Mastertagebuch aus Sibirien

 


I. Teil - Die Gefährten

(Prof. Theo Focken, Dr. Michael Gödecke, Ming Jun aus Südkorea, Fany, Friedmann, Christian, Martin)

 

Kapitel 1: Vorbereitungen und Rekrutierung

 

Das Ziel lautete im Fernen Osten wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen, um den Klimawandel besser zu verstehen. Dazu sollten Abschlussarbeiten angefertigt werden, von Masterstudenten und es waren derer zwei (seit März 2013): ein Blinder und ein Tauber gaben sich gegenseitige Hilfestellung, wenngleich der Taube (wegen seines Cochlea-Implantats) den Blinden (wegen seiner Brille) führen musste, da er noch das meiste von seiner Umgebung mitbekam. Dafür konnte der Blinde den Tauben im Gegenzug auf das eine oder andere Detail hinweisen, welches er vernahm. Vor allem war dies der Fall in der Vorbereitung des Russischkurses, wenngleich der Englischtest für ein finanziell unterstützendes Stipendium durch den DAAD paradoxerweise eher dem Tauben zugesprochen wurde.

 

Mordor | Fichtelgebirge – oder andersherum, jedenfalls geht's nach Osten...
Mordor | Fichtelgebirge – oder andersherum, jedenfalls geht's nach Osten...
... und zwar ganz nach Osten! Start: Bayreuth (Deutschland), Ziel: Chersky (Sibirien)
... und zwar ganz nach Osten! Start: Bayreuth (Deutschland), Ziel: Chersky (Sibirien)

Bayreuth, als so etwas wie das Minas Tirith Frankens, kurz vor den Höhenzügen Mordors mit dem schicksalsbergähnlichen Waldstein, sollte den Ausgangspunkt unserer Reise darstellen. Ob die Form des Fichtelgebirges mit dem nach Osten offenen Hochland nun zufällig an jene Mordors erinnert oder ob dort drinnen, zwischen den Bergen tatsächlich ein namenloses Grauen herrscht, allsehend und lidlos, umrandet von Feuer, mögen andere entscheiden. Aber nachdem sich bereits einige bis zum Waldstein vorgewagt hatten, mitten in den Nebelbergen, nahe der Grenze Mordors würden wir nun noch weit darüber hinaus aufbrechen, in Lande, so weit wie unbekannt hinter Mordor, dass nicht einmal die kühnsten Wahrsager abschätzen können, was uns in diesen Gegenden erwarten wird – ferner und weiter als die Reisen jener allseits bekannten Gefährten Mittelerdes, unserer fantasievollen Vorgänger, durch einen Ring an ihr Schicksal gebunden. So brachen auch wir mit einer Hand voll Gefährten auf, trafen allerlei gutmütige und auch merkwürdige Gestalten, mussten Prüfungen bestehen und manchmal auch neue Wege gehen. Schließlich drehte sich alles um zwei (Mess-)Türme und einen (Erkenntnis-)Schatz, den wir suchten. Zwar handelte es sich dabei nicht um einen Ring, sondern um wissenschaftliche Daten, genauer: Eddys und Ebullitionen. Aber die Jagd danach ähnelte sich sehr. Ob die Rückkehr des Königs jedoch eintreten wird, ob also Prof. Theo Focken aus seinem geplanten Ruhestand wieder abrückt, ist eher fraglich. Doch so lange er aus seinem Urlaub noch einmal wiederkehrt, soll unsere masterhafte Arbeit nicht in Gefahr sein.

Die letzte Reise führte mich nur bis an die Pforte Sibiriens, den Ural. Aber nun werde ich mit einer anderen Gemeinschaft noch viel weiter vordringen in dieses riesige, weitgehend unbekannte Land mit Namen „Sibirien“. Wie aus einer umzäunten und geschützten Zivilisationsburg wagen wir uns vor in die (in meiner Vorstellung) von Gefahren und eisiger Kälte wuchernde, andere Welt, die so unbekannt ist, dass die Heimreise schon kaum mehr in Aussicht steht. Aber falls doch, so müssen wir uns am schwarzen Grenztor, der Ukraine, beweisen. Und das in diesen Tagen der doch so politisch kritischen Situation dieses Landes.

 

23.01.14:

Habe heute interessante Kunde zur Ebullition gehört: das AWI (Alfred-Wegener-Institut) hat sich im Lenadelta auf Samoylov bereits damit befasst und es könnte sein, dass durch gasleitende Pflanzen die plötzlichen Methanausstöße zustande kommen (Schockblasen).

 

27.01.14:

Endlich ist der Einführungsantrittsvortrag passé und andere, gleichfalls wichtige Dinge können angegriffen werden. Man kennt das ja als Student mittlerweile zur Genüge: Es gibt tausend Sachen zu machen und bis in die Nacht wird gearbeitet und gefeilt, bis es einigermaßen passt. Die Träumerei von Perfektion hat man schon vor Semestern begraben und ist auf der harten Realität der Unvollkommenheit aufgeschlagen. Das ist es also, was man „Erfahrung machen“ nennt.

 

31.01.14:

Eine lange Durststrecke ist es, in der ich mich bewege und ich weiß nicht mal, ob ich in die richtige Richtung gehe. Mittlerweile gebe ich schon Ziele auf, die mir früher hoch und heilig galten, wie z.B. noch mehr um die Welt zu reisen. Andere Ziele habe ich erreicht und stelle fest, wie belanglos und klein sie erscheinen, wenn man bei ihnen angekommen ist. Nein, der wahre Weg liegt im Dunkeln und nur Schritt für Schritt kann ich ihn erkennen, wie ein ewiger Nebel, der mich umhüllt und nur wenn ich weite Ausblicke unternehme von hohen Punkten meines Geistes, kann ich den geistigen Nebel durchdringen und vage wagen weitere Ziele zu erkennen. Doch wieder unten angelangt, fehlt mir der Sinn für die Richtung und ich kann nur erahnen, welche ich einschlagen muss. Mittlerweile zieht sich mir geistig sogar der Nebel vor die Erinnerungen und scheint mich vollends einzuhüllen. Was ist der rechte Weg? Wenn ich schon das Ziel nicht kennen kann, wie steht es dann mit dem direkten Pfad? Soll ich eher über die Gipfel gehen und ab und zu einen Höhepunkt erleben, worauf sogleich ein Abstieg folgt? Das entspräche den Ausflügen der Pubertät und der Jugend. Oder soll ich durch das lange und beschwerliche Tal stapfen, ohne häufige Freuden aber auch ohne tiefe Abstürze? So schleppt sich das Alter voran.

 

17.02.14:

Drei Tage zuvor zog ich um und lebe nun statt in einer Zweier-WG in einem Einzelappartement:

Froh und gleichzeitig angespannt ob der kommenden Tage mit gestraffter Arbeit lege ich mich in der neuen Wohnung zur Ruhe. Und muss Punkt 6.00 feststellen, dass die Nacht vorbei ist. Aber nicht aus eigener Schuld, weil der Wecker klingelt, denn heute wollte ich noch mal ein bisschen ausschlafen. Stattdessen reißt mich ein Panzerkonzert aus den Nichtgedanken. Trotz verschlossener Rollläden und einigen Zehnermetern Abstand zur Straße dröhnt es über das Kopfsteinpflaster. Gleichzeitig knallen im Abstand von 15 Minuten vier Türen und deren Verursacher poltern die Treppe herunter, wie es ab jetzt dauernd passiert. Irgendwo schlägt jemand nun rhythmisch immer 3x mit dem Kopf vor die Wand. Derjenige muss schon länger hier wohnen, denn der Schlag klingt sehr taktrichtig und stumpf, da die Schädeldecke wohl schon eingedrückt ist.

Wie frohlocke ich da als der Kühlschrank sein monotones Lied anstimmt und alles übertönt, was in und um dieses Haus so vor sich geht. Wo ich ihn in der Nacht verwünscht hatte, ist er nun ein wahrer Segen. Wollte ich doch schon die Türen der anderen Wohnungen versiegeln, die Straße sperren und ein Narkotikum durch die Lüftung des Hauses leiten. Nun merke ich, dass ein Übel das andere vertreiben kann – oder zumindest erträglicher macht.

In der alten Wohnung hab ich „nur“ manchmal nachts lautester Klassik lauschen dürfen und Nachbarn, die sich über den Heavy Metal anderer Nachbarn mit noch lauterem und schnellerem Klopfen gegen deren Wohnungstüren freuen. Hunde, die das Treppenhaus mit ihrem Gekleffe in Schwingungen beinahe ihrer Eigenfrequenz nahe versetzen und Wasserpumpen mit tief brummendem Akzent – allerdings atypisch zu jeder Tages- und Nachtzeit.

 

15.04.2014:

Nachdem ich nun von meiner Privatreise nach Australien zurückgekehrt war, schob ich hoffentlich verständlicherweise ein wenig Panik. Denn für die Vorbereitung der Gerätschaften für Sibirien war nur noch bis Ende April Zeit und eine Woche dieses Monats hatte sich bereits in die Geschichte verabschiedet. Daher führte mein erster Weg zum Max-Plack-Institut (MPI) für Biogeochemie, um dort die letzten Reisedokumente wie Visum, Flugbuchung und Gasteinladung nach Russland zu organisieren oder zumindest zu bestätigen. Denn das meiste davon wurde bereits durch die Sekretärin übernommen. Leider befanden sich beide Doktorandinnen entweder in den USA oder in Russland auf Reisen und allein zurück blieb eine arme Geoinformatikerin, die keinerlei Ahnung von uns Masterstudenten hatte. Nebenbei wollte die Projektarbeit in spezieller atmosphärischer Chemie aber auch noch erweitert bearbeitet werden, obwohl ich eigentlich vor der Abreise nach Australien alles fertig gehabt zu haben glaubte und so stieg das Stresslevel gehörig.

Als ich dann gestern am Montag der zweiten Woche (bereits zurück in Jena) noch einmal ans MPI ging um mit der Sekretärin die restlichen Reisedaten zu besprechen und mir von den Technikern die Geräte schon einmal zeigen zu lassen, stellte sich heraus, dass wiederum noch kaum jemand der Arbeitsgruppe zurück war und wenn, dann keine Ahnung von unserem Projekt hatten. Zu allem Überdruss schrieb mir mein Betreuer Michael nachmittags dann eine bitterböse E-Mail, was mir denn einfiele mich (ohne mit ihm abzusprechen) mit den MPI-Leuten zu unterhalten und dass ich mich demnächst gefälligst fern zu halten hätte. Eine Entschuldigungsmail über mein Bedauern dieses offensichtlichen Missverständnisses beruhigte ihn zwar heute, aber das Verhältnis zu ihm hat sich nun erstmal deutlich abgekühlt. Und die Zeit bis Ende April läuft weiter davon.

 

17.04.2014:

Glücklicherweise hat sich heute die Situation mit Michael geklärt. Er hatte wohl das Gefühl, dass andere über ihn denken er hätte seine Studenten und Mitarbeiter nicht im Griff und würde sie planlos arbeiten lassen, weil ich mit dem Techniker geredet hatte, der mich nicht kannte.

 

Kapitel 2: Kammermessungen

 

Picarro Gasanalysator | Kammer aus Plexiglas 60 x 60 x 60 cm
Picarro Gasanalysator | Kammer aus Plexiglas 60 x 60 x 60 cm

23.04.2014:

Erster Tag mit Messungen! Endlich kann ich mich mal auslassen. Der Techniker zeigte mir das Elektromaterial und bereitete es vor, dann begann die Tüftelei. Herrlich, diese Arbeit frei nach Gutdünken, bin nur gespannt wann wieder die nächste Einschränkung kommt…

 

24.04.2014:

… à la „… aber nicht irgendwie messen! Das muss streng wissenschaftlich nach Plan ablaufen. Dazu hab ich schon mal was vorbereitet, einen Plan…“ oder so ähnlich von Michael. Denn der Plan glich eher einem Ablaufprotokoll, aber ohne Ablaufreihenfolge.

Ming kam heute nach drei Monaten USA-Aufenthalt zurück und besprach mit mir den Kammeraufbau. Sie ist ziemlich lässig drauf und witzelt auch gerne mit den Leuten, ist im Prinzip das genaue Gegenteil von Michael: klein, quirlig, angenehm, aufgeschlossen und rein gar nicht autoritär.

Aber es gibt auch Zwischenmenschen. Zum Beispiel die Chefgärtnerin Agathe Fasching. Auch sie ist freundlich, doch heute kamen mir Zweifel über diese Person. Ich suchte nur jemanden, dessen Tür verschlossen war und sie sprach mich an, wen ich denn suche. Als heraus kam, dass ich zu einem Techniker wollte, meinte sie sogleich, dass man nicht ständig zu den Leuten könne und was von ihnen verlangen dürfe, denn niemand würde darauf warten, dass jemand käme und jeder hätte auch seine eigenen Sachen zu tun. Das mag schon stimmen, nur habe ich doch überhaupt nichts von ihr gefordert? Und heißt es nicht, man solle fragen, wenn man eine Frage hat? Es ist ja nicht so, dass ich hier jeden Tag vorbei käme! Und was antwortet man dann auf die Frage: „Wie stellst du dir das denn vor?“ Jede Antwort, die ich geben konnte, reizte ihre Stimmung nur noch mehr. Na schön, aber wieso liegt die Schuld bei mir, wenn sie doch das Bedürfnis hat andere zu belehren?

Kurz drauf kam sie gleich noch mal mit zur Kammer und brachte ihre Meinung zum Aufbau ein. Das war auch recht hilfreich, aber etwas aufdringlich ist die Gute schon. Mal sehen, ob die alle hier so sind.

 

25.04.2014:

Mit Ming baute ich den Rest der Kammer auf, wir verlegten die Inlettubes und konnten am Ende sogar endlich mal eine Messung starten! Aber immer noch ohne Sensoren. Oscar (aus Spanien) erklärte mir die R-Software und ließ mich wissen, dass sie noch nicht öffentlich zugänglich sei, also noch streng geheim.

 

28.04.2014:

Immer noch ohne Sensoren startete ich heute trotzdem das Messprogramm. Olaf beteuerte zwar, dass es noch heute Abend da sein solle, aber ich fürchte es wird doch erst morgen.

 

29.04.2014:

Endlich können wir mit Sensoren, also vollständig ausgerüstet, messen. Obwohl der PAR-Sensor hier drin nicht wirklich sinnvoll ist, da künstliches Licht, ständiges Öffnen und Schließen von Vorhängen und Türrahmen die Lichtbedingungen erheblich verändern.

 

30.04.2014:

Oscar meinte heute, dass wir neben der lag-time auch die Fehler des Messgeräts herausbekommen müssten, bevor wir die streng geheime Software nutzen können, um schließlich unsere korrigierten Gasflüsse zu bestimmen. Außerdem müsste das Datenformat beider Logger (Picarro und externer Logger) auf die gemeinsame Vorlage der Sample-Datei gebracht werden, bevor der Algorithmus das Rauschen rausrechnen kann. Langsam weiß ich nicht mehr, wann das noch alles geschehen soll, neben unseren äußerst intensiven Vorbereitungsmessungen.

Zwischendrin erreichte uns die Schreckensnachricht zu den Russland-Visa: Neben einigen Wochen Verzögerung bei der Visaaustellung in Jakutsk sollten wir aufgrund des Visumkrieges zwischen Deutschland und Russland kein Arbeitsvisum für ein Jahr bekommen, sondern nur für den geplanten Aufenthaltszeitraum für die Probennahme. (Da Deutschland die Bedingungen für einreisende Russen verschärfte, hat Russland seinerseits die Bedingungen für einreisende Deutsche nach Russland angezogen). Das 30-tägige Touristenvisum jedoch würde für uns nicht reichen.

 

02.05.2014:                                

Nach dem Problem mit den Visa entstand ein weiteres Problem mit einem Missgeschick meinerseits: Um 13:40 fiel mir das Kammergehäuse von der Ecke des Untersatzes auf den Boden etwa 30 cm herab und seitdem zieht sich ein Riss durch eine der Gehäusewände mit den Sensoren daran. Oscar meinte zwar, es mache nicht so viel aus und ich habe es beidseitig mit Klebeband verdichtet, aber dennoch ist das nicht mein Tag heute!

 

Wie ich gerade bemerkte, muss sich die Luft in der Kammer erst durchmischen, nachdem man sie über den Boden gehoben hat. Ab dem Anstieg weiß man dann, dass die Luft durchmischt wurde. Ming hatte das vor einigen Tagen noch damit erklärt, dass eventuell Luft (also CO2) in den Boden hineingedrückt wird, bevor sich ein Gleichgewicht einstellt und schließlich der CO2-Gehalt ansteigt. Diese Erklärung stimmt wahrscheinlich eher für den Abfall an CO2, der manchmal direkt nach der Kammerschließung zu beobachten ist.

 

06.05.2014:

So langsam spitzt sich die Lage in der Ukraine zu. Ausländern wird nun geraten auszureisen und Deutschen dazu, sich in eine Liste von potentiell Vermissten  einzutragen. Da mein Reisepass für die Rückreise aber nicht mehr rechtzeitig für ein Transitvisum durch Weißrussland von der Visastelle zurück sein wird und die Fahrt über das Baltikum mit dem Bus zu umständlich ist, bliebe nur der Flug nach Hause direkt von Moskau aus. Nur habe ich letztes Mal schlechte Erfahrungen mit russischen Flughäfen gemacht. Außerdem verpasse ich dann die ganze Zugfahrt durch die Slowakei und Prag.

 

07.05.2014:

Die Windmessung lief heute an, so dass wir demnächst ein 3D-Profil erstellen können.

Ralf meinte gestern abend noch im Skype, dass man die perforierten Schläuche für die Messung des Totvolumens sowieso vergessen könnte, da die ja gerade für eine möglichst gemischte Probe sorgen sollten. Daher ist das erstmal nicht so wichtig.

 

08.05.2014:

Mit Friedmann zusammen hat es soweit funktioniert die externe Pumpe an das Picarro anzuschließen. Die interne Pumpe ist vermutlich leck, so dass sie überbrückt werden musste. Da allerdings einige Adapter fehlten, um 6 mm Schläuche an ¼-Zoll Verbindungen anzuschließen, begann ein Adventure-Game durch das MPI um die richtigen Leute zu treffen, die wiederum das richtige Material und Wissen dafür hatten.

Michael kam mittlerweile mit einer neuen Idee um die Ecke: nachdem er letztes Jahr mit einer Nebelmaschine probiert hatte die Durchmischung in der Kammer zu visualisieren, aber nach kurzer Zeit nur in eine Nebelwand starrte, sollten nun Rauchtabletten das Problem besser lösen. Wenn das mal der Picarro übersteht!

 

09.05.2014:

Es gibt doch noch Zufälle. Vorgestern sah ich beim Essen mit der erweiterten Arbeitsgruppe eine Teilnehmerin von der Bodenkundeexkursion in die Wolgaregion vor drei Jahren wieder und bekam bestätigt, dass ihr Name und die Herkunft mit meiner Erinnerung ihres Gesichtes überein stimmte. Nun fragte sie mich heute im Mittagsgespräch mit anderen Leuten, woher ich ihr denn wohl bekannt vorkäme und ob wir uns aus Göttingen kannten. Woraufhin ich antwortete: „Ein Stück weiter östlich: aus Russland.“ Jetzt irgendwann, nach drei Jahren, wollen sich alle Exkursionsteilnehmer sogar mal wieder treffen.

 

12.05.2014:

Meine frühere Bachelor-Betreuerin saß heute mal wieder beim Essen mit ihrer Arbeitsgruppe. Am MPI trifft man sich halt immer wieder! Sie hat mich überschäumend freudig begrüßt, was ich so nicht erwartete hätte, da ich ja damals etwas unerwartet meine Pläne geändert hatte und nicht zu den bekannten Wissenschaftlern nach Potsdam, sondern zum Eddy-Papst nach Bayreuth gegangen bin.

Die Windprofilmessungen sind jetzt abgeschlossen und ich kann mich weiter den eigentlichen Kammermessungen widmen, wie z.B. den Ventilatorenwinkeln.

 

13.05.2014:

Die Rauchtabletten wirken nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben. Wie schon Michael vom letzten Mal erzählte, entwickelt sich zwar Rauch, aber nach wenigen Sekunden ist alles dicht verteilt und keinerlei Konvektion oder Advektion ist mehr sichtbar. Außerdem stank es nach Chlor und wir befürchteten vielleicht einen Feueralarm auszulösen. Glücklicherweise gibt es hier im Gang aber keine Sensoren.

Das Windhindernis ist ebenfalls errichtet, aus toten Yuccas und Farnpalmwedeln, zusammengebunden und in einem Topf drinnen aufgebaut. Die nächste Idee waren Mings Papierstreifen, die wir zunächst von der Decke hingen ließen, was nicht gut funktionierte, da sie sich in den toten Pflanzenteilen verfingen. Danach klebten wir kleine Streifen an die Seitenwände und in die Ecken um deren Bewegung zu beobachten. Das ging soweit ganz gut, dass man zumindest eine Bewegung sah, auch wenn Michael mit Recht bemängelte, dass die Quantifizierung ein Problem sein würde.

 

Abgestorbene Yucca-Blätter zur Simulation von Tussock-Horsten als Windhindernisse
Abgestorbene Yucca-Blätter zur Simulation von Tussock-Horsten als Windhindernisse

19.05.2014:

Nun endlich wurden die Kammern in den allseits aus Abenteuerfilmen bekannten, mannshohen Holzkisten verpackt. Kaum waren wir fertig alles sorgsam gepolstert zu verstauen, da kamen auch schon die Abholer und die Sachen sind nun bereits auf dem Weg nach Sibirien.

 

20.05.2014:

Im Prinzip bin ich heute fertig mit den Probemessungen, aber man kann ja immer noch mal eine Wiederholung machen um vertrauenswürdigere Daten zu bekommen – oder sie weichen so sehr von den anderen ab, dass man umso mehr daran zweifelt.

 

21.05.2014:

Das Treffen mit Michael war einigermaßen erfolgreich. Zwar sehen wir in den unterschiedlichen Konfigurationen der Messungen kaum Unterschiede, aber falls das stimmt, brauchen wir uns keine Sorgen über den genauen Aufbau in Cherskij zu machen. Nur befürchte ich ein bisschen, dass kein Unterschied in den Konfigurationen zu sehen ist, weil ich eventuell irgendeinen Fehler dabei mache. Zwar wüsste ich nicht welcher das sein könnte, aber das weiß man ja meist erst hinterher.

 

26.05.2014:

Weitere Zweifel machen sich breit: Nach all den Vorbereitung glaube ich, dass ich mich nicht zum Wissenschaftler eigne. Zwar kann ich exakt arbeiten und auch konzentriert messen, aber diese ganze statistische Auswertung und die Methodensicherheit fehlt mir doch fast völlig. Ständig muss ich neu überlegen, wie das jetzt ging und hinterfrage immer wieder die Methodik, weil ich den Sinn schon wieder vergessen habe. Vielleicht ist das letztlich gut um neue Ideen zu finden und ständig zu zweifeln, aber für eine kontinuierliche, wissenschaftliche Arbeit kann das nicht förderlich sein. Zudem mache ich zu viele Fehler und bin mir am Ende noch sogar sicher, es richtig gemacht zu haben. Diese Vorgehensweise passt eher zu einem Künstler, nur weiß ich nicht, welche Kunst mir am besten läge. Und um sein Geld damit zu verdienen und erfolgreich damit zu sein, muss man auch von den anderen Menschen seiner Zeit verstanden werden. So viel zumindest ist mir derzeit schon klar.

 

27.05.2014:

Der letzte Testtag in Jena ging heute zu Ende. Zwar habe ich nichts mehr gemessen, aber Daten geordnet, überlegt, ob sich weitere Tests lohnen und vielleicht am Montag und Dienstag noch was getan werden sollte und dann mit Ming zusammen die Messgeräte, Kammern, Werkzeuge abgebaut. Vielleicht muss im August nach Sibirien noch mal was getan werden.

Mittlerweile bin ich fast davon überzeugt, dass man als Wissenschaftler unbedingt programmiererische Fähigkeiten besitzen muss und viele verschiedene Gedankenstränge überblicken und zusammen setzen können muss.

 

28.-30.05.2014:

StuMeTa 2014 in Hamburg

Wusste gar nicht, dass es dermaßen viele Meteorologiestudenten gibt! Fast 300 Leute hatten sich in Hamburg versammelt, und fast jedem, den Christian und ich trafen, mussten wir erklären, was Mikrometeorologie ist. Die erste Zeit hatten wir so unsere Mühe Anschluss zu finden, denn viele waren mit den anderen Kommilitonen ihrer eigenen Unis unterwegs. So machten wir Initiativ-Bekanntschaften mit Studenten aus Innsbruck, Wien, Karlsruhe, Leipzig und natürlich Hamburg, bevor Christian schon sonnabends wieder loszog: auf Wanderung in die Pfalz.

Durch meine Wahl der Workshops in „Ökonomie des Klimawandels“ traf ich auf einen seltsamen, alten Kauz (er mochte in den 50ern sein und im 6. Bachelorsemester), der vehement den menschgemachten Klimawandel bestritt. Auf der Exkursion nach Bremerhaven zum AWI fand ich auf die Mainzer Fraktion und Robert, einen dieser Clique, der mich enorm an Alex erinnerte und mit dem ich nach Christians Abreise durch die Innenstadt zog. Was hatten wir für einen Spaß! Auch mit Maren, einer Karlsruher Masterandin verstand ich mich prächtig. Ich überlegte schon diese Bekanntschaft etwas tiefer auszubauen, als wir auf einem mehrstöckigen Partyschiff mit verschiedenen Club-Ebenen immer mal wieder aufeinander trafen. Vielleicht war es auch nur ein schlechtes Omen, aber als wir schließlich auf der untersten Tanzfläche (in Anlehnung an Hermann Hesses „Steppenwolf“: der Hölle) das Finale suchten, schlug direkt neben uns eine Bierflasche aus dem „Himmel“ ein und zerschellte jäh. Jemand musste sie vom obersten Deck durch das offene Fenster geworfen haben. Und so gingen wir alle wieder unsere eigenen Wege.

 

Hamburg mit Fernsehturm von der Meteorologischen Unietage | Landungsbrücken
Hamburg mit Fernsehturm von der Meteorologischen Unietage | Landungsbrücken
Rathausplatz | Schiffsrage
Rathausplatz | Schiffsrage

31.05.2014:

Die StuMeTa in Hamburg war ziemlich erfolgreich. Neben vielen neuen Bekanntschaften, wäre ich um ein Haar von einer Flasche erschlagen worden, hätte beinahe die Liebe meines Lebens gefunden, wäre knapp einem Rentnerstudenten an die Gurgel gegangen für seine dämlichen Klimaänderungsverleugnungen und hätte fast einen Job gefunden. Doch die Liebe stand unter einem schlechten Stern, der Renterstudent lebt noch, weil ich nun mal niemanden für seine Dummheit bestrafe und der Job in einer Versicherung, als programmierender Modellierer, Wissenschaftler oder Techniker, vielleicht sogar noch im Vertrieb, sind nicht meine Welt. Christian kann damit schon eher etwas anfangen, ich muss weiter suchen. Doch solange alles nur knapp passiert, habe ich noch Hoffnung.

 

04.06.2014:

Das Zugticket nach Sibirien ist jetzt bestellt. Zwar kommt es nicht mehr rechtzeitig an, bevor wir nächsten Montag losfahren, aber Christian wird es hoffentlich mitbringen, wenn er nachkommt. Morgen ist unsere Abschiedsfeier, wobei wir eine gewisse Hoffnung regen, doch noch zurück zu kommen, aus Sibirien, dem ehemaligen Arbeitsgulag.

 

05.06.2014:

Nicht nur wir hatten Probleme mit unseren Reisepässen: Michael‘ Pass wurde von UPS „verloren“ und nun versuchen sie ihn wiederzufinden. Was für Ming und mich bedeutet, dass wir erstmal allein reisen müssen. Über die wissenschaftlichen Folgen wollte selbst Michael lieber noch nicht nachdenken, hoffte aber weiterhin, dass sein Pass noch gefunden würde.

Tja, was soll man da noch sagen? Erst versemmelt FedEx ein wichtiges Messgerät von Ming im Nirwana über dem Atlantik, und jetzt die Passgeschichte mit UPS. Michael wird Montag also nicht mitkommen, aber versuchen im Laufe der Woche noch einen Flug zu ergattern. Für Ming und mich heißt das jetzt entweder mit dem Zug zum Flughafen nach Tegel zu fahren und im Hotel zu übernachten, oder ein Mietauto zu nehmen. Letzteres wird vermutlich immer noch billiger.

 

08.06.2014:

Protestreicher geht es kaum: am Tag des Fußball-WM-Eröffnungsspiels in Brasilien verlassen wir Deutschland, ja sogar Europa, um aus brasilianischer Sicht am anderen Ende der Welt, im tiefsten Sibirien am Eismeer in menschenfeindlicher Umwelt die Treibhausgasemission aus den auftauenden Permafrostböden durch von Menschen verursachte Klimaerwärmung zu untersuchen, und rückwärts auf eigene Kosten, doch natürlich aus Klimaschutzgründen per Zug noch größere Strapazen auf uns zu nehmen. Zugegeben, der Zeitpunkt genau während der WM in Russland zu forschen ist zufällig und die Rückfahrt eher ein persönliches Reiseziel. Aber das Ergebnis ist doch das gleiche, oder?

 


 

II. Teil – Die Zwei Türme

(2 Eddytürme und 20 Gasmesskammern)

 

Kapitel 1: Feldarbeit – Russland revisited

 

Nachdem wir von Mordor aus aufgebrochen waren, begann das Bündnis der zwei Türme, als sich die Gefährten auf den Weg machten und der Rückkehr des Königs harrten. Doch zunächst brach erst einmal die Zeit der „Ming“-Dynastie an…

 

Überflutete Flusslandschaft | Wissenschaftsdorf | „Orbita“ – eine ehemalige Radarstation
Überflutete Flusslandschaft | Wissenschaftsdorf | „Orbita“ – eine ehemalige Radarstation

10.06.2014:

Nach einem Tag Flug und Reise kommen wir in Cherskij an und haben im Flugzeug gleich den Chef der Forschungsstation vor Ort getroffen: Sergej Zimov – ein älterer, bärtiger Väterchen Frost mit ordentlichem Bauchansatz und (natürlich) stark russischem Akzent im Englisch, und das mitten im Sommer.

Wieder einmal bin ich hier an einem Ende der Welt, wieder im Osten, nur im Gegensatz zu Australien hier nun auf der Nordhalbkugel. Es ist wie man sich Russland vorstellt und wie ich es auch schon kenne: heruntergekommene Häuser, gelassene Menschen, viel Wald.

Durch eine Erkältung habe ich seit der Landung in Jakutsk Probleme mit den Ohren. Der Druckausgleich funktioniert nicht mehr, was vor allem in einer schlecht isolierten Propellermaschine ein Problem ist! Hoffentlich legt sich das in den nächsten Tagen.

 

11.06.2014:

Mann, ich schlaf gleich ein! Bin schon seit Mittag extrem müde. Vielleicht liegt das am Jetlag oder an der Erkältung. Meine Ohren sind aber immer noch dicht. Es klingt dumpf und fühlt sich an als würde ich unter Wasser wandeln.

Von den 300 mm Jahresniederschlag regnete heute vermutlich der größte Teil ab. Vor drei Tagen sollen die letzten Eisschollen getaut sein. Das Feld ist wohl immer noch geflutet. Ohnehin kommt man nur mit einem Motorboot dorthin. Straßen außerhalb der Stadt gibt es fast nicht. Hier läuft alles über den Kolyma und seine Nebenflüsse.

Der erste Spaziergang in der Umgebung ergab ein bekanntes Bild, seltsamerweise. Diese Gegend mit ihrem lichten Lärchenwald kommt mir vertraut vor. Gerade mit der tief stehenden Sonne sieht es aus wie ein typisch nordisches Land. Ich kenne das irgendwoher, aber nicht von Schweden. Es liegt noch länger zurück, sehr lang in der Kindheit, wie aus einem anderen Leben. Und alle Erwartungen an Russland werden hier erfüllt: Die Abgeschiedenheit, die Weitläufigkeit, die Improvisation und Verfallserscheinungen der Gebäude.

 

12.06.2014:

Die Versuchsfläche ist noch geflutet, ca. 30-50 cm hoch. Waren heute bei Walodia (Wowa) und haben alles erstmals inspiziert. Ab Mittag wurde das Wetter schlechter, daher mussten wir nachmittags von Nikita (dem Nachwuchschef der Forschungsstation) abgeholt werden. Der Fluss gab sich nun rauer als zuvor und Baumäste und Stämme schwammen gefährlich an der Oberfläche. Abends begann es sogar zu schneien und akkumulierte sich zu einer weißen Decke am Morgen.

 

Überflutetes Messfeld | Ming auf Wowa
Überflutetes Messfeld | Ming auf Wowa

13.06.2014:

Wir entschieden aufgrund des Wetters heute nicht ins Feld zu gehen. Die Bootfahrt wäre zu gefährlich gewesen. Zwar funktioniert das Internet immer noch nicht, aber bei Nikita zuhause konnten wir wenigstens die neueste Korrespondenz nachschauen und beantworten. Das Dampfbad am Morgen half nun auch etwas gegen die Ohrenprobleme, auch wenn es nur gekochtes Flusswasser war. Heute Abend wird Michael ankommen.

Da wir bei den russischen Wissenschaftlern zuhause wohnen, kriegen wir auch deren Ansichten mit. Die Simovs haben keine gute Meinung von der ehemaligen Sowjetunion, wie mir scheint. Zumindest benutzen sie das Wort „Kommunismus“ sehr abfällig. Andernfalls würden sie aber wohl kaum amerikanische Wissenschaftler in ihre Forschungsstation einladen.

 

14.06.2014:

Gestern Abend ist Michael angekommen. Anscheinend hat er keine Probleme mehr mit dem Pass gehabt. Der Wind pfeift um die Station, genannt „Orbita“, eine alte Fernsehübertragungsschüssel steht auf dem Dach. Wahrscheinlich aber diente sie in den 70ern eher für die Radioüberwachungen der Amerikaner.

Noch sind wir allein hier in der Station, mit einer Toilette, aber bald sollen amerikanische Forschungsgruppen und Studenten kommen und dann wird es ziemlich voll, laut und vielleicht auch „geselliger“ werden.

Mit Michael ging es heute noch mal ins Feld um uns ein Bild von der Situation zu machen und Sergejs Rat zu hören. Außerdem musste ein Eddy-Turm neu kalibriert und die Flutvorkehrungen rückgängig gemacht werden. Danach folgten fast 10 Stunden mit Diskussion und Planerstellung, nur mit einer kurzen Pause zum Abendessen, wonach gleich weiter diskutiert wurde. Ming und Michael scheint das nichts auszumachen.

 

15.06.2014:

Die nächsten Tage soll es windig und regnerisch werden, Ende der nächsten Woche sogar schneien. Heute verschlug es uns auf die Freifläche für Ebullitionsmessungen. Nun sollte ich das Boot zur Freifläche fahren. Zwar handelte es sich um ein kleines Motorboot mit nur 25 PS, aber dennoch hatte ich eine gewisse Verantwortung den anderen (Michael und Ming) gegenüber und bei den Temperaturen ins Wasser zu fallen hätte keinem von uns gut getan. Da wir in der Freifläche aber keine Ebullitionen messen konnten und das Wetter plötzlich umschlug, verließen wir die Versuchsfläche gegen 19:00 Uhr nach einigen pflanzengetriebenen Methanmessungen  und Transekten-Fluss-Nebenfaktoren (pH, Redox, Tiefe von aktiver Phase, Wasserstand, Grundwasserstand) wieder. Das Boot lag zum Glück noch vertäut am Fluss und mein Palstek hatte sich bewährt, nur die Rückfahrt gestaltete sich etwas ruppig durch die windgetriebenen Wellen und die auf dem Wasser schwimmenden Äste. Da so eine Bootsfahrt sehr kalt sein kann, feuerten wir daheim den Kamin zum ersten Mal an und wie Michael richtig feststellte, bekam der Hauptraum den Anschein eines Schlosses, durch seine runde Form die hohen, turmartigen, nach oben verjüngten Wände, das Parkett, den Kamin und die Sofas. Letztes Jahr hingen wohl auch noch Flaggen aller beteiligten Nationen an den Wänden und es gab elektrischen Anschluss für einen Kronleuchter.

 

Väterchen „Sergejewitsch“ Frost | Fischerschule
Väterchen „Sergejewitsch“ Frost | Fischerschule

16.06.2014:

Im Prinzip ist es hier wie bei meiner Bachelorarbeit: Messungen im Freien, umgeben von der Natur um genau sie selbst zu ergründen, zusammen mit vertrauten Menschen am gleichen Thema arbeitend, etwa fünf Wochen Feldmessungen, irgendwo im Nirgendwo, egal ob Sachsen-Anhalt oder Nordostsibirien – und das alles, um eine weitere Qualifikation im Leben zu erhalten. Der größte Unterschied liegt nicht mal in der Sprache; die Menschen um Magdeburg versteht man auch oft so schlecht wie Russen. Sondern hier können wir nur raus zum Messen, wenn die Sonne scheint oder zumindest kein allzu schlechtes Wetter ist, allein schon wegen der Bootfahrt. Während der Bachelorarbeit über Stammabflüsse und Kronentraufen mussten wir dagegen gerade dann raus, wenn es stürmte und goss.

Die Stimmung zwischen Michael und mir hat sich heute deutlich verbessert. Der Austausch über die persönliche Lebensgeschichte beim Mittagessen half dabei. So langsam fühle ich mich akzeptierter in der Arbeitsgruppe, wogegen ich vorher oft dachte, dass ich mich nur reindränge, um diesen Auslandsaufenthalt mitmachen zu können. Doch letztlich ist man selten wirklich unpassend, denn schließlich strengt man sich an um seinen Wert zu zeigen (manchmal auch zu viel, siehe 14.04.2014), ist da um zu arbeiten und kann erst am Ende sagen, ob es gut war. Zudem hat man keinen Vergleich zu anderen Menschen, die es stattdessen vielleicht besser gemacht hätten, denn sie haben es ja nicht getan! Und die Arbeit wurde mehr oder weniger auf unsere Fähigkeiten angepasst und nach unseren Bedürfnissen zurecht gebogen, also im Grunde nach den Leitlinien des Sozialismus und Kommunismus: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Auch für den Rest der Gruppe ist es eine Erfahrung eventuell die falsche Person mitgenommen zu haben und letztlich bringt jeder individuelle Fähigkeiten mit, und sei es auch nur, um die Fähigkeiten der anderen zu stärken, weil sie die Schwächen des einen Unfähigen ausbügeln müssen. Aber sie haben dadurch auch einen Sündenbock und falls man sich gar zu dumm anstellt, dann hat man wenigstens etwas Außergewöhnliches bewirkt, und sei es auch im Schlechten. Ist das also vielleicht die ideale Wissenschaftsgemeinschaft?

Ich bringe hier z.B. meine Bootserfahrung ein, kritisches Denken und ein wenig Russischkenntnisse, sowie Allgemeinbildung, Geschichten und (hoffentlich) manchmal lustige Sprüche. Vielleicht werde ich so in Erinnerung bleiben (zumindest bei den Amerikanern durch die Wortgefechte später mit Seth).

 

17.06.2014:

Kleine, seltsame Geschichte am Rand: als ich im Halbschlaf einen gewissen Drang zur Toilette verspürte, träume ich von der digital dargestellten Uhrzeit „6:57:52“, die im Sekundentakt voran schritt. Tatsächlich war es 6:56 auf meiner Handy-Uhr, die allerdings eine Minute nachgeht. Zufall? Oder Tundra-Paranoia?

Wowa war heute mal wieder bei der Station, aber nicht lange. Im Feld hatten wir gerade mal 8°C, aber wenigstens war es windstill. Zurück ließ ich Ming fahren, auch auf Sergejs Rat hin um noch jemand anderen zu haben, der sich mit dem Boot auskennt. Immerhin hat sie sofort begriffen wie ein Palstek funktioniert, auch wenn sie das wohl in Schulzeiten mal gelernt hatte. Denn in bei ihr zuhause bereitet man sich offenbar mit Überlebensübungen auf drohende Katastrophen vor wie Brände, Erdbeben, Tsunamis oder Kriege. In Südkorea sind das tatsächlich alles realistische Szenarien!

Der Abend läuft ab wie alle anderen auch: wir sitzen still jeder an seinem Platz und programmieren so vor uns hin – außer mir, da ich nicht programmieren kann und auch nicht wüsste was ich programmieren sollte.

WM-Ticker: Deutschland - Portugal: 4:0.

 

Totempfähle auf dem Festplatz | Uhu | Mit Boot und Fischernetz
Totempfähle auf dem Festplatz | Uhu | Mit Boot und Fischernetz

18.06.2014:

Mit dicken Jacken von Sergej lässt sich die Bootsfahrt leichter ertragen. Einen dicken Pelz braucht man in der Wissenschaft aber auch manchmal. Denn Michael und Ming waren anfangs leichter im Umgang. Michael ist zwar nicht der sture, volldurchorganisierte Wissenschaftler, als den er anfangs wirkte, aber soziale Kompetenzen scheinen bei ihm noch Potential zu haben. Ming lässt dagegen immer mehr eine gewisse Zickigkeit durchblicken, gemischt mit der einen oder anderen Bockigkeitsphase, wie heute, als sie mir vorwarf ihr alle Entscheidungen zu überlassen, obwohl sie offensichtlich selbst besser Bescheid weiß und ungern Arbeit anderen überlässt. So erwartet sie aber auch alles sofort zu verstehen. Die Einschätzung darüber wird in meiner Note wohl ziemlich schlecht ausfallen. Das gemeinsame Spiel Russland – Korea (1:1) zu schauen war dagegen eine Art freundschaftliche Internationalität. Und ich lernte: „Hamsa ham nida“ = „Danke“ auf Koreanisch.

 

Michael eingepackt | Ming mit Mylar-Folie | Erdhörnchen
Michael eingepackt | Ming mit Mylar-Folie | Erdhörnchen

19.06.2014:

Michael hätte nun auch gerne mehr Ideen von mir zu den Kammermessungen. Zumindest bleiben wir einen Tag lang in der Station für Laborarbeit und Planung. Im Feld wäre es wohl auch zu kalt gewesen und zu bewölkt, so dass wenig Pflanzenaktivität oder Bodenmikroben arbeiten. Das bedeutete heute zum zweiten Mal den Ofen anzuheizen.

Wenn ich nachts gegen zwölf immer noch am Computer sitze und Ming was frage schaut sie schon im Sinne von: ‚Fragst du schon wieder?‘ Ich hasse diesen Ausdruck der sinnlosen Arroganz. Aber woher sollen sie es auch besser wissen? Es sind ja nur Wissenschaftler.

 

20.06.2014:

Gestern kam ein weiterer Gast an, ebenfalls weitgereist wie Sergej mit perfektem Russisch und fast ebensolchem Englisch. Noch weiß ich nicht, ob er Russe oder Amerikaner ist, zumindest nennt er sich Eugene (sprich: „Judschien“). Habe mich außerdem noch mal in der Gegend umgesehen. Neben dem See lag auch ein gelbes Haus. Bei näherer Begutachtung stellte sich die Farbe als Bauschaum heraus. Bis auf eine Stelle wurde das komplette Gebäude damit versiegelt. Die eine Stelle dagegen war ein zerbrochenes Fenster, durch das man offene Aktenschränke sehen konnte. An der verschlossenen Tür war ein Schild angebracht, worauf etwas mit sibirischer Regierung stand. Doch offensichtlich hat das die Ortsansässigen nicht davon abgehalten sich am Inneren zu bereichern – oder sie konnten das Schild nicht lesen.

 

Nährstoffarmer Lärchenwald | Bauschaumhaus
Nährstoffarmer Lärchenwald | Bauschaumhaus

Die Jakuten scheinen zusammen mit den Mongolen so ein wenig die Kelten Nordasiens zu sein: Überall verbreitet und noch ziemlich genauso lebend, wie ihre Vorfahren, mit heidnischen Ritualen, naturnah in Waldsteppen wie die Urväter Ostasiens.

Zumindest hat jetzt auch Ming gemerkt, dass Michael manchmal schwierig ist. Aber so sind Wissenschaftler eben, und vor allem auch Menschen. Im Feld selbst tauchten heute die ersten Mücken auf, aber wenigstens war es einigermaßen warm und der Fluss ruhig. In den nächsten Tagen soll es wesentlich kälter und nasser werden.

 

21.06.2014 – Mittsommer:

Mitsommermitternachtssonne im Schneetreiben | Kapelle
Mitsommermitternachtssonne im Schneetreiben | Kapelle

Es regnet schon den ganzen Morgen. Bei dem Wetter Boot zu fahren ist fast nicht möglich, denn man sieht einfach nichts ohne Scheibenwischer. Da heute der längste Tag des Jahres ansteht, gibt es auch in Cherskij ungeachtet des Wetters ein Fest zu eben diesem Tag. Neben „Modern Talking“ zum Auftakt dieser recht traditionellen Feierlichkeit hält sich die ursprüngliche Musik jedoch sehr in Grenzen. Schönste Trachten und einstudierte Tänze werden untermalt von Technorhythmen und Schlagzeug. Allein die Maultrommeln und ein Schamane mit Felltrommel und beeindruckendem Stimmorgan stechen als althergebracht heraus. An diesen Beispielen erkennt man wohl die Verwandtschaft dieser Menschen mit den kanadischen Ureinwohnern, den Inuit, wenngleich „Schenja“ (Eugene alias Jewgenij) meint, dass sich Jakuten und Tschuktschen mehr voneinander unterscheiden würden als Schweizer von Thailändern. Später wirft er allerdings ein, dass hier die Traditionen von Jakuten und Tschuktschen fröhlich miteinander gemischt werden und von den jungen Leuten kaum einer noch den Unterschied kenne. Bei Jakuten handelt es sich eher um Bauern, wogegen Tschuktschen mehr dem Nomadentum, der Rentierzucht und der Jägerei zugetan sind. Eugene meinte außerdem, die Nordvölker würden sich deshalb so stark voneinander unterscheiden, weil die Jakuten von Mongolen und Turkvölkern abstammen und Tschuktschen mit Ewenken und Indianern verwandt seien. Außerdem sollen sie wohl sehr kriegerisch sein. Wie auch immer, man erkennt die Wanderbewegungen der ersten Menschen in dieser Gegend anhand der Gesichter ganz gut. So fällt Ming hier nicht so stark auf wie wahrscheinlich Michael und ich. Denn hier steht mongolisches Aussehen mit schwarzem Haar dem slawischen Anblick mit dunkelblondem Haar gegenüber. Aber Europäer mit dunklen Haaren, wie Michael und ich es befellt sind, gibt es praktisch an diesem Ort nicht. Daher sind wir beide also die Exoten. Doch auch an der Form der Zelte, der Schuhe (Mokassins), der Art der Musik und des Gesangs lässt sich die Verwandtschaft mit fennoskandinavischen Samen bzw. Lappen sowie nordamerikanischen, indigenen Ureinwohnern ablesen. Die arktischen Völker sind untereinander eben doch stärker miteinander verbunden als der Rest der Welt – zumindest bis im Zeitalter des Internet.

 

           > Philosophischer Exkurs:

     Vermischung von Kulturen führt letztlich erneut zu einer Vereinheitlichung, was vorher die Tradition erreichen sollte, nur dass die gemeinsame Tradition weniger in der Tradition vieler aufgeht und vergessen wird. Zwar entwickelt sich eine neue Tradition, aber nicht mehr mit gemeinsamem Hintergrund. Jedoch brauchen die Menschen Abgrenzungen zu anderen. Denn sonst wären sie zu frei zwischen den unendlichen Möglichkeiten und ohne Halt bzw. ohne gültige Philosophie, welche sich doch schon zuvor bewährt hat. Sie wären stattdessen verloren zwischen den Welten, ohne Wegweiser (was gut und schlecht ist) und können letztlich auch kein Gemeinschaftsgefühl mehr aufbauen. Sie müssen sich also mehr allein fühlen, obwohl sich die Kulturen näher kommen, aber die Nähe zu einzelnen Menschen durch Facebook und den Rest des Internets, ständig wechselnden Trends und Partnern usw. nimmt konstant ab.

 

Heute machen wir jedenfalls nichts mehr im Feld und bleiben in der Station. Das heißt der Kamin wird erneut angefeuert. Das reichhaltige Essen, zum großen Teil bestehend aus proteinreichem Elchfleisch (weniger aus Fisch und Fett) sowie vielen Kohlenhydraten in Form von Brot, Kartoffeln, Reis und Buchweizen braucht man daher auch zum Überleben. Meist gibt es zuerst eine Suppe (Fleisch, Fett, Kohlenhydrate) und anschließen den Hauptgang (erneut Fleisch, aber gebraten, Reis / Kartoffeln / Buchweizen) und Kraut oder Salat. Das ganze zweimal am Tag, mit süßem Nachtisch und natürlich Wodka zum Essen (laut Sergej ist Wodka „Gewürz“) sowie süßen Brei oder Pfannkuchen bzw. Teigtaschen zum Frühstück sorgen für viel Brennstoff in den Zellen. Wenn das nicht entsprechend köstlich durch unsere hervorragende, georgische Köching zubereitet und nicht von uns selbst durch die zehrende Arbeit verbrannt wird, setzt es eben an.

 

Traditionelle Gaben und Maultrommelspieler | Sommertanz | Tschuktschenzelt mit jakutischer und tschuktschischer Flagge
Traditionelle Gaben und Maultrommelspieler | Sommertanz | Tschuktschenzelt mit jakutischer und tschuktschischer Flagge
Schamanentrommeln | Nikita beim 10-Kg-Scheibenweitwurf | Armdrücken mit Ming
Schamanentrommeln | Nikita beim 10-Kg-Scheibenweitwurf | Armdrücken mit Ming

Gegen Abend schneit es auch wieder. Sergej, der kohlensäurefreie Bierrusse und Jewgenij (Schenja), der alkoholfreie Exilrusse –sind schon seit vielen Jahren Freunde. Schenja erzählte mir wie sie sich das erste Mal in der sibirischen Tundra trafen: Sergej war mit einem Kameraden unterwegs in einem Boot auf einem ziemlich zugeeisten Fluss mitten im frostigen Winter. Sie fuhren etwas zu rasant in eine Kurve, wodurch es sie aus eben jener heraustrug und sie im gefrierenden Wasser landeten. Doch sie schwammen ans Ufer, sammelten noch ein paar Sachen zusammen und brachen auf in die Wildnis, mit der Hoffnung dort jemanden zu finden. So war es auch, denn Schenja hatte das Ganze von einem Hügel aus beobachtet und nahm sie mit in seine Hütte, wo sie sich aufwärmen konnten. Selbst Schenja hatte dieses Schauspiel kaum fassen können, war aber umso mehr von Sergej beeindruckt, der schon als Kind in fremde Jagdreviere zum Wildern eingedrungen war. So treffen sie sich Jahr um Jahr erneut in Nordostsibirien – wenngleich diese Ära sich dem Ende neigt, wie Schenja ohne weitere Erklärung hinzufügt.

 

22.06.2014:

WM-Ticker: Deutschland - Ghana: 2:2. Zumindest die zweite Halbzeit war spannend, dafür steht man gerne Sonntags um 7:00 auf. Im Feld waren heute DOC- und Methanwassermessungen dran. Erst regnete es, dann wurde es warm. Die Fließgeschwindigkeit im Kanal maßen wir mit schwimmenden Styroporstücken, liegend auf dem Boot. Im Moment ist eher Ming Angriffspunkt von Michaels Kritik.

 

23.06.2014:

Michael scheint eher der Programmierer zu sein als der praktische Feldexperimentator. Bei schlechtem Wetter will er zurück in die Forschungsstation und kriegt schlechte Laune. Außerdem will er alles möglichst wissenschaftlich korrekt machen, wogegen im Feld Probleme aber eher mit Improvisation gelöst werden müssten.

Es ist seltsamerweise kälter als sonst, obwohl die Wetterbedingungen gleich zu sein scheinen. Nur die Luftfeuchte liegt bei 80 %. Dann solche Fummelarbeit an Elektronik und Mechanik durchzuführen, von 10:30 bis 20:30 grenzt schon an Wahnsinn, gerade mit schwerem fragilen, aber sperrigem Gerät über wacklige, nasse, mit herausstehenden Nägeln gespickte Planken balancierend. Darüber hinaus zum Mittag kalten, blanken Reis auszupacken treibt den Wahnsinn sogar noch in die Aberwitzigkeit. Heute ist zumindest der letzte Tag mit Ming und Michael. Die gesamte Küche ist nun auch in die Orbita umgezogen. Seitdem herrscht hier ein Kommen und Gehen und mit der Ruhe ist es vorbei.

 

Wowas Hütte von innen
Wowas Hütte von innen

24.06.2014:

Michael und Ming sind nun wieder auf dem Heimflug. Ich bin acht Tage auf mich allein gestellt bis Christian und Fany am dritten Juli eintreffen. Während am Morgen und nach dem Essen noch Lagebesprechung angesagt war, bevor die beiden MPI’ler aufbrachen, bin ich nachmittags auf Internetsuche und Erkundungstour gegangen. Da stoße ich auf einzelne Holzhäuser mitten in der Landschaft, selten mal auf Menschen, laufe über Schlammstraßen und vorbei an hölzernen Totempfählen in jedem zweiten „Garten“ (ohne jegliche Zäune); die Berge im Hintergrund, teils immer noch schneebedeckt, der weite Fluss und die licht stehenden Nadelbäume erinnern alle sehr stark an ein einsames Dorf im Nordwesten der USA oder in Kanada – oder an eine fast verlassene Goldgräberstadt in der Prärie, die sogar einen Steinbruch nebenan vorweisen kann. Russland und die USA werden für mich immer ähnlicher. Passend dazu erinnere ich mich noch zuvor auf einem verstimmten Klavier in einem der hölzernen und zugigen Laborhäuser gespielt zu haben als würde ich in einem Saloon sitzen. Entsprechend quietschte auch die Tür beim Herausgehen.

Nikita und seine Frau Nasdja feiern heute Abend ihren 9. Hochzeitstag. Zu diesem Anlasse wird auch ebenso getrunken. Beide haben sich an der Universität von Nowosibirsk kennen gelernt und mit 21 geheiratet. Die beiden Töchter sind 6 und 4 Jahre alt und ein drittes Kind ist unterwegs.

 

Der nächste Berg | Deutsches Schiffsschicksal | Der nächste Berg mit nächstem Fluss
Der nächste Berg | Deutsches Schiffsschicksal | Der nächste Berg mit nächstem Fluss

25.06.2014:

Die zehn Schnäpse gestern Abend sind in Form von Kopfschmerzen hängen geblieben. Im Feld ist es abwechselnd heiß, windig, etwas tröpfelnd, bewölkt und ich muss den ganzen Krempel… da fängt es zu schütten an. Kein richtiger Fluss ist zu sehen und zum Schluss gibt auch der Los Gatos (der Picarro fürs Feld) auf, zum Glück erst kurz nach der letzten Messung. Bei Wowa liegt derweil ein nicht mehr ganz taufrischer Russe, dessen Worte ich in keiner Weise verstehe, während dieser mich allerdings versucht in einem stark alkoholisierten Mix aus Russisch und Jakutisch (klingt ein bisschen Orkisch) während meiner Mittagspause in regelmäßigen Zwei-Minuten-Abständen irgendetwas zu fragen, wobei er ebenso regelmäßig stets wieder einschläft. Das macht das Mittagessen schwieriger. Schließlich sind auch noch alle Boote weg und ich mach mir schon Gedanken über etwaige Nachtmessungen, als Wowa doch noch wieder auftaucht. Er musste seinen Bruder - den besoffenen Russen - nach Hause bringen. Heute musste ich außerdem auch zum ersten Mal das Bugshirt verwenden, um den Mückenmassen beim Hungern zusehen zu können.

 

26.06.2014:

Die nächste Katastrophe ist in Sicht: Der Los-Gatos-Gasanalysator verweigert den Dienst. Hab schon alle möglichen Kabel zur Stromversorgung gecheckt. Hoffentlich ist dabei kein Kurzschluss entstanden und das Ding steigt am Ende für immer aus! Dann kann ich einpacken. Aber die Polkabel waren nur zu nah beieinander und dort unisoliert. Jetzt geht’s wieder… Bis ich merke, dass die Pumpe nicht anspringt. Das dauert zwar immer ein paar Minuten, aber nach einer halben Stunde will sie einfach immer noch keinen Mucks tun. Auch Wowa kann nur rausbekommen, dass sie keinen Strom kriegt. Also muss ich auf die einzige Arbeit ausweichen, die keinen Analysator benötigt: das Schießen von Standortfotos. Eine Kollegin (Isa) zuhause braucht diese Bilder für den Abgleich mit Satellitenfotos und zur Klassifizierung der Umgebung in Vegetationsgemeinschaften. Dafür müssen wir vor Ort durch die Pampa laufen und alles dokumentieren. Ein Punkt dabei liegt so weit außerhalb, dass ich eine halbe Stunde dorthin brauche. Es kommt mir in diesem unwegsamen Gelände vor wie ein Tagesmarsch; in Gebiete und Weiten, in die zuvor noch nie ein Mensch vorgedrungen ist. Es dauert wohl nicht mehr lange, bis die Nacht hereinbricht, und das heißt schon was im Sommer nördlich des Polarkreises!

Gegen sechs Uhr abends breche ich doch auf und muss sehen: Die Amis sind da. Vorbei ist es mit der Ruhe, aber vielleicht auch mit der Einsamkeit.

 

27.06.2014:

Nach der Antwort von Ming und Michael auf das Los-Gatos-Problem war ich den kompletten Vormittag am Rumrennen um Monitor, Monitorkabel, Keyboard und Maus zum Neustart und Reset des Analysators zusammen zu bekommen. Nachdem die Wissenschaft hier oft schon wie ein Computer-Adventuregame anmutete, kommt nun noch der Jump’n’Run-Faktor dazu. Aber was wäre Wissenschaft ohne Probleme bzw. Rätsel eines Abenteuers, das man lösen und überstehen muss? Hoffentlich wird daraus nicht noch ein Ego-Shooter! Doch wahrscheinlich geht es eher in Richtung Western-Endzeit-Survival. Denn nun, da die Amerikaner sich hier breit machen, erklingt auch schon Bluegrass und Country-Musik aus dem Labor mit dem Klavier darin, das einem Saloon entsprungen schien. Es macht die Szenerie perfekt, wenn auch noch ein Texaner im Hintergrund spricht. Das alles geschah nach dem WM-Spiel BRD – USA heute Nacht bzw. Morgen gegen 4:00 Uhr. Zumindest gewann Deutschland.

Nachmittags geht’s doch noch mal ins Feld. Allerdings ist Wowa besoffen und hat Damenbesuch. Laut Nikita ist es nicht seine Frau. Irgendwann verschwindet er dann auch mit dem Boot, muss aber vorher noch Nikita Bescheid gegeben haben, denn der taucht mit einem anderen Russen auf, der mich nach Hause bringen soll. Zwischendurch steigt der Analysator wieder aus und ich beschließe frustriert aufzuhören, genervt vom Gesumme abertausender Moskitos.

Wie sich herausstellt ist der Ersatzrusse als Fahrer nicht besser. Zunächst echauffiert er sich darüber, dass ich seine gebrabbelten Wortfetzen nicht verstehe. Dann hält er mehrmals an, entweder um sich eine Zigarette anzuzünden, ein Palaver mit Freunden abzuhalten, eine halbe Flasche Wodka zu trinken (die er mir als Russisches Bier weißmachen will), um diese anschließend mit einem verächtlichen Wurf im Fluss zu versenken oder um mir zu verstehen zu geben, dass ich nichts davon Nikita erzählen solle. Das hab ich nun schon zum zweiten Mal gehört, zuletzt als Wowa seinen betrunkenen Bruder vertuschen wollte. Um diesen „Pakt“ zu beschließen, schlägt er mir vor Freunde auf What’sApp oder facebook zu werden, was ich zu seinem Leidwesen aber nicht habe. Daher versucht er mit Handschlägen einen verbindlichen Eindruck zu erwecken. Würde mich kaum wundern, wenn er das nächste Mal versuchte mich als Mitwisser zu ersäufen!

 

Unser Haus, … | … unser Hovercraft-Boot … | … unser Panzer…
Unser Haus, … | … unser Hovercraft-Boot … | … unser Panzer…
…ein anderes Haus, ein anderes Auto, ein anderes Boot, … | … ein Hausboot, … | - und: ein Hund
…ein anderes Haus, ein anderes Auto, ein anderes Boot, … | … ein Hausboot, … | - und: ein Hund

28.06.2014:

Ein Abenteuer ist die Arbeit hier tatsächlich Tag für Tag. Da ich heute die Kühlakkus für die DOC-Messungen vergessen hatte, musste ich kurzfristig auf Ebullitionsmessungen ausweichen, zumindest mit der Mylar-Folie um die Temperatur gering zu halten. Was sonst noch? Nun, man sollte nicht direkt nach einem Regen in die sommerliche Tundra gehen, wenn man nicht einen qualvollen Tod durch Juckreiz und Wahnsinn vor lauter Mücken sterben will.

 

29.06.2014:

Okay, ich hoffe das kann ich jetzt als schlimmsten Tag verbuchen: Nicht nur, dass trotz des Regens und kälteren Temperaturen die Mücken einfach nicht verschwinden wollen, Wowa nicht auffindbar ist und ich schon eine Viertelstunde brauche um das Schloss des Werkzeugcontainers unter Wowas Hütte zu öffnen. Nein, heute entscheidet der Los Gatos gar nicht mehr zu funktionieren als die Mittagspause auch schon längst überfällig ist. Nach ewigen Versuchen und Kontaktschrauberei bricht mir schließlich ein Endpol ab, währen im Container Wowas Köter meine Essenstüte verspeist. Das arme Vieh hat zwar wahrscheinlich schon seit Tage nichts mehr gekriegt, aber zulassen kann ich das trotzdem nicht. Nach ein bisschen Schrauben an der schwimmenden Kammer ist der Tag im Feld auch schon vorbei und ich am Ende. Wenn der Analysator im Eimer ist, kann ich endgültig einpacken. Nicht nur, dass wir hier nichts mehr messen können, sondern auch meine Masterarbeit dürfte so ziemlich erledigt sein. Zu allem Überdruss nervt mich Galia (Sergejs Frau) mit irgendwelchen Kisten in Lettland, die wohl zu schwer für den Zoll sind (mehr Gewicht als angegeben) – als ob ich wüsste, was da drin ist.

 

Feld mit Arbeiterhütte, Strom und Bergen | Tussock | Nasswiese
Feld mit Arbeiterhütte, Strom und Bergen | Tussock | Nasswiese

30.06.2014:

Die erste Station auf dem Weg zur Los-Gatos-Reparatur ist ein Elektriker, den ich für den Analysator brauche. Es handelt sich bei dessen Sitz um eine Art offizielles Regierungsgebäude, wahrscheinlich als Teil des Flughafens, da Nikita auch gleich erwähnt, ich solle besser kein Englisch sprechen. Allerdings treffen wir keine offiziellen Angestellten und der Elektriker kennt mich auch schon, so dass alles unkompliziert verläuft. Geht es also doch noch ins Feld, endlich Wassergase und DOC messen? Ja, es geht und Wasser bekomme ich dann dort auch genug, nur aus einer anderen Richtung als erwartet: Es regnet sich ein. Wäre an sich nicht sonderlich problematisch und eher normal. Aber für die Reinigung mit destilliertem Wasser und das Abfüllen mit Probenfläschchen ist Regen nicht empfehlenswert. Am Ende stellt sich auch der wasserdichte Laptop als nicht ganz so wasserdicht heraus wie angepriesen („Den kannst du auch in den Fluss werfen!“), denn der Bildschirm funktioniert nun nicht mehr. Was Michael wohl dazu sagen wird? Für Wacha (Wowas Hund) wollte ich noch einen Fisch fangen, doch ich glaube mir fehlt der richtige Köd(/t)er dazu. Derweil war das philosophische Gespräch mit Nikitas Frau Nasdja und zwei der Amerikaner ganz angenehm und ich erkenne daran, dass der freie Geist sich in allen Kulturen ähnlich entwickelt: weg von der Tradition, hin zur Verantwortung.

 

01.07.2014:

Der Laptop funktioniert wieder. War wohl doch nur die Software und nicht die Feuchtigkeit. Das WM-Spiel gegen Algerien hab ich nun leider verpasst. Zu viel E-Mail-Verkehr und zu langsame Verbindungen! Aber Deutschland ist weiter gekommen.

Eine Dreiviertelstunde hat es mich gekostet dieses vermaledeite Schloss am Container zu öffnen! Der Los Gatos reagiert nun auch empfindlich auf jeden Aufsetzer und startet dann erstmal neu. Außerdem ist der Rest der Amerikaner angekommen, die „Undergraduates“, also die Studenten.

 

Feldarbeit | Bootshund
Feldarbeit | Bootshund

Für die amerikanischen Studentenmädels muss es eine Szene wie aus einem Hollywood-Film gewesen sein, als da ein bärtiger Mann mit seinem Motorboot allein aus der Tundra vom Messen wissenschaftlich höchst bedeutsamer Daten für den Klimawandel zurückkommt, mit geübten Griffen das Boot am Hausboot festknotet, über die Rehling der Barke springt und mit seiner Norwegermütze, triefend nass vom Regen, voll bepackt mit Ausrüstung und einem entschlossenen Gesichtsausdruck routiniert und zielstrebig zur Unterkunft stapft. Entsprechend kurz fällt aber auch die Begrüßung aus. Ob die „Girls“ das nun noch immer angenehm empfanden oder eher verstörend vermag ich als eben jener Bärtige und obendrein noch Deutsche nicht zu sagen. Aber diese Mädels scheinen noch nie von zu Hause rausgekommen zu sein und entsprechend schaulustig stand eine dann vor mir und erwartete wohl einen filmreifen Anmachspruch, statt eines einfachen, kurzen „Hey!“

 

02.07.2014:

Ich hab das Gefühl Michael wird gierig. Jetzt, wo er sieht, dass es doch klappt, will er mehr Messungen. Was seine hochgelobte Organisation angeht hätte er doch wenigstens vorher sagen können, dass auf dem Rückflug von Cherskij das gesamte Gepäck inklusive Handgepäck nur 20 Kg wiegen darf! Nun muss ich auf dem Rückflug einplanen 8 kg irgendwie am Körper zu verstauen!

 

Fürsorgliche Moskitos | Mückenalarm | Aaaaachttung! Aufstellung!
Fürsorgliche Moskitos | Mückenalarm | Aaaaachttung! Aufstellung!

Zumindest die Flussmessungen verliefen heute mal gut. Nach einigen Tagen kommt auch die Sonne wieder raus. Nicht, dass das gut wäre. Denn mit der daraus resultierenden Wärme trudeln auch die Mücken wieder ein. Endlich verstehe ich wie das tapfere Schneiderlein damals „7 auf einen Streich“ erwischen konnte! Ich glaube das heute eventuell getoppt zu haben. Denn auf den Quadratdezimeter kamen teils 30 von den Viechern.

Es ist fast seltsam wie viel Stimmung und Gefühlslagen die Amerikaner (und auch der Hispanioler darunter) in ihren Liedern haben. Eine Menge von ihnen können Gitarre spielen und fast alle singen mit, natürlich und gerade die Dozenten. Wieder eine Gemeinsamkeit mit Russland: Die Musikalität. Und: der 2. Tag ohne Regen!...

 

03.07.2014:

… Dafür regnet es heute umso länger! Und Wowa ist wieder da. Ein bisschen zerstört sieht er aus, aber fit wie eh und je. Durch das Warten während der Ebullitionsmessungen habe ich viel Zeit für Postkartenanfertigung aus Sperrholz. Abends sind Fany und Christian auch schon angekommen und der ganze Abend vergeht mit Erzählen. Besonders Christian ist schon zwei Wochen mit dem Zug unterwegs und kann so einiges berichten: Vor allem aber hat er mein Ticket für die Rückfahrt dabei!

 

04.07.2014:

Nikita über seine Tierfangversuche im „Schloss“saal | Kammerstation
Nikita über seine Tierfangversuche im „Schloss“saal | Kammerstation

Protokolllesen war angesagt, also Arbeitsanweisungen auf den neuesten Stand bringen, was bedeutet immer wieder alles neu zu lesen, da nichts markiert ist. Der Nachmittag wurde auf dem Feld verbracht, Kammeraufbauten ausprobieren. Abends präsentierte Nikita seine Bilder vom Pleistozänpark und wir diskutierten noch bis in die Nacht bzw. bestaunten Christians Fotos von der Herfahrt.

 

05.07.2014:

Produkti / Magasin | Cherskij am Kolyma-Ufer | Cherskijs Straßen
Produkti / Magasin | Cherskij am Kolyma-Ufer | Cherskijs Straßen
Das Ende der Welt … | … war früher nur mit dem Schiff erreichbar … | … und sieht heute so aus
Das Ende der Welt … | … war früher nur mit dem Schiff erreichbar … | … und sieht heute so aus
Tschuktschenfest… | …Jewgenij (Schenja) im Reinigungsritual | …Fany im Tschuktschenverein
Tschuktschenfest… | …Jewgenij (Schenja) im Reinigungsritual | …Fany im Tschuktschenverein

WM-Ticker: in aller Herrgottsfrühe fand wieder mal ein WM-Spiel statt: Deutschland gewann gegen Frankreich 1:0 im Viertelfinale.

Da wir schon etwas spät dran waren und ich noch auf ein paar Antworten von Michael warte, entschieden wir uns heute mal einen freien Tag zu machen. Da passte es auch ganz gut, dass kurz darauf Schenja vorbei kam und meinte, es würde ein Tschuktschen-Fest in Cherskij veranstaltet. Prinzipiell war es dem Mitsommerfest ähnlich, nur dass das Essen dieses Mal nichts kostete. Die Darbietung (Neudeutsch und Englisch: Performance) war dagegen sehr ähnlich. Auch Cherskij als Stadt unterscheidet sich kaum von anderen russischen Städten, nur das die Plattenbauten auf Pfählen stehen. Die Bäckerei sieht eher wie ein Konsum (Beachte: Betonung auf der ersten Silbe) aus und die Inhaberin öffnet auch erst nach dem Klopfen eines Ortsansässigen. Die Diskussionen werden nun auch abends tiefgründiger, jetzt, da man die Möglichkeit hat sich gegenüber Christian und Fany seiner Muttersprache zu bedienen.

 

06.07.2014:

Parkfamilienhaus | Pleistozänpark heute | Pleistozänpark heute und vermutlich im Pleistozän
Parkfamilienhaus | Pleistozänpark heute | Pleistozänpark heute und vermutlich im Pleistozän

Wir wissen noch nicht, was heute passieren soll, denn beim Ablegen mit dem Boot treffen wir Nikita und lassen uns sagen, dass er heute Amerikaner in den Park führt. Also müssen wir unser Programm kurzfristig ändern. Statt Flussmessungen sind daher heute Kammersetups fällig. Nachmittag kommt Nikita dann auch vorbei und wir folgen mit unserer Nuckelpinne dem Konvoi, oder versuchen es zumindest. Aber wir kommen schließlich an. Dort geht es durch Schlamm und hochstehendes Wasser durch die Prärie, bis ein Abflusskanal den Weg versperrt. Einige versuchen nun eine Brücke aus Baumstämmen zu bauen, andere über schwimmende Holzstämme ans andere Ufer zu gelangen und da entscheiden sich die Deutschen dazu lieber vor Ort zu bleiben, da mittlerweile so mancher schon ins Wasser gefallen ist und es letztlich nur um Arbeitshilfe für einen amerikanischen Studenten geht. Noch rasch die Eishöhle im Permafrost besucht, wo gleichzeitig Nahrungsmittel gelagert werden und dann geht es auch schon wieder zurück, mit dem Boot, allein durch eine Labyrinth von flüssigen Abzweigungen.

 

Selbstbaubrücke | Eishöhle mit Permafrost | Gefrorene Gasblase?
Selbstbaubrücke | Eishöhle mit Permafrost | Gefrorene Gasblase?

Wir hatten noch einmal vollgetankt, um im Falle falscher Abzweigungen noch genügend Treibstoff für die weitere Suche zu haben, verpassten es aber unseren Weg festzuhalten. Nach einigen falschen Versuchen und Abzweigungen hilft nun auch Nikitas Skizze nichts mehr. Obwohl wir diese Gegend zuvor noch nicht sahen und es nur einen einzigen Weg zurück gibt, entscheide ich mich als Bootsführer weiter zu fahren, denn die Richtung scheint zu stimmen. Es gibt keine andere Möglichkeit mehr abzubiegen, der Fluss fließt in die richtige Richtung und ewig viel Treibstoff für weiter Versuche bleibt kaum mehr übrig. An dieser Stelle noch mal umdrehen will ich dann auch nicht und so kommen wir auf dem falschen Weg glücklicherweise wieder richtig an der Feldstation an um weiter messen zu können.

Nach den letzten Messungen an diesem Tag ist es eigentlich schon zu spät für das Abendessen, aber wie wir daheim erfahren, hat sich ein anderes Boot auch verfahren und so sind wir lange nicht die letzten. Da wir noch einen Sack gefrorenen Fisch mitnehmen sollen, mache ich beim Ausladen des Sackes aber auch noch Bekanntschaft mit dem Wasser, durch schlechte Balance mit diesem übermäßig schweren Gepäck.

 

07.07.2014:

Natürlich haben wir das Pensum der Flussmessungen nicht geschafft, durch Benzinprobleme, die Einführung von Fany und Christian in die Messsysteme und wegen Kammersetup-Messungen. Noch ein letztes Tischtennismatch mit Schenja bevor er für die nächsten Wochen in die Tundra aufbricht und dann ist der Tag auch schon vorbei.

 

08.07.2014:

Wowa befahl uns einen Hund vom Park mit nach Cherskij zu nehmen. Anscheinend ist das Tier krank und sollte erschossen werden. Wowa konnte oder wollte das nicht tun und wir dachten, in Cherskij wäre das normal. Doch an der Forschungsstation weiß niemand etwas davon und alle russischen Männer sind gerade in der Tundra auf Tour, so dass Nasdja nun von uns verlangt, dass wir ihn morgen wieder mitnehmen. Aber wir spielen hier doch nicht den Tiertransport!

Interessant ist die Art den Müll loszuwerden: in gewissen Zeitabständen wird alles Unbrauchbare zusammengekarrt und entsprechend verbrannt.

 

Müllverbrennungswolken… | … und -dunst
Müllverbrennungswolken… | … und -dunst

09.07.2014:

WM-Ticker: Halbfinale: Deutschland – Brasilien. Nachdem ich dachte es würde ein knappes Ergebnis geben, schossen die Deutschen schon in der ersten Halbzeit fünf Tore! Endergebnis: 7:1.

Die Wassermessungen verliefen rascher als gedacht, obwohl wir durch das WM-Halbfinale und erneute Such nach Benzin für das Boot erst spät loskamen. Doch nun können wir unsere neue Konstruktion ausprobieren: die schwimmende Kammer. Weniger Mücken resultierten außerdem durch etwas Wind an diesem Tag. Die Unterhaltungen mit den Amerikanern und Nasdja an diesem Abend sind auch erfreulich.

 

10.07.2014:

Michael ist (per E-Mail) - gelinde gesagt - verwundert darüber, dass wir so lange für die Messungen brauchen. Er kann sich nicht vorstellen, warum man manchmal mehr Zeit benötigt als der Zeitplan vorsieht. Tja, wie sagte man beim Bund: ‚Keine Einheit, die je einen Krieg überstand, hat auch eine Inspektion überlebt; und keine Einheit, die je eine Inspektion überstand, hat je einen Krieg überlebt.‘ Deswegen macht der abgebrochene Henkel auch hoffentlich nicht so viel aus, den die Messkammer jetzt weniger hat.

 

Bugshirts und Fany mit Eddy-Turm | In der Kammer | Schenja mit Quadcopter
Bugshirts und Eddy-Turm | In der Kammer | Schenja mit Quadcopter

11.07.2014:

Okay, der Henkel ist soweit repariert. Zum Glück fanden wir einen Ersatzhenkel im Container, aber die Flussmessung kommt wieder nicht zu einem Ende. Durch die Verspätung in der Polizeiwache um unsere Fingerabdrücke abzugeben haben wir eine neue Ausrede. Dafür war die Mückendichte fast unerträglich.

 

12.07.2014:

Dieser Tag ist durchaus erfolgreich: Rest der Flussmessungen, Ebullition, Fernerkundungsbilder und Isotopenmessungen! Mittlerweile hat das Wetter stark gedreht. Seit Christian und Fany da sind hat es nicht mehr geregnet.

 

Aussichten
Aussichten

13.07.2014:

Es ist heiß (heißester Tag des Jahres mit 29,16 °C). Durch die Ebullitionsmessungen haben wir nicht viel zu tun. Aber entweder ist das gut, weil wir so weniger der Sonne ausgesetzt sind oder schlecht, weil uns die Hitze dadurch noch bewusster wird. Zwischendurch machen wir noch ein paar Fotos für Isas Fernerkundungsarbeit oder sitzen bei Wowa im Haus. Allerdings nervt es mich mit der Zeit, da er ständig Gespräche anfangen will, wo wir kaum ein Wort verstehen und dann alles mühsam vom Smartphone übersetzen lassen müssen. Letztlich muss ich dann für Unklarheiten herhalten, da Christian das meiste einfach akustisch nicht hört und Fany kaum ein paar Worte Russisch kann, aber als Frau wie Ming meist besser ahnt, was Wowa meint. Dabei gehen meine Erholungsphasen mit umständlicher Wort- und Gesprächssuche sowie gezwungenem Lachen über Wowas Kurzvideos drauf. Mit Fany komme ich besser klar als erwartet. Dagegen gibt es immer mal wieder Meinungsverschiedenheiten mit Christian. Er ist eben ein Öko, wie er selbst behauptet. Das heißt: Alles wird positiv, blumig und harmlos gesehen. Alles wird gut gefunden und Zweifel sowie ehrliche Meinungen gegenüber Schwächeren werden aus Höflichkeit verdrängt. Stattdessen immer darum wetteifern mehr Fürsorge als andere zu zeigen sowie die Welt retten wollen – das sind die Devisen.

Ein anderes Beispiel: Ein Vogel war auf den Holzplanken an einem Teerfleck hängen geblieben. Nun sollte ich ihn dort entfernen, bevor ein Raubtier komme und ihn fresse. Für mich war das eine typische Evolutionangelegenheit: Der Erfolgreiche gewinnt und wenn der Mensch sich hier einmischt, spielt er noch mehr Gott. Und wenn den anderen soviel an dem Tier hing, warum haben sie es nicht selbst befreit? Nun ja, zwischen der Entscheidung aktiv einen Hund zu erschießen um ihn vor schlimmeren Leiden zu bewahren, die niemandem etwas bringen und einen Vogel retten, der an einer Planke festhängt sehe ich eben doch einen Unterschied, sei es nun aus moralischen Gründen oder aus Faulheit.

Ein anderes Beispiel, das mich aufregte waren Worte zum heißesten Tag: „Und jetzt ein schöner heißer Tee zum Abkühlen.“ Wer bitte bekämpft Hitze mit Hitze?? Das klingt für mich schon wieder homöopathisch! Ja, man soll keine eiskalten Getränke in der Hitze trinken, weil der Körper empfindlich darauf reagieren kann und mit einer Erwärmung reagiert um die Kälte auszugleichen. Aber wenn man schon überhitzt ist noch mehr Hitze zuzuführen ist genauso schwachsinnig. Zumindest trinke ich im Winter Heißgetränke um mich aufzuwärmen, statt ein Eis zu essen und das funktioniert ganz gut!

 

Sicherlich werden man auch an mir seine Mängel finden, denn auch ich bin nicht perfekt – und dann kann man das auch beschreiben ;)

 

14.07.2014:

Weltmeister!
https://www.wallpaper-gratis.eu/flaggen/deutschland/deutschland-weltmeister.php

Das Erste heute früh war das WM-Finalspiel gegen Argentinien: Was für ein Krimi! Götze schießt erst in der 113. Minute das erlösende Traumtor, denn der Gegner ist auf Augenhöhe. Nur Messi muss nachdem vergebenen Freistoß aus mehr oder weniger torgefährlicher Distanz in der allerletzten Minute lachen, wahrscheinlich darüber, wie absurd hoch der Druck gewesen sein muss, der in diesem Moment auf ihm lag.

Im Feld macht der Analysator wieder Probleme, weil das W-LAN ausfällt, das Stromkabel nur noch zickt und dann erst die Kammer, schließlich aber auch die Abdeckfolie erste Verschleißerscheinungen zeigt. Doch immerhin gab es auch so einige, zufällige Ebullitionsereignisse.

Des Abends sitzen wir noch bis in die Nacht und quatschen über so manche Leutchen. Auf der Rückfahrt vom Feld hatten wir die letzten 200 Meter paddeln müssen, da uns das Benzin ausging. Sergej hatte früh noch gesagt: „Aber lasst etwas im Kanister drin, wenn ihr das Benzin aus meinem Boot in euers umschüttet, denn ich muss auch noch wegfahren.“ Deshalb hatte ich vielleicht ein paar Milliliter zu wenig umgefüllt. Glücklicherweise schaffen wir es allerdings im letzten Moment den Anleger zu erreichen, bevor uns die Strömung ins Eismeer getragen hätte.

 

15.07.2014:

Heute ist es schlimm mit dem Wetter: Kein Wind, schwül warm, massenweise und aggressive Mücken. So hartnäckig umschwärmt von weiblichen Wesen war ich selten in den letzten Wochen. Gut, dass wir nur einen halben Tag im Feld sind.

 

16.07.2014:

Letztes Mