es ganz anders, als sie das hört. Der Grat hat vielleicht eine Trittbreite von einer Elle – an der breitesten Stelle!

„Das ist doch nicht mal eine Elle breit! Bei dem Schnee,… das geht doch nicht!“ Als sich Panik in ihr breit macht, zügelt sie diese weibische Art, wie sie es empfindet und fasst in den Worten ihres Begleiters Mut.

„Nur keine Angst, meine Liebe. Dafür habe ich dieses Seil mitgebracht. Normalerweise liegt hier immer eines bereit, aber die Zeit hat es wohl zernagt. Ich binde es mir um und wenn ich ausrutsche und hinunter falle kann ich mich daran wieder hocharbeiten oder du hilfst mir.“

„Können wir nicht durch das Tal gehen?“

Sie versucht es ein letztes Mal, im genauen Wissen darum, dass es nichts bringt.

„Das ist unmöglich“, meint er ruhig, „Dort hat es hinein geweht. Der Schnee liegt dort gut zwei Meter hoch.“ Seine Erklärungen klingen logisch und doch sträubt sich etwas in ihr die Vorstellung anzunehmen über diesen schmalen Grat zu gehen. Auch wenn es feige klingt, aber das ist doch Wahnsinn! Sie sieht erst einmal Matthias zu, wie sich dieser behände bis zur Mitte der Brücke vortastet.

„Komm“, sieht sie ihn mehr zurufen, als dass sie es versteht. Der Schnee schluckt seine Worte und der Wind weht den Rest davon. Das allein würde schon reichen um sie zum Umkehren zu bewegen. Doch sie kann nicht zurück und ihn hier hängen lassen. Außerdem würde sie sich diese Schmach und Schwäche in der warmen Kammer nicht verzeihen. Und die ist ja gar nicht so weit weg, wie er sagt, nur eben auf der anderen Seite und mit Umständen verbunden. Sie muss ihm vertrauen, wenn ihr Verstand auch sagt, dass seine Logik nicht gut genug ist um dieses Wagnis einzugehen. Die Knoten hat er ihr schon vorbereitet und so wagt sie es das Seilende vom Fels zu lösen und sich daran zu binden, um sich mit den kalten Fingern am gespannten Strick durch den kniehohen Schnee zu zerren, ohne vorher genau zu wissen, ob fester Fels darunter liegt oder ihr Fuß abrutschen wird. In der Mitte ragt ein Kreuz aus dem Schnee hervor, wo der Schnee am höchsten liegt. Dort steht Matthias jetzt und wartet auf sie. Er hat das Seil daran befestigt und es scheint stabil zu sein. Als sie es erreicht, meint er gelassen:

„Jetzt kannst du dich entscheiden, ob du lieber zurückgehen möchtest oder den Rest auch noch wagst.“

Er spürt Magdas Leib, welcher auffallend zittert und er weiß, dass das nicht von der Kälte kommt. Denn die Aufmerksamkeit durchströmt sie und kalter Schweiß wird ganz sicher gerade ihren Rücken herunterlaufen, wie auch ihm das erste Mal, als er allerdings im Spätsommer vor einigen Jahren hier entlang kam. Er spürt diesen zarten Körper und merkt, wie zerbrechlich dieser ist – so wie das Leben, gerade hier, gerade in dieser Situation. Aber dann erinnert er sich seines handfesten Griffs und dem Vertrauen auf seine Hände, die schon viel geschafft haben und denen er sich sicher ist. Diese Ruhe überträgt er auch auf Magda. Sie schaut ihn an mit einer Mischung aus Trotz, Angst, Widerstreben und Unmut. Dann überwiegt in ihr der Trotz – nicht, weil es sicherer ist mit ihm noch einmal eine Strecke wie diese weiterzugehen als die gleiche Entfernung allein zurückzulegen. Das ist es nicht, so viel weiß sie. Doch erklären kann sie es sich nicht. Ist es weil sie sich beweisen will, oder weil er Recht hat? Weil die Hütte nicht mehr weit ist oder sie sich sicher fühlt – oder ist es die insgeheime Vorfreude auf die Begegnung mit den Jägersleuten? Auf der anderen Seite angekommen erkennt sie, dass nichts davon wirklich ausschlaggebend dafür war. Allein der Trieb voranzukommen und nicht in diesem Moment zu verharren befahl ihr konzentriert weiter zu gehen.

‚Schade eigentlich‘, denkt sie sich danach. Sie hatte sich mehr erhofft.

 

Tatsächlich ist die Hütte einige hundert Meter unter dem Gipfel eine Begegnungsstätte der besonderen Art. Sie ist sogar bewirtschaftet. Man erwartet beide Wanderer bereits, denn sie wurden durch die spärliche Vegetation und vor dem grellen, hellen Schnee schon lange gesichtet. Wärme durchflutet ihre Körper, als sie die Mäntel ablegen. Dazu strömt ein Duft von wohligen Getränken durch den Raum, gemischt mit dem Harz der verbauten Stämme und dem Wachs der Lampenkerzen. Einfache Bänke mit Fellen darauf füllen den erstaunlich großen, aber verwinkelten Innenraum und an jeder freien Wand hängt ein Geweih und manchmal auch ein ausgestopfter Großwildschädel. Der Käse und das Brot auf den Tischen erscheinen ihnen wie ein Festtagsessen, auch wenn ihnen das Wildbret der Trophäen lieber gewesen wäre.

„Willkommen, tapfere Wanderer“, werden sie begrüßt, „Grüß dich, Matthias. Lange haben wir uns nicht gesehen.“ Der herzliche Wirt trägt einen breiten Schnauzer, der den Mund selbst beim Reden völlig verdeckt. „Und das hübsche, junge Fräulein ist wohl dein Mägdlein?“

Magda erschrickt bei diesen Worten. Sieht er tatsächlich schon so alt aus? Eigentlich ist er doch ganz gut in Schuss, für … sein Alter.

„Nein, seit dem das mit Lis vorbei ist, lebe ich für mich. Das ist für alle besser, glaube ich“, antwortet Matthias ein bisschen wehmütig. Den Wirt aber reizt die Neugier auf die Unbekannte:

„Verzeih, wenn ich frage, aber ich kenne gerne meine Gäste. Wer bist du dann?“

Zuerst bekommt er keine Antwort, denn Magdas Gedanken sind woanders. ‚Lis‘… kennt sie die vielleicht? Wer könnte dafür in Frage kommen? ‚Wahrscheinlich ist sie aber längst vor ihr verschwunden und … aber so alt ist er doch wirklich nicht!‘ Dann besinnt sie sich:

„Verzeih, mein Lieber. Es ist ein schwerer Weg zu dir gewesen und mein Mut wurde unterwegs stark beansprucht durch deine Sicherheitsmaßnahmen am Berg und insbesondere hier vor der Hütte. Was mich betrifft bin ich nur ein einfaches Weib, das besorgt ist um seinen Heimatort und deswegen die lange Reise mit Matthias besteht.“

„Hm, das müsst ihr mir genauer erklären. Worum geht es denn?“, erkundigt sich der Hütten-Hans und sein Gesicht wird ernster und man sieht, dass er Anteil nimmt am Geschehen in der Welt statt sich hier oben vor ihr zu verstecken.

„Du kennst doch die alte Hermine, vom Weiher“, nimmt sich Matthias der Antwort an. Als Erklärung für Magda fügt er noch hinzu: „Das war die einzige Bürgermeisterin überhaupt, in der ganzen Gegend. Sie ist letztens an einem schweren Fieber gestorben.“

„Ach was!“, erstaunt Hans, „Dabei sah sie noch ganz gut aus, als ich letztens mal beim Weiler drunten war. Im Altweibersommer muss das gewesen sein. Wir dachten alle, die stirbt nie, so in Schuss war sie auch dazumal noch.“

„Genau und sie ist nicht die einzige. Eine Seuche grassiert bei uns im Ort und wir müssen irgendwie Herr der Sache werden. Darum wollen wir nach Lauschitz rüber. Die haben doch allerlei Medizingerät und Arzneien“, bringt er seine Hoffnung an Hans heran.

„Recht hast du. Bin selbst des Öfteren dort und verkaufe ihnen die Ingredienzien dafür. Die machen ihre Glasgeräte selbst und können aus meinen Kräutern wirklich heilsame Essenzen ziehen. Du tust gut daran hinüber zu gehen. Pass nur mit den Viechern auf! Der Winter heuer ist schon älter als in den letzten Jahren und noch kälter.“ Dann besinnt er sich auf sein eigentliches Interesse und angenehmere Dinge:

„Aber sag, was ist mit Elsbeth eigentlich los?“

Als Magda das hört, fällt sie unterstützend mit ein:

„Ja, was ist das eigentlich für eine Geschichte über die arme Herrin?“

Matthias druckst ein wenig und will dazu schon etwas sagen, aber wird natürlich von den Göttern, dem Schicksal oder woran man sonst noch glaubt durch ein heftiges Knarzen der Türe errettet, gefolgt von einem Schwall der Kälte und fröhlich durcheinander geworfenen Stimmen:

„…cke Füße…“, „… vom Schweiß…“, „… Stinkbotten…“, „…Grog dich gleich…“, „…mindestens bis über…“, „… ach, was!...“

Die Jäger sind da. Der erste wird schon Matthias gewahr und erstaunt sich sogleich übermäßig:

„Mensch, das gibt’s doch nicht – der alte Mattich!“

Und Magda denkt sich wieder einmal, dass er doch noch gar nicht so alt sein kann.

„Das man das noch erleben darf, dich mal wieder hier zu sehen“, grunzt ein anderer freudig, „Wie geht’s Lisa?“

‚Anscheinend weiß jeder von seinen ganzen Frauengeschichten. Ob da nicht doch mal mehr gelaufen ist? Oder er hat wirklich so viele Schwestern und Tanten!‘ Sie macht sich weiter ihre Gedanken. So hatte sie ihn nicht eingeschätzt.

Natürlich müssen die Neuen den ganzen Abend lang erzählen, wie es bei ihm zuhause läuft, was sie hier draußen treiben und wie es um allerlei Verwandte und Bekannte steht. Bis in die Nacht hinein wird gezecht und geraunt, gelacht und andächtig zugehört. Aber was ihre Herrin betrifft, hört die Magd kein Wort mehr. Stattdessen kommen Geschichten zutage von den letzten Bekanntschaften, Verlusten unter der Weidgemeinschaft, von Problemen mit den Wilderern und den Jagdgesellschaften der Herrschaften und teils auch noch vom letzten Krieg, wo die Jäger gerngesehene Schützen waren, auch wenn ein jeder es verabscheut hatte auf fremde Menschen zu schießen, noch dazu ohne jede eigene Überzeugung. Ihr einziger Trost war gewesen dem angeblichenen Feindesmann zumindest einen schnellen Blattschusstod zu ermöglichen und in Gedanken ein Halali zu gewähren, statt ihn angeschossen im eigenen Saft ersaufen zu lassen.

Aber auch Heiteres erfüllt den Abend, wie es das allgemeine Leben der Wildhüter beschreibt und sie es sich gegenseitig verherrlichen:

„…und dann hab ich ihr das Schwein gezeigt und gesagt, sie soll’s doch selbst wiegen, wenn sie nicht glaubt, dass es eine Zweizentnersau ist. Als sie dann an der Waage stand und ihr der Keiler nur noch lahm die Zunge entgegen streckte, verfing sich ihr Kleid mitsamt Unterrock in den Hauern und riss ihr alles der Länge nach auf, weil sie wie eine Henne aufgeschreckt herumfuhr. Mann, ihr hättet mal diese Schenkel sehen sollen!“

Ein Mann mit üppigem Vollbart spricht diese Worte, doch seiner Mimik kann man durch die ausgiebige Gesichtsbehaarung nicht entnehmen, ob er es ernst oder zynisch meint.

„Was? Reden wir von der gleichen Sieglinde? Die ist doch stämmig, dass sich jeder Bär hinter ihr verstecken könnte!“, meint ein anderer mit deutlicher Narbe in Kinnnähe.

„Eben, das meine ich ja. Und glaub mir, sie hat noch einige Pfunde zugelegt“, winkt der Bärtige ab und setzt den Becher an, während das Gelächter wieder einmal die Runde macht.

„Du kriegst aber auch nie genug von den Weibern!“, lästert ein besonders Stämmiger.

„Da hätte mir weniger gereicht, das kann ich dir sagen“, gibt der Bartträger zurück.

„Hättest sie ja statt der Gewichte drauflegen können. Dann hätt’s gepasst mit den zwei Zentnern der Sau!“, und selbst Magda muss grinsen, bei der Vorstellung daran.

„Wenn das arme Vieh dabei mal nicht durch die Decke gegangen wäre!“, schiebt der Bärtige nach. Mehr Gelächter folgt und findet einen atemlosen Höhepunkt nach den bereits vor Lachen schwer keuchenden Worten des Kinnnarbigen:

„Meinst du…“, er schluckt das Gesöff fertig, „… meinst du Sieglinde oder das Schwein?“ und die ganze Hütte johlt.

Nah beim Ofen lässt es sich auf diese Weise aushalten und immer mal greift eine Hand zum heißen Krug voll Tee oder Grog, der auf den Kacheln nie kalt wird. Denn jeder sitz irgendwie nah beim Ofen in diesem engen Schankraum, eingezwängt zwischen den Leibern der anderen.

Die Nacht scheint ewig zu dauern und bei solchen Geschichten und fortwährendem Redefluss will sie auch keiner beenden. Erst spät entschließen sich alle nach und nach auf den Boden zu steigen und ihre Mäntel als Unterlage auszubreiten. Die dicken Umhänge dienen gleichzeitig als weiche Unterlage und Wärmflasche.

 

Der folgende Tag ist geprägt von gemeinsamer Jagd. Wo sonst jeder nur für sich geht, brechen sie nun gemeinsam auf um vor allem kranke Tiere und Raubwild zu schießen, das einzeln herumstreunt.

Matthias und Magda bleiben dagegen auf der Hütte und sehen, wie die Jäger mit ihrem Glück und Erfolg zurückkehren und das Wetter besser wird. Am zweiten Abend beobachten sie auch die rote Sonne im Westen über den hochgelegenen Wäldern beim Versinken und im Gegensatz zu gestern überfällt die Gemeinschaft eine allgemeine Melancholie. Denn die Jäger ahnen, dass auch ihre Zeit vorbeigehen wird. Noch wollen sie nicht daran denken und feiern ihre Freiheit in den Bergen. Sie würdigen bei diesem Anblick alle, die bei der Jagd verunglückt sind und nie wieder kehren werden und teilen wie zu sich selbst als Trost ihre Ansicht mit, dass ein jeder hinter den weiten Höhenzügen sein Glück findet und dass das Leben dort fern aller Sorgen des Diesseits weitergeht – in einem Land noch nördlicher als hier, das niemand kennt, außer vielleicht Niklas.

Bei diesem Anblick bleiben die Jäger eine Weile vor der Hütte sitzen und sinnieren noch einmal über die Welt, wie sie sie erlebt haben. Die Sonne hängt bereits hinter den Bergen im Tal, das gar keinen Schnee mehr aufweist und so scheint es wie immer im auslaufenden Winter zu sein, wenn man sich hier oben trifft und über die Höhenzüge in eine Richtung schaut, die fern aller Vorstellung liegt. Doch mag es nun an einer Vorahnung über eine nahende Änderung ihrer Situation oder am Winter liegen: sobald das Frühjahr kommt ziehen die Jäger wieder frohgemut ihrer Wege und erfreuen sich an der erwachenden Natur. Sogar den Hüttenwirt hält es dann oft nicht mehr in seinem Überwinterungsquartier und er geht auf Kräutersuche für seine bekannten Mischungen.

 

Am Morgen des zweiten Tages verabschiedet Hütten-Hans die beiden seltenen Gäste mit dem Verweis auf die nächsten Anlaufstellen, wo sie übernachten können bis Lauschitz erreicht ist. Denn einige Höhenzüge liegen noch zwischen ihnen, bevor es für eine kurze Zeit flacher wird und dann wieder ansteigt. Das Städtchen liegt etwas versteckt im nächsten Tal. Ein paar Weidgenossen schließen sich ihnen an und Magda fühlt sich allein durch deren Gewehre um einiges sicherer, wenn sie sich auch an die mächtigen Schädel von Bären, Wildschweinen und Wölfen neben dem Ofen an der Wand erinnert. Ab und zu heißt es von der Seite:

„He, Matti, da drüben! Spürst du’s?“ Die Jäger ‚spüren‘ das Wild in dieser Gegend auf. Keiner könnte sagen warum, aber unter diesen Bäumen arbeiten alle Sinne zusammen und mit einiger Erfahrung ist nicht mehr zu erklären, ob man nun was gesehen, gehört, gerochen oder eben irgendwie gespürt hat. Und Matthias zieht es meistens mit. Lang schon musste er auf die Jagd verzichten, da kann es er sich jetzt nicht nehmen lassen ein paar Stück Wild zu erlegen. Ein besonders Bärtiger meint daher grinsend:

„Ja, ja. Unser Spürhund hat’s noch nicht verlernt.“

„Solang du nur nicht das Fressen verlernst, kann er bis in alle Ewigkeit jagen und wird nicht fertig werden“, wirft der Kinnnarbige heiter ein.

„Still jetzt“, mahnt ein anderer. Und die Männer schleichen sich zwischen den langen, verholzten Grashalmen hindurch, wie in dieser Gegend die etwas sonderbare Art von schlanken Bäumen genannt wird. Die Weidleute dagegen sprechen nur von ‚Holzhalmen‘. Zwischen ihnen wäre es schwer das Wild ungesehen zu verfolgen, doch Krautwerk schützt das Antlitz der Jäger und verrät sie nicht allzu rasch. Schon auf einige Entfernung können sie durch die lichten Bestände hindurch ihr Ziel ausfindig machen und wenige Schüsse später treffen sie dieses mit meist ebenso vielen Patronen. Den Fang aufzuspüren fällt zur Winterszeit in den Bergen nicht schwer. Licht ist der Wald und hell der Grund und so braucht man keine Hunde. Schnell ist ein Schlitten aus ein paar zusammengebundenen Ästen gebaut und das Wildbret kann zum nahen Unterstand gezogen werden. Diese Nacht ist weniger angenehmer als zuvor bei Hans, aber sie lieben es dennoch ihrem Weidmannshandwerk nachzugehen – auch wenn das bedeutet, in dieser Gegend die Nacht in einem engen Verschlag zu verbringen, der stark verweht ist, ja erst einmal frei gegraben werden muss. Nicht selten müssen sie einige Zeit suchen, bevor sich das Versteck findet. Doch beim Ausnehmen der Tiere haben die Jäger ebenso viel Freude wie beim Jagen, wenn das auch schauerlich klingt, denn sie beherrschen jeden Griff und denken nach dem Halali nicht mehr über die Seelen nach. Nun ist aus dem Wesen ein Gegenstand geworden und der wird wie alles andere auch bearbeitet, das nicht lebt. Magda erscheint das nicht weniger befremdlich als daheim das Schlachten der Hausschweine und so scherzt sie bald mit den Männern zusammen.

 

Als die beiden Wanderer an diesem Morgen die Jäger verlassen und weiterziehen, überkommt Magda ein selten wehmütiges Gefühl. Denn sie scheint zu verstehen, was diese Männer zusammenhält und so auch Matthias. Er fühlt das immer wieder, wenn er diese Gemeinschaft verlässt und obwohl er weiß, dass er jedes Mal mit der Gewissheit des Wiedersehens geht, fürchtet er auch jedes Mal erneut, es könne das letzte Mal sein. Denn hier spürt er Vollkommenheit, fühlt sich zu Hause und angekommen. Weswegen das Verlassen so bitter erscheint, also verließe man das Paradies. Doch es sind nicht nur die Menschen und deren Einstellung zu der umgebenen Natur. Auch mag er die Abgeschiedenheit von der Welt und ihrem ständigen Geschehen und dem unablässigen Wandel, der offensichtlichen Entwicklung in eine bestimmte Richtung – genannt „Mode“. Beständigkeit, das ist es, wodurch man sich besinnen und seine Umgebung kennen lernen kann. Die Menschen kontrollieren gerne, doch wenn sich alles ständig verändert, muss man auch ständig mitziehen – oder man sucht Dinge von Dauer. Das sind so auch Beziehungen untereinander: Liebe, Freundschaft, Familie, Kameradschaft. Diese findet er hier und gleichzeitig weiß er, dass sich die Natur nur wenig verändert. Zwar gibt es in unserem heutigen Verständnis Evolution, aber die schreitet zu langsam voran, um sie zu bemerken. Die meisten anderen Veränderungen der Natur kann man verstehen lernen.

Magda dagegen, als eine Person, die ständig nach Neuigkeiten giert, hat hier auch etwas Neues gefunden. Nur geht es sie dieses Mal persönlich etwas an, betrifft sie und ihr eigenes Leben und sie wünscht, diesen Moment festzuhalten. Allerdings kann sie nicht begreifen, warum ihr das innerlich widerstrebt: dieser Konflikt begleitet sie nun nach dem Aufbruch, während beide in der spät aufgehenden Wintersonne talwärts wandern. Daher fragt sie Matthias:

„Was glaubst du? Wirst du irgendwann wieder gemeinsam mit diesen Menschen leben?“

Er lächelt bedauernd:

„Ich bin an meine Aufgaben in der Stadt gebunden. Dieses Leben im Wald ist vergangen. Ich bin froh, dass es das gab, denn ohne diese Erfahrungen wäre ich um sehr viel ärmer und hätte nicht meine heutige Sichtweise auf jene Dinge, die so vor sich gehen. Aber sich etwas zurück zu wünschen, was abgeschlossen ist, mündet nur in Schwermut. Selbst wenn ich das zurück haben konnte, wäre es nicht dasselbe, denn ich würde meine jetzigen Aufgaben aufgeben. Diese Menschen hinter uns wissen das und dafür tue ich alles für sie in der Stadt, damit sie so leben können, wie sie es mögen und wie es gleichzeitig das Beste für die Natur ist.“

„Du versuchst also deine Vergangenheit zu bewahren.“

„Nur jenes, woran ich glaube. Und das hat sich seit damals nicht verändert. Deswegen scheint es für dich wohl die Vergangenheit zu sein. Für mich ist es jedoch wesentlich auch für die Zukunft – fundamental wesentlich.“

Der Schnee wird weniger und die Gegend trostloser. Gleichzeitig zeigen sich wieder vermehrt Hinweise auf menschliches Wirken: Felder und gerodete Waldparzellen tauchen auf. Natürlich hat das nichts mit dem fehlenden Schnee zu tun. Aber dort, wo die Bedingungen günstig sind, wirtschaften nun einmal auch Menschen und unterwerfen die Natur.

Der schwerste Weg liegt nun hinter ihnen; sie haben die Berge überwunden und die Stadt ist nicht mehr fern. Doch heute schaffen es die Reisenden nicht mehr ans Ziel und ein Platz für die Nacht ist zwischen den Feldern schnell ausgemacht. Am Rand des Ackers finden sich in Waldesnähe genügend Hölzer für ein Feuerchen und ebenso Scheunen zum Schlafen. Und Das Stroh bietet eine weiche Unterlage sowie Zündmaterial in einem.

Von hier hat man einen weiten Blick über die Ebene, bis hin zu den Höhen am Horizont. Matthias war selbst noch nie dort. Zu weit schien es ihm immer entfernt und zu unwirklich stellt er sich die Gegend vor. Dort hinten aber glaubt er die Kameraden gehen zu sehen. Denn weit kann man hier schauen, durch das Tal, das geradewegs auf die Höhen zuzulaufen scheint, gesäumt mit hügeligem Wald- und Weidland von allen Seiten. Es ist die Richtung, in der die Sonne stets untergeht, in die er meist einige Momente am Abend verträumt blickt. Dieses Mal mischt sich auch der unwirkliche Abschied von seinen Kameraden dazu. Dann reißen ihn Worte aus diesem mulmigen Gefühl:

„Was machen wir eigentlich, wenn diese Reise zu Ende ist?“, fragt seine Begleitung am Feuer, mit etwas erwartungsvollem und zugleich wehmütigem Ton. Ein paar Momente verstreichen, als würden die Worte von den Flammen verbrannt. Dann bringt Matthias den Ausdruck heraus, als gäbe es keine andere Antwort:

„Na das Gleiche wie zuvor.“

„Mich hat die Reise in einer Weise berührt, dass ich mir das Ende nun nicht mehr vorstellen kann“, wagt sie es zu erklären.

„Wie kam das?“, verwundert er sich. Ein wenig neugierig machen ihn diese Worte schon. Doch sie stutzt. Woher soll sie das wissen? Schließlich berichtet sie gerade direkt über ihre Gedanken ohne das so schnell hinterfragen zu können. Zuerst will sie von den Erlebnissen reden, doch dann fällt ihr etwas anderes auf:

„Vielleicht… ich habe neue Sichtweisen entdeckt. Meine Umgebung, wie ich sie kannte, hat zusätzliche Brücken hinzu gewonnen und ich fühle mich damit wohl. Ja, ich glaube das ist der Grund.“

„Hm, eine gute Erklärung“, gibt er zu, „Das kann ich nachvollziehen und das ist das Schöne an der Jugend. Aber ich glaube, das entwickelt sich von selbst, wenn man wie wir so viel Zeit in der Natur verbringt und eine gemeinsame Sache verfolgt. Wenn dann das Ziel in greifbare Nähe kommt und sicher erscheint, will man es hinauszögern. Aber unsere Aufgabe duldet keinen längeren Aufschub. Und zudem geht dir ja nichts verloren. Die Menschen bleiben, du kennst sie jetzt nur besser und musst dieses Wissen zukünftig nutzen.“

Sie ahnt, dass es ihr nicht leicht fallen würde, das zu begreifen. Aber natürlich war ihr auch emotional an der Verbindung zu ihm gelegen. Denn Matthias war zu ihr sehr warmherzig gewesen und zeigte sich ihr unverschleiert und offen. Zudem kann er sie offenbar besser verstehen als sie sich manchmal selbst, ohne das allerdings gegen sie auszunutzen. Zuneigung bleibt dabei natürlich nicht aus. Aber sie fragt sich nun auch, ob sie gegen diese Lis und der ganzen gemeinsamen Zeit zwischen dem früheren Paar überhaupt etwas entgegen zu setzen hätte, außer ihrer Jugend. Matthias ist jedoch nicht der Typ, dem so etwas wichtig wäre. Dennoch legt sie sich nah zu ihm und sucht schon dösend seine Nähe. Er lässt es gewähren, als wäre es selbstverständlich, geht aber auch nicht näher darauf ein.

 

Lauschitz ist nicht ganz so nestig wie ihr Heimatdorf. Schon von fern waren die Kirchglocken kaum zu hören, weil ihre Töne im Lärm der Stadt untergingen. Es gibt Kopfsteinpflaster und hie und da auch gepflasterte Plätze. Nichtsdestotrotz scheint der Dorfcharakter auch hier mit etlichen Ställen, Höfen und üppigen Obstbäumen zwischen den Häusern hindurch. Nicht selten werden die Gassen mehr von Wiesen getrennt als von Gebäuden. So verwundert es nicht, dass die Pharmazie direkt neben einer weitläufigen Kräuterwiese zu finden ist. Entgegen dem Dorfleben flanieren hier aber tagsüber stets Menschen auf und ab, erledigen Geschäfte und haben Termine.

Magda ist überwältigt von der Blumenpracht im Fenster des Apothekers und auch Matthias kann sein Staunen nicht länger zurückhalten.

„Wie bringt er die nur so zum Blühen?“ staunt sie und kann die Augen nicht von den Blüten lassen.

„Wahrscheinlich kennt er sich mit Gewächsen wohl aus“, vermutet Matthias, „Hoffen wir jedenfalls, dass er auch die richtige Medizin daraus machen kann.“

Beim Reingehen nehmen sie schon den Geruch von Tees und frisch zerstoßenen Kräutern war. Mit jedem Schritt mischt sich mehr auch die bittere Note von Tinkturen dazu und alkoholische Lösungen verraten ihre Anwendung in so mancher Arznei. Kleine, goldene Gewichte stehen im Regal und große Dosen, beschriftet mit fremden Namen und verziert mit den entsprechenden Darstellungen der Inhaltsstoffe. Mörser und Pistill liegen bereit um die Inhaltsstoffe aus den Pflanzen zu pressen. Manch ein Wassertopf zum Auskochen allerlei Wurz und von Verbandsmaterial müssen demnächst wieder abgewaschen werden. Schwere Holzbretter halten das alles in kunstvoll geschnitzten Regalen und an einem solchen hängt ein Pergament mit einem Gedicht, das da lautet ‚Der Trank‘. Es liest sich wie eine Rezeptur, Matthias kann es aber nicht mehr zu Ende studieren, als durch einen engen, hellen Gang aus Richtung des Kräutergartens ein Mann mit Brille hervortritt:

„Sie wünschen?“

„Ach her Doktor Humbolt! Lange nicht gesehen und so sehr ich Ihre Person auch schätze, bin ich aus gewissen Gründen doch auch froh darüber, wenn Sie verstehen“, ergießt sich Matthias in geschwätzigen Förmlichkeiten,  „Umso mehr hoffe ich nun, von Ihnen Rat und Hilfe zu bekommen, denn unser Städtchen plagt ein fürchterliches Unheil.“

So umschweifig hat Magda ihren Begleiter noch nie reden hören. Die Offizin und diese Worte erzeugen ein Gefühl der Erhabenheit in dem Raum, noch bevor der Apotheker in gleicher Weise antworten kann:

„Dann lass doch hören, was euch plagt. Ich bin mir sicher, dass es eine Abhilfe dafür gibt.“

„Selbst kenne ich die Beschwerden nicht“, beginnt Matthias, „Daher kann ich Ihnen nur Berichte weiterleiten und die Einschätzung eines Weltkundigen, der unser Dorf zwecks Diagnosis neulich besuchte. St. Niklas ist sein Name.“

„Ja, ein wenig kenne ich diesen Menschen. Doch vielmehr hörte ich von ihm. Seine Analysen schienen ja meist zu stimmen, auch wenn er es nicht allzu sehr mit der Wissenschaft zu tun hat“, gibt der Weißkittel zu verstehen.

„Er sagte, man müsse schon einen erfahrenen Salbenmixer ans Werk schicken, um diese Rezeptur richtig anzurühren. Und natürlich dachten wir gleich an Sie“, beteuert Matthias.

„Natürlich nicht nur, weil ich der einzige Pharmazeut der näheren Umgebung bin“, bemerkt der ältere Herr hinter der Offizin mit einem Lächeln.

Matthias lässt sich dadurch nicht beirren und erwidert mit Nachdruck;

„Wir alle schätzen Ihre Arbeit, dass wissen Sie!“

Die darauffolgende Antwort beweist das professionelle Umdenken des Apothekers zwischen Schalk und ernster Medizin:

„Was du beschreibst, lässt sich am besten mit dem Nordmannextrakt heilen, einem Verfahren der nördlichen Länder, vom Süden der Welt aus gesehen. Diese Essenz enthält neben einigen, seltenen und exotischen Stoffen aus den Mittagslanden vor allem heimische Kräuter. Gerade eines davon wächst aber heute nur noch selten in der Umgebung und ist mir schon seit einiger Zeit ausgegangen, seit mein letztes Exemplar abstarb. Es handelt sich hierbei um einen erlenartigen Busch, der bei uns eigentlich nicht heimisch ist. Meinen Zögling hatte ich von einem fahrenden Krämer. Entweder hatte der ihn vom Deibeljoch oder von anderen Händlern, die von noch weiter her kamen. Monate vorher gab ich ihm die Bestellung in Auftrag, bevor ich dieses Exemplar endlich bekam. Aber anscheinend gedeiht es in meinem Garten nicht recht.“

Die Ausführungen des Apothekers klingen seltsam und nach einiger Anstrengung, die vor den beiden Besuchern liegen würden, sollten sie danach streben es zu finden.

„Wie heißt dieses wundersame Gewächs?“, erkundigt sich Matthias nachdenklich.

„‚Frangulus‘, aber das wird dir nicht viel nützen. Niemand kennt es in der Gegend. Falls das für euch nicht machbar erscheint, könnt ihr auch versuchen von einem der Anlieger hier einige Rhabarberwurzeln zu erstehen. Ihre Beete finden sich neuerdings überall im Ort. Allerdings wirkt es vermutlich nicht so gut wie der Frangulus“, gibt Humbolt zu verstehen, „Das Deibeljoch dagegen ist von hier aus viele Tage entfernt in den westlichen Höhen und um diese Jahreszeit nur unter größten Anstrengungen zu erreichen. Das würde ich euch nicht raten. Versucht es lieber mit Rhabarber.“

Eine Zeichnung von diesem ersatzhaften Gartengewächs macht der Apotheker ihnen noch, bevor sie sich fürs erste von der Apotheke und vom Gedanken an schnelle Heilung verabschieden. Die Straße führt durch die Stadt den Hügel hinan, vorbei an zahlreichen Hoftoren, jedoch nicht gerade an einer Menge Gärten.

„Wie sollen wir eigentlich dieses Kraut bekommen? Haben wir denn was zum Handeln?“, drückt Magda ihre Sorge aus, während sie dem Pflaster folgen und mühsam voran stapfen.

„Tja, das hat mir bisher noch niemand gesagt. Ich bin leider auch kein Kaufmann. Menschen zu überreden gehört nicht gerade zu meinen besten Fähigkeiten“, stimmt Matthias in ihre Besorgnisbekundung ein. Denn für den Apotheker hatten sie Gebirgskräuter im Tausch mitgebracht. Gewöhnliche Gartenbesitzer können damit freilich nichts anfangen. Doch die kaufmännische Schwäche von ihm stärkt in Magda nun den Willen nach einer Lösung. Nun hat sie nämlich einmal die Nase vorn:

„Dafür kenn ich mich in diesem Geschäft wesentlich besser aus. Immerhin ist es genau das, was ich für Elli die ganze Zeit schon tue!“

„Wie willst du das anstellen?“, zeigt Matthias seine erwachende Neugier.

„Wirst du schon sehen“, bekommt er allerdings nur zu hören.

So traben sie denn von Haus zu Haus. Matthias bleibt zurück und positioniert sich in einiger Entfernung um auf eines von Magdas verabredeten Zeichen deutlich aus dem Schatten zu treten und auf sie zuzugehen. Wozu er das tut, weiß er noch nicht. Bei den ersten Türen scheint es auch nicht zu funktionieren. Mal gibt Magda kein Zeichen, andere Male knallt man ihr die Tore vor der Nase zu. Doch dann scheint ihr Plan aufzugehen. Sie gibt das Zeichen und er kommt ein paar Schritte in ihre Richtung. Ein paar umherstehende und gehende Leute schauen ihn dabei an, da es aus der Nähe etwas unnatürlich aussieht. Sichtlich erschrocken blickt nun auch der Hausbesitzer zu ihm und verschwindet dann wohl ohne weitere Worte ins Dunkel seines Flures, während die Pforte offen stehen bleibt.

„Was hast du ihm gesagt?“, will Matthias von Magda ungeduldig wissen.

„Nur, dass er es mit einigen unangenehmen Kerlen zu tun bekommt, falls er nicht gewillt sein sollte Bettis Schulden zu tilgen“, entgegnet sie ihm trocken, als würde das jeder ständig tun.

„Betti?“, wundert er sich.

„Das ist offensichtlich Ellis Name beim Gesocks dieser Stadt“, erklärt Magda. Seine ehemalige Bekannte muss sich ganz schön entwickelt haben, denkt Matthias bei sich. „Noch dazu habe ich ihm weisgemacht, dass die anderen Nichtsnutze hier in der Gegend nur auf mein Zeichen warten und dieses dir dann gegeben. Praktischerweise schauten auch alle anderen auf dich, als du so überaus auffällig gefolgt bist.“

„Moment mal… Nichtsnutze?“, empört er sich.

„So war das doch nicht gemeint, du…“, versucht sie rasch zu erklären, als der Schuldner mit ein paar Stauden zurückkommt. Matthias vergleicht die Pflanzen mit seiner Zeichnung und kommt zu dem Schluss, dass dies kein Rhabarber sein kann. Magda fragt ihn daraufhin in scharfem Ton:

„Was soll das? Hatten wir nicht gerade versucht uns gütlich zu einigen oder willst du unbedingt Ärger?“

„Nicht doch, lasst es mich erklären“, sichtlich bedrückt ringt der Mensch um die passenden Worte, „Rhabarber hab ich keinen, aber das sind einige seltene Pflanzen, die ihr beim Schulzen für Rhabarber eintauschen könnt. Er schuldet mir seinerseits noch ein paar Sachen. Deswegen wird er auf den Handel eingehen. Zeigt ihm nur dieses Abzeichen hier und er weiß, dass ihr von mir kommt.“

„Na schön“, geht Magda auf das Geschäft ein, „Wir wissen ja, wo wir dich finden, falls daran etwas faul sein sollte.“

„Es ist auch nicht allzu weit weg. Nur die Straße bis zum Ende und beim Amtshaus rechts vorbei, dann steht ihr schon davor. Direkt neben der Pfarrei“, versucht man ihnen beschwichtigend zu beschreiben. Als sie sich auf den Weg dorthin gemacht haben, schaut sich Matthias dieses neuartige Kraut näher an.

„Mir gefällt das nicht“, gibt er zu bedenken. „Diese ganzen Methoden und die Feilscherei! Das war mir noch nie geheuer.“

„So läuft das aber in diesem Geschäft“, zuckt Magda die Schultern und bedauert ihn schon fast um seine augenscheinliche Naivität auf diesem Gebiet.

Die Adresse ist leicht zu finden: ein großes Tor weist den Eingang, umgeben von allerlei Töpfen und hängendem Gewächs. Nach einer Weile des Klopfens lässt sich jemandes Gang auf einer Holztreppe vernehmen, bevor man ihnen öffnet und Magda nach ein paar Sätzen der Erklärung nun mit einer wesentlich höflicheren Art das Anliegen vorträgt.

„So, so, dann sollt ihr diese Erdäpfel also gegen meine guten Rhabarberstängel eintauschen“, wird ihnen entgegnet, „Na kommt dann halt mal mit.“

Matthias folgt ihm sogleich in den Unterbau des Hauses, doch Magda nimmt einen anderen Weg. Hinunter kann ohnehin immer nur einer in der Breite gelangen. Der Hausherr wird also nicht gleich bemerken, wenn sie nicht mitgekommen ist und dann auch nicht sofort wieder hinauf rennen. Schließlich reicht eine Person völlig aus um die Stauden aus dem Keller tragen. Magdas Interesse liegt vielmehr dort, wo der offensichtliche Amtsträger herkam: dem Obergeschoss. Denn auf ihrem Weg durch die Welt hält sie schon beinahe zwanghaft Ausschau nach nützlichen Informationen und aufschlussreichen Gegenständen über ihre sogenannten ‚Kunden‘. Vielleicht lässt sich dieser hier ja mit irgendetwas erpressen? Sie stiehlt nichts, sondern vermehrt nur ihr eigenes Wissen. Schaden kann es nicht, für den Fall, dass Elli mit ihm irgendwann ins Geschäft kommen sollte. Außerdem sollte es sie doch sehr wundern, wenn in den Unterlagen dieses Schulzen keine verdächtigen Dinge zu finden seien. Vor allem, nachdem seine Gesichtszüge sich merkwürdig veränderten, als er das Abzeichen sah.

Lange durchwühlt sie noch nicht die Kommoden im Arbeitszimmer, da sind schon schwere Schritte zu hören, gleichmäßig polternd von mehreren Männern. Die Schritte verändern ihren Klang, als sie die Holzdielen betreten und Magda weiß plötzlich, dass entweder Matthias oder sie nun ein Problem haben werden. Doch die Schritte werden wieder leiser und so entschließt sie sich die alte Rolle des neuen Dienstmädchens im Hause einzunehmen, falls sie erwischt wird und sich dann ein Stück Richtung des Kellers zu wagen. Undeutlich vernimmt sie Stimmen, die durcheinander reden. Manches klingt wie Protest, anderes wie Anklage, auch Befehle und Widerworte mischen sich in das Gewirr und ihr ist klar, dass man sie hintergangen hat. Dann werden die Stimmen lauter und die schweren Schritte poltern die Treppe hinauf.

„Mundraub? Das kann doch nicht euer Ernst sein?“ echauffiert sich Magdas Begleiter empört.

„Se könn’n ja nich grad leuchnen, dass se off frischer Tot ertoppt wordn, odor?“ argumentiert der Hauptwachtmann.

„Unsinn! Die Kartoffeln… das ist ein Tauschhandel… ich wollte … nun hört doch zu!“ Matthias versucht die passenden Worte zu finden, merkt aber selbst, dass es derzeit keinen Sinn hat mit diesen Leuten zu reden. Angesichts dieser Umstände zieht Magda es vor das Gebäude auf einem anderen Weg zu verlassen. Der Rundgang um den Innenhof bietet die Möglichkeit zum Stall und von dort auf eine andere Straße zu gelangen, von wo aus sie den Tross des festgesetzten Matthias verfolgen kann. Der Stadtkarzer ist wohl das Ziel. Nun ist der aber nicht gerade leicht zu erstürmen und für sie als unerfahrene Kämpferin sowieso unerreichbar. Dafür fehlen ihr die passenden Waffen gegen die Wachen. Aber Moment! Wieso eigentlich gegen die Wachen und warum nicht mit den eigenen Waffen? Denen einer jungen Frau! Und um nicht von einem besonders moralischen Wachposten eventuell aufgehalten zu werden, könnten sie noch ein paar andere Damen unterstützen. Direkt neben dem Rathaus müsste doch auch ein Freudenhaus zu finden sein. Natürlich hilft auch hier Elli weiter, obwohl sie nicht einmal anwesend ist. Ihr Name allein reicht aus um der Aufseherin zu bescheinigen, wie wichtig der Außeneinsatz ihre Mädchen ist. Nachdem ein bisschen mehr Duft aufgebracht und reizende Kleidung angelegt wurde, geht die Vorstellung los. Auch Magda hat sich in Schale geworfen, wenngleich sie nicht beabsichtigt selbst Hand anzulegen, sondern eher als Tarnung derart überzogen gekleidet ist.

„He, Kerkermeister“, verlangt sie am Gitter nach Aufmerksamkeit, „Ich habe die Absicht einen Insassen zu besuchen. Lasst mich also rein, bitte.“

„Na so a schen’s Mädel lass‘e  doch gern rei“, hört sie als Reaktion und in diesem Fall gefällt ihr es sogar, da sie nun weiß, dass ihr Trick funktionieren wird. Bevor der Pfortmann richtig nachdenken kann, zwinkern ihm schon die anderen Mädchen zu, die naiv drein schauend flüchtige und nicht weniger aufreizende Blicke zu den Wachen riskieren.

„Stör dich nicht an meinen Freundinnen. Sie sind nur mitgekommen, um mich nicht ganz allein hierein gehen zu lassen“, erklärt Magda scheinheilig. Die Augen der Männer sind nur auf die Weibsbilder fixiert und Magda kann ziemlich ungehindert die Schlüssel vom Brett nehmen und die Zellentür aufsperren. Wenige Schritte später hat sie ihren Gefährten wieder.

„Du bist doch nicht hier, um den Gefangenen ein paar süße Stunden zu bescheren?“, bringt Matthias seine Freude über diesen Besuch zum Ausdruck.

„Na zumindest um einen von ihnen zu befreien“, erwidert die Freierin.

„Dann lass mich dir dabei helfen diesen Menschen zu retten“, bietet er an. Doch sie lehnt mit einer kurzen Geste ab.

„Komm einfach nur mit. Wenn wir nicht größeren Schwierigkeiten begegnen wollen, müssen wir noch eine andere Finte anwenden“, und sie hält damit auf den wachhabenden Oberaufseher zu, nimmt ihn zur Seite und spricht: „Wenn du keinen Skandal über deine Arbeit wünschst, solltest du schleunigst vergessen, was sich in den letzten Minuten hier abgespielt hat. Andernfalls könnte es passieren, dass Gerede über die Vernachlässigung der Gefangenenbewachung aufkommt und darüber, dass du Dirnen hier herunter befielst, um deinen Spaß zu haben. Wenn du mir jetzt bitte folgen willst“

Damit schließt sie die Gefolgsleute und den Kerkermeister in eine Zelle ein und platziert den Schlüssel gut sichtbar auf dem Tresen.

„Wenn die nächste Wachablösung eintrifft, solltet ihr wieder frei sein. Bis dahin werden wir euch daran hindern uns zu folgen“, erklärt sie ruhig in einem befehlenden Ton, „und wie ich schon sagte: falls wir Unannehmlichkeiten bekommen sollten, wird es hier ein paar neue Posten zu besetzen geben. Ich würde euch ja sofort verzeihen“, fügt sie noch ergänzend hinzu, „aber ihr kennt ja Elli.“

Ungläubig und beinahe erstarrt starrt sie der Hauptaufseher an, fügt sich aber in sein Schicksal und lässt sich seinerseits vorübergehend einsperren.

„Und nun?“, fragt Matthias folgerichtig.

„Wir werden aus der Stadt verschwinden“, erklärt Magda.

„Und wenn sie uns folgen?“, gibt Matthias zu bedenken.

„Hm, du hast Recht“, lenkt sie ein, „Außerdem fehlen uns noch die Kräuter.“

Magda überlegt nur kurz, bevor sie schließt:

„Also werden wir auf einem der umliegenden Höfe ausharren und uns in Ruhe umhören, wo es diesen Rhabarber gibt.“ Damit entlassen sie die Dirnen mit dem Sold der Wachen als Bezahlung aus ihren Diensten und verschwinden vorsichtig in der Menge aus der Stadt heraus.

 

Ein Gutshof ist schnell ausfindig gemacht und unter dem Vorwand heute gegen Abend nicht mehr in die Berge aufbrechen zu wollen, finden sie auch Einlass bei einem der Bauern. Ihnen wird sogar eine der Dienstbotenkammern als Übernachtungsmöglichkeit zurecht gemacht. Die Bauersfrau scheint beinahe froh darüber zu sein, mal wieder Gäste zu haben und lädt sie daher auf eine heiße Suppe ein, die beide nach diesem Tag wohl gebrauchen können. Doch zuvor beziehen sie das Zimmer und stellen sicher, dass keine Gefolgschaft aus der Stadt auf ihre Spuren kommt.

„Magda“, beginnt Matthias das Gespräch, nachdem sie keine Bedrohung mehr ausmachen können, „Ich weiß nicht recht, wie du das vorhin angestellt hast, aber ich muss zugeben: das hätte ich nicht erwartet. Auch wenn ich dir natürlich sehr dankbar bin.“

„Wie meinst du das?“, fragt sie ungläubig zurück.

„Nun ja“, zögert Matthias, „Ich hatte dich nicht für derart kaltblütig und berechnend gehalten. Für mich warst du in den letzten Tagen eher die beschützenswürdige Maid. Und nun muss ich sehen, dass ich mich ziemlich geirrt habe.“

Er beginnt leicht zu lachen und schüttelt immer noch ein wenig zweifelnd den Kopf. Sie beobachtet ihn mit einem ebenfalls aufkommenden Lächeln, bevor sie entgegnet:

„Ja, zuvor war es ja auch dein Terrain: der Wald, die Berge, die Wildnis. Aber hier, in der Stadt und unter den Menschen kenne ich mich eben besser aus.“

Sie verweilt mit den Gedanken, anscheinend in  Erinnerungen an so manche Intrige schwelgen: „Immerhin habe ich nicht umsonst Jahre lang Elli mit Informationen von überall her versorgt und ihre Pläne zum Erfolg gebracht.“

„Das sehe ich jetzt auch. Und ich muss zugeben, dass ich immer mehr von ihr in dir erkenne. Du warst eine gute Schülerin. Deswegen frage ich mich auch, was aus dir mal wird, wenn Elli keine Aufträge mehr für dich hat“, will er sie unterbewusst aus der Reserve locken.

„Dann mache ich mich selbstständig. Intrigen kann es nie genug geben. Und wer die Königin der Kabalen werden will, muss auch bei anderen Meistern in die Lehre gehen“, wirft sie ihm ein verschmitztes Grinsen zu.

„Bei mir wird das schon mal nicht sein“, wehrt Matthias gleich ab. „Diese ganze Betrügerei ist nichts für mich. Am Ende verfängst du dich wahrscheinlich nur in deinen eigenen Netzen aus Lügen und Informationen.“ Das war der Versuch sie zum Umdenken zu bewegen, doch wer so verschmitzt ist wie dieses Weib, wird auch die größte Herausforderung nicht aufgeben und weiß auch schon eine Antwort darauf:

„Hast du schon einmal eine Spinne in ihrem eigenen Netz zappeln sehen? Selbst wenn das passieren sollte, sind die Fliegen immer noch ärmer dran. Genügend über seine Umwelt zu wissen ist immer noch etwas wehrt, wenn man auch gefangen ist. Deswegen habe ich dich aus diesem Drecksloch heraus holen können.“

„Aber ist es nicht viel schöner in Harmonie zu leben und sich gegenseitig auch zu verzeihen?“, wirft ihr Gegenüber ein.

„Für die, die nicht besser wissen wie eine Gemeinschaft funktioniert, mag das stimmen“, schwingt sie sich nun in gefährlichen Siegestaumel auf, „Aber die Menschen können nicht dauerhaft in Harmonie leben und mal ehrlich: es wäre doch stinklangweilig! Ich dachte gerade euch Männern geht es immer so sehr ums Gewinnen. Wo kann man das denn am besten als im Spiel aus Macht und Abhängigkeit?“

„Dann wirst du nur nie anderen vertrauen können und auch mit niemandem engere Verbindungen knüpfen. Mächtige werden gefürchtet…“, will Matthias ermahnen, wird aber schon von ihr unterbrochen:

„… und geliebt. Eben weil sie die Macht haben um die Schwachen zu beschützen. Und sie werden auch von vermeintlichen Gegnern geliebt, die selbst nur das Spiel suchen oder sich gegen andere mit dir verbünden wollen. So wie wir gerade.“

Als ihr gewahr wird, was sie soeben gesagt hat, errötet sie einen Augenblick lang. Eine Zeit ist es ruhig. Dann beginnt Matthias wieder:

„Also ergänzen wir uns doch ganz gut. Meinst du nicht?“

Magda wäre nicht die Person, sich bietende Gelegenheiten zu ergreifen, wenn sie jetzt nicht zu Matthias hinüber gehen und ihm ihre Lippen direkt unter die Nase drücken würde. Gerade noch rechtzeitig entschied sie sich das zu tun, denn ein Zögern hätte die Unterbrechung dieses Zuneigungsbeweises durch den Ruf der Bäuerin zur Folge gehabt und dann hätten sie sich vielleicht nie auf diese Weise berührt.

„Eeeeesss‘nnnnnn!“ erschallt es durch das ganze Haus und sie haben beide schon Angst, die Stadtwache würde diese überdeutlichen Worte hier her locken. Etwas verlegen wenden sie sich der Tür zu und folgen dem Ruf, begleitet vom verlockenden Geruch nach einem stärkenden Abendessen.

„Soooow, jetz krickt‘ar erscht moal en klainen Ohnmachtshappn. Un dann erzählt’er uns, wo’ar herkimmt. Denne so‘a Munnart ham‘mer hier lange nich geheert.“

Während sie so essen, fällt ihnen nach und nach ein eigenartiger Geschmack auf. Doch beide haben Hunger und da sie eingeladen wurden, erwähnt keiner etwas davon. Dann fragt auch noch die Wirtin:

„Un schmeckt’s eich a?“

Die Gäste nicken nur mit einem krampfhaften Grinsen, das aussehen muss als wollten sie bloß den Mund nie wieder öffnen.

„Na da seid’er aber de erscht’n!“, wundert sich die bedauernswerte Köching, „Mir ham des Zeich nich nunner werchen kenne. Soll ja gsund sei. Aber da blei’mer liewer bei unser‘m bekannt’n Gemiese.“

Offensichtlich kann sich nicht jeder mit den Neuerungen des Fortschritts anfreunden. „‘ne Nochbarin hat’s mor neilich offgeschwatzt. Sollt‘s mol probiere. Aber so’n Gelumpe kimmt mor nich widder in’n Gart’n! Hunn’sra‘arber!“

Einen Moment lang horcht Matthias auf, sieht Magda an und versucht in ihren Augen zu lesen, ob sie gerade das gleiche verstanden hat. Sie schaut aber nur verständnislos zurück und grinst weiter, als würde sie alles verstehen. Vielleicht hat er sich auch nur getäuscht, aber …

„…ich könnte schwören, dass sie vorhin ‚Rhabarber‘ gesagt hat. Oder zumindest, dass sie es sagen wollte“, beschwört Matthias aufgekratzt, später wieder oben auf den Zimmer.

„Hab ich nicht mitgekriegt“, wehrt Magda ab, „Die Gute hat aber auch eine Sprache! Ist ja zum Fürchten“, lästert sie ein wenig lüstern.

Matthias hört darüber hinweg:

„Es ist jetzt fast Nacht. Wenn wir nicht noch länger hier bleiben und die kulinarischen Köstlichkeiten dieser Region ausprobieren wollen, würde ich vorschlagen morgen früh aufzubrechen. Bis dahin müssen wir irgendwie an diese Stauden kommen.“

Seine Gedanken sind nur noch auf dieses Gemüse gerichtet. Magda ist davon ein wenig genervt. Sie hatte gehofft, dass diese Nacht ein wenig anders verlaufen würde. Aber schließlich muss sie sich daran erinnern, dass sie eine wichtige Aufgabe haben. Daher schlägt sie vor:

„Ich lenke sie ab. Die beiden sind doch garantiert ‚hunne-neigier‘sch‘, zumindest das Mütterchen. Genug von unserem Dorf hab ich ja zu erzählen. Währenddessen machst du dich an dieses Zeug.“

So geschieht es und Matthias gräbt in aller Eile die Pflanzen mit Stumpf und Stiel aus dem Gemüsegarten. Magda breitet die neuesten Gerüchte vor der kleinen Hausgemeinschaft aus und ist damit so erfolgreich, dass sie bis in die tiefen Nachtstunden mit Fragen gelöchert wird, denn oft schaffen es die Menschen nicht hinüber übers „Gebärche“ und da ist ihnen jedes Detail recht, das sie aufschnappen können. Matthias schläft schon längst, als sie hinauf wankt, trunken von den ganzen Geschichten und Gedanken sowie vom Apfelwein, den die Hausfrau noch aus dem Keller geholt hatte um den Redefluss weiter wallen zu lassen.

Später auf dem Zimmer kann sie unter dem Bett noch rote Stängel erkennen und weiß damit, dass ihre Anstrengungen erfolgreich waren. Doch sie bettet sich auf ihr eigenes Lager. Warum ihr das einfällt, weiß Magda nicht genau. Aber die Gelegenheit ist ungünstig, zumal sie getrunken hat und Matthias liegt viel daran diese Aufgabe zu Ende zu führen und morgen früh können sie keine Zeit mit Zweisamkeit verschwenden.

 

Die Tür springt auf:

„Habt’er sch‘on geheert: Mor sinn überfalle worn!“

In einer Mischung aus Schlaftrunkenheit und höchster Erregung wird die beleibte Hausherrin angestarrt, als sie ihre Erklärung weiter ausführt: „Des Gemiesebeet is geplindert. Den gonzen Rarber ham‘se mitgenomm’n.“

Matthias lässt wie von selbst die Bettdecke ein wenig tiefer sinken, so dass diese auf dem Boden schleift und das Diebesgut verhüllt.

„Aber ich dachte ihr mögt das neue Gelumpe sowieso nicht?“, erwidert Magda geistesgegenwärtig.

„Ja, eing‘ch nich, un wos onnorsch is nich weggekimm’t. Abor wos würd de Nochborin saang, wenn se des erfährt?“, fürchtet die behäbige Gastgeberin.

„Dann wird s‘e denken, dass ihr Gemiese sehr beliebt ist unner den Dieben und sich über ihr‘n guten Geschmack freien, äh freuen“, korrigiert sich Magda, noch voll im Dialekt von gestern Abend, „Du musst nur traurig genug tun und es wirklich bedauern. Vergiss aber nicht zu sagen, dass du dir sofort neuen beschaffen wirst, sonst kriegst du demnächst wieder welchen geschenkt!“, rät Magda mahnend.

„Da host de wo‘ rescht!“, stimmt die gute Frau mit ein und macht erst einmal Frühstück.

„Immer wieder bin ich erstaunt darüber, wie du den Menschen deinen Willen aufzwingen kannst, ohne dass sie das auch nur mitbekommen“, steigt Matthias mit diesen Worten aus dem Bett, zieht die Rhabarberstängel hervor und verstaut sie sogleich in Laken, um sie vor neugierigen Augen zu verstecken, „Und dass du ihr gleichzeitig so gute Ratschläge gibst, wo du sie doch gestern noch nicht leiden konntest?“

„Das schien nur so“, wehrt Magda ab, „außerdem haben wir uns gestern Nacht ziemlich gut unterhalten und nun kommen wir miteinander klar.“

Wobei der Apfelwein einen nicht geringen Anteil hatte, vergaß sie absichtlich zu erwähnen.

Matthias lässt die gefüllten Laken am Fenster herab, sie gehen zum Frühstück und noch bevor sich beide ganz verabschieden können, schafft er das Gepäck in ein nahegelegenes Gebüsch am Waldrand, von wo sie es später nach der Verabschiedung und ohne Zeugen wieder hervorholen und in die Stadt zum Apotheker bringen. Stolz präsentieren sie ihm ihre Ausbeute und erbitten weitere Anweisungen zur Verarbeitung des Krautes.

„Sie können die Wurzeln ja den Schweinen füttern“, stellt Magda noch schnell fest.

„Wo denkt ihr denn hin!“, fasst sich der Arzneihändler an den Kopf, „Gerade die sind es doch, die für euch den größten Wert besitzen. Hab ich euch das nicht gesagt? Alles andere hättet ihr ruhig liegen lassen können,“ schaut sie der Herr Apotheker mit einem weisen Grinsen an, während sich die beiden nur etwas verstört von seinem Blick abwenden, „Zerreibt die Wurzel am besten, nachdem ihr sie gründlich gewaschen habt und rührt sie mit den anderen Ingredienzien als Tee an oder gebt sie den Patienten als Pulver unter das Essen gemischt. Das sollte die Beschwerden um einiges lindern.“ Währenddessen hatte er schon das Grüne abgetrennt und unter den ungläubigen Blicken seiner Kunden im Abfall entsorgt. „Na dann wünsche euch den besten Erfolg für euer Städtchen. Und vergesst mir nicht die alte Elisa schön zu grüßen!“, verabschiedet sie der Apotheker Humbolt.

Draußen auf der Straße trifft Matthias eine im Nachhinein glückliche Entscheidung:

„Nun haben wir endlich die Arznei. Aber bevor wir uns auf den beschwerlichen Weg zurück über die Berge machen, lass uns doch noch rasch etwas Wegzehrung packen und einen Wein in der Schenke am Stadtrand trinken. Ich müsste den Wirt noch von früher kennen und er würde uns nicht an den Schulzen oder sonstwen verraten. Die Reise wird anstrengend genug und wir müssen uns ohnehin überlegen, wie wir am besten vorankommen.“

„Endlich mal ein guter Plan! Die Weine in Lauschitz sollen die besten der ganzen Umgebung sein“, freut sich Magda und wendet noch ein: „Zumindest aber sind es die einzigen genießbaren.“

Denn die Hitze an den Kalkbergen lässt die Trauben oben wenigstens bis in den Herbst hinein reifen lässt, bevor der Winter zu früh einbricht wie anderswo. Die Gaststube dagegen liegt etwas tiefer im Kellergewölbe, aber im Garten dahinter hat der Wirt zwischen Gras und Bäumen ein paar Bänke und Tafeln aufgestellt, so dass man im Grünen und mit Blick auf die üppigen Felder seinen Trank genießen kann. Zwar beginnt das Frühjahr gerade erst mit ein paar zarten Knospen, aber man kann es sich schon gut vorstellen. Das sind eben die Vorzüge der Stadt, die Magda so gerne preist, als sie sich sorgt:

„Auf der Höhe ist es bestimmt immer noch dick verschneit. Das wird wieder einige Tage kosten.“

„Vermutlich“, stimmt Matthias ein, „Besser wäre es, wenn wir den Pass umgehen könnten, aber die Straße durchs benachbarte Auertal ist mindestens dreimal solang. Dazu bräuchten wir eine Mitfahrgelegenheit.“

Die Tochter des Wirts bringt gerade den Wein und meint darauf:

„Der Huber drüb‘m is morgen auf‘m Weg nach Süd’n, mit’m Ochs’nkarr’n. Fragt’n halt einfach mol, obb’er euch mitnimmt.“

„Siehst du“, präsentiert er Magda, „manchmal muss man auch vertrauensselig mit den Menschen sein und seine Gedanken laut aussprechen, um sich eine neue Möglichkeit zu eröffnen.“

„Oder um sich alle Möglichkeiten zu versauen. Ich vertraue trotzdem lieber auf meine eigenen Ideen und behalte sie für mich“, resümiert sie stolz, „dann weiß ich wenigstens, dass mein Versagen zum größten Teil nur an mir liegt und kann daraus ableiten, was ich ändern muss.“

„Ach, na ja. Es ist trotzdem langweilig, mühselig und einsam nur immer sich selbst zu vertrauen. Die Gemeinschaft ist doch sogar gerade dort umso wichtiger, wo nur wenige Menschen sind, wie eben im Wald oben“, heitert er die Stimmung auf, „und in der Stadt, da leben zwar so viele Menschen, aber die schotten sich dagegen nur umso mehr voneinander ab. Das soll einer verstehen.“

Auf diese Überlegung von Matthias weiß sie nun auch keine Lösung mehr und muss einsehen, dass es nicht die eine, beste Lebensweise gibt. Eine Erkenntnis macht sich damit unmerklich in ihr breit. Vor allem aber sagt ihr die Erkenntnis, dass sie sich beide tatsächlich nahezu perfekt ergänzen. Aber treiben Unterschiede die Menschen nicht auch auseinander?

Der Fuhrmann Huber jedenfalls macht einen ganz passablen Eindruck. Daher wagt es Matthias diesen Vorschlag der Wirtstocher anzunehmen:

„Entschuldigen Sie bitte vielmals, Herr … Huber? Wir hörten gerade, Sie führen nach Süden durch das Auertal. Gäbe es denn eine Möglichkeit für uns Sie bei dieser Fahrt zu begleiten?“

„Tja, des kammt ganz af eich an. Moane Achs‘n san a bissl hungrich mit der Zoat. Und woi ihr ihn’n wos zum Fressa zupf‘n kennt, donn kimma schnell‘r voron und i muss moar net die Händ‘ schmutzge mooche“, redet er wie vor sich hin.

„Dann nehme ich an, wir sind im Geschäft. Wunderbar! Wann brechen Sie auf?“, hakt Matthias erwartungsvoll nach.

„Na nu lasst’s mi do wengst moa Humpe leer’n. Is jo no frie om Doag!“, lacht er auf und setzt die Maß an. Zurück am Tisch findet er Magda in einer seltsamen Haltung mit beiden Händen vor dem Mund. Er denkt schon, sie hat sich verschluckt oder noch Schlimmeres und versucht ihr die Hände runter zu nehmen, als er erkennt, dass sie sich vor Lachen fast nicht mehr einkriegt und das Grinsen verstecken musste.

„Der hat ja noch eine beklagenswertere Sprache als alle anderen hier zusammen!“, feixt sie fast unhörbar quietschend vor Lachen.

„Wer weiß, wie wir für anderer Leute Ohren sprechen!“, erinnert sie Matthias,  „oder wie man sich über uns in einigen Jahren wundern wird, wenn sich andere Worte und Betonungen durchgesetzt haben. Ich finde es eher vergnüglich, Leuten mit anderen Dialekten zuzuhören. Man weiß vielleicht sogar woher sie stammen oder hat seinen Spaß wie du gerade, zumindest insgeheim. Außerdem nimmt er uns mit, also sei nicht so streng mit ihm“, mahnt er sachte.

 

Auf dem Weg durch das Tal sitzen sie hinten auf der Ladefläche und schauen rückwärts gerichtet ins Land. Matthias döst in der Frühlingssonne und Magda muss über viele Situationen in den vergangenen Tagen nachdenken. Zunächst kommt ihr die Ermahnung über die Aussprache in den Sinn und sie findet, er war mit ihr etwas zu ungerecht. Soll er doch eben etwas mehr Spaß am Leben haben! Andererseits denkt sie an die Berührung seiner Hand vorher am Tisch, als er wohl dachte, es wäre etwas mit ihr geschehen, statt dass sie bloß ihren Spott zu verbergen versucht. Irgendwie war das schon richtig besorgt und zum ersten Mal zeigte er keine Scheu vor körperlichem Kontakt mit ihr. Vielleicht sollte sie das ein wenig ausreizen in den kommenden Stunden? Denn danach würden sie wieder in der Heimat sein und wer weiß, ob es dann noch die Gelegenheit gäbe an Elli vorbei… Ja, was war eigentlich damals mit ihrer Hausherrin? Er war ihr bisher immer ausgewichen, wenn es um sie ging oder hatte nur vage geantwortet. Hier auf dem Karren nun, hinten im Stroh ist die Gelegenheit ihn zur Rede zu stellen günstig. Da Matthias nicht fest zu schlafen scheint, wagt sie es ihn danach erneut zu fragen:

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du damals eigentlich zu Elli standst. Ihr wohnt direkt nebeneinander, obwohl sie dir so viele Schwierigkeiten gemacht hat? Und stell dich jetzt nicht schlafend!“

„Das musst du sie fragen, ich hab da schon früher gewohnt“, lautet die knappe Antwort.

„Dann soll es an ihr liegen, dass du nicht weggezogen bist?“, stochert sie weiter nach.

„Die beiden Häuser gehörten früher mal zu einem einzigen Gut. Keiner wollte wegziehen und wir hatten auch nicht das nötige Kleingeld dazu, da hat sie sich eben im Diensthaus eingerichtet. Das hab ich ihr noch etwas ausgebaut, zugegeben“, erklärt Matthias.

„Wie meinst du das, keiner wollte wegziehen? Habt ihr etwa zusammen gewohnt?“, schleicht sich ein wenig Erschütterung in ihr Gesicht.

„Na ja, wir waren ja schließlich verheiratet“, schiebt er beiläufig nach.

„Ihr wart verheiratet?“, kriegt sie nun vor Staunen nicht mehr ein.

„Gut, wir sind es noch. Aber nur für die Schriftführung“, erläutert er näher.

„Warum?“, lautet der einzige Ausdruck um ihre Unfassbarkeit auszudrücken.

„Weil wir nicht ohne Trauschein zusammenleben durften. Das weißt du doch. Der Meier hat uns dann nach dem Tod meiner Eltern dazu verdonnert die Ehe zu beschließen“, schwingt etwas Ärger in seinen Worten mit.

„Und was ist dann schief gelaufen, mit euch?“, schlägt Magdas Erstaunen jetzt in Neugier um.

„Nun, sagen wir es mal so: Ellis nächtliche Vorlieben waren nicht meine und nachdem sie sich dafür in der Stadt rumgetrieben hatte, konnte ich ihr nicht mehr vertrauen. Sicher hatte sie an mir auch etwas auszusetzen, sonst wäre sie nicht immer unterwegs gewesen. Aber sie hat mir nie verraten, was ich vielleicht falsch gemacht hatte“, sehnt sich Matthias die Tage zurück, „Ansonsten verstanden wir uns prächtig. Nur hat sich unsere Zuneigung seitdem erheblich abgekühlt und wir haben trotz der räumlichen Nähe kaum noch etwas miteinander zu tun. Dafür umso mehr mit unserer eigenen Arbeit.“

Mit der Zeit wird es Abend und es ist absehbar, dass sie heute keinen Ort mehr erreichen werden. Daher fährt der Fuhrmann den Karren zur Seite in eine kleine Gabelung und die beiden helfen ihm eine große Plane über das rückwärtige Deck zu spannen. Dieses behelfsmäßige Dach reicht sogar ein paar Fuß über den Weg, so dass die drei dort geschützt vor dem Wetter ein Feuerchen machen können. Nachdem sich der Rauch verzogen hat, wird die Plane sorgsam geschlossen, um die Wärme darunter zu halten und diese hinauf zum Deck zu leiten, wo die drei sich schließlich zur Ruhe legen. Körperliche Nähe kann sie hier vergessen, obwohl ihr der Leib des Fuhrmanns schon fast zu nahe ist, denn er müffelt einigermaßen heftig. Trotz des Feuers kühlt es in der Früh erheblich ab und im Halbschlaf deckt Matthias sie mit seinem weiten Mantel zu. Damit kehrt die Wärme wieder in beide zurück und sie schlafen umso rascher wieder ein.

Früh morgens werden sie dann von Hubert angewiesen aus den nahen Scheunen auf den Feldern etwas Heu für die Tiere zu beschaffen. Oftmals finden sich in den Hütten auch ein paar getrocknete Früchte und Pilze als Vorräte der Hirten. Eigentlich sollten die nicht von Fremden vertilgt werden, aber Huber scheint sich mit den Gepflogenheiten der Gegend ganz gut auszukennen. Er nennt sich selbst einen „Fernfahrer“, der auf der Straße zuhause ist und die Strecke in- und auswendig kennt.

„Un bringt mor no a boar Schwammerl mit. Oaber losst‘s de Hoderlump‘n stehe!“ ruft er noch hinterher. Doch außer ein wenig magerem Heu finden sie nichts mehr in der einzigen Scheune der näheren Umgebung. Wahrscheinlich ist der Hubert oder einer seiner Kameraden schon etwas zu häufig hier vorbei gekommen und hat mit den Ochsen zusammen an dieser Stelle übernachtet

Nur ein wenig später kommen ihnen die Hügel wieder bekannt vor und noch eine Zeit lang vergeht bis auch die ersten Hausgiebel zwischen den Bäumen auftauchen. Am Dorfplatz angekommen verabschiedet sich Matthias sogleich von den Ochsen – und von Hubert:

„Gott sei’s gedankt, guter Mann, dass Sie uns diesen weiten Weg erheblich verkürzt haben. Das kommt auch anderen zugute. Und viel Glück noch mit ihren Schwammerln.“

Er ist schon fast im Rathaus, als Magda noch vom Wagen klettert und die eingehüllten Pakete mit Pflanzen vom Karren zerrt, während der Fuhrmann schon wieder so gut wie unterwegs ist. Als sie Matthias den Rhabarber unter die Nase hält scheint er immer noch nicht zu bemerken, dass er die Früchte ihrer Arbeit soeben hätte weiter fahren lassen. Er nimmt sie nur rasch entgegen und betritt den Versammlungsraum der Dorfräte.

Die nächsten Tage werden darauf hin die Arzneien hergestellt und an die Betroffenen verteilt. Magda kam sich daraufhin ein wenig vernachlässigt vor, zumal ihr Anteil am Erfolg kaum erwähnt wurde. Aber das war ja schon bei Elli immer so gewesen. Erst am Abend der Ortschaftsfeier zum Einzug des Frühlings sah sie Matthias wieder. Ob er in der Zwischenzeit an sie gedacht hatte oder stur zur Tagesordnung übergegangen war? Irgendwie wusste sie nicht, was sie von seinem Verhalten halten sollte. Einerseits wehrte er ihre Annäherungsversuche nicht ab, aber erwiderte sie auch nicht von sich aus. Vielleicht aus Respekt vor Elli? Oder denkt er, Magda sei zu jung für ihn? Diese Gedanken quälen sie, während ihr Blick immer wieder zu ihm hinüber streift. Und als er sie endlich auch entdeckt, kommt er sogleich auf sie zu:

„He, Magda! Schön dich hier zu treffen. Die letzten Tage vergingen einfach so an mir vorbei. Eigentlich wollte ich mit dir reden.“

Beinahe verfliegen alle ihre Zweifel an ihm auf einmal, denn etwas Ähnliches hatte sie erhofft. Gerade als er ansetzen will, unterbricht der Bürgermeister das bunte Treiben und beharrt auf ein paar Worten:

„Nachdem nun unser Städtchen durch diese Seuche so lange gelitten hat, ist eine Heilung in greifbarer Nähe. Wie sich gezeigt hat, konnten tatsächlich einige der erkrankten Mitbürger von ihrem Leiden befreit werden“, und damit wartet er den Beifall ab; für Magda klingt es eher, als seien diese Menschen nach langem Leiden endlich verschieden, „Leider ließen es die winterlichen Bedingungen aber nicht zu ein stärkeres Mittel zu besorgen, und die immer noch grassierende Ruhr zeugt davon. Daher müssen wir ein weiteres Mal tapfere Menschen entsenden, die unsere Gemeinde von dieser Pestilenz erretten können.“

Ein Stöhnen geht durch die Menge. Magda schaut Matthias böse fragend an und ihre Worte lassen es durchklingen:

„War es das, was du mir sagen wolltest?“

Tatsächlich wollte er ihr auch diese Nachricht überbringen, aber jetzt, da er ihre Reaktion darauf mitbekommt, glaubt er, es sei besser gleich einzulenken:

„Eigentlich wollte ich dir sagen, dass ich mich freue dich wiederzusehen und dass…“ Er wagt es erst kaum auszusprechen. Aber wenn er es nicht tut, so ist ihm klar, würde sie vermutlich denken, dass er doch nur gekommen ist um eine weitere Reise vorzuschlagen. Das geringere Übel muss es daher wohl sein zu gestehen: „… dass ich mich nach dir sehne. Die gemeinsamen Tage waren einfach zu intensiv und auch zu schön um das zu leugnen.“

Sie überlegt noch, ob ihm das nun durch den Erfolg so vorkommt oder ob tatsächlich Gefühle zu ihr diese Worte verursacht haben. Während sie ihn so ein paar Sekunden lang regungslos ansieht, fasst er das als einen guten Zeitpunkt auf, ihr das zu beweisen und sie zu küssen.

Anschließend meldet er sich freiwillig und nimmt Magda zum Redner mit, um diese Aussage auch zu bekräftigen. Dann lobt er noch einmal vor allen die tatkräftige und einsatzbereite Unterstützung Magdas in brenzligen Situationen und schildert die groben Züge und Dauer der nächsten Unternehmung. Das Deibeljoch ist nun das Ziel, um den Frangulus zu finden. Doch das ist eine andere Erzählung.

 

Die Sonne erhellt diesen ersten Blick nach dem Fest am Morgen, der zwar noch frostig, aber verheißungsvoll schon in der Blüte seines Lebens steht. Gegenüber wird der steinerne Innenraum eines Hauses von den Sonnenstrahlen erhellt und helle Streifen zeichnen sich in munteren Mustern auf Boden und Wänden ab. Sie fragt sich, was wohl die hellen Streifen zustande kommen lässt, und fängt dabei die Stimmung ein, die sie ganz unbewusst glücklich stimmt. Denn die Regungslosigkeit im Haus gegenüber macht ihr klar, dass es auch Ruhepunkte in ihrem Leben gibt und sie gerade an einem solchen Ziel angekommen ist. Denn sie hat einen wichtigen Menschen gefunden. Doch sie weiß, dass diese Ruhe nicht von Dauer sein wird und sie weiterziehen werden. Dass dieses Leben eine Zukunft hat ist so unsicher, wie auch da drüben im Haus die Muster auf dem Stein von hastigen Bewegungen unterbrochen werden. Aber sie gehört jetzt einer dieser Bewegungen an und geht nicht mehr ihren eigenen Zielen nach. Das ist es, was sie an ihm liebt. Sie hat die Denkweise der Männer nun verstanden. Aber statt ihn beherrschen zu wollen, gibt sie sich ihm lieber hin. Denn sie liebt an ihm das Beständige und fand darin, wonach sie solange suchte. Vielleicht wird es einmal auch Frauen gelingen so selbstständig und selbstbewusst zu sein, wie er es ist. Nicht, weil er sich arrogant und angeberisch gibt, sondern weil er eine sehr genaue Vorstellung davon hat, was er ist und was er will. Und weil er sie ebenso verehrt. Das denkt sie zumindest als sie ihn beim Schlafen beobachtet.

 

Also auf zur Hölle und hoffentlich wieder zurück: auf zum Teufelsjoch!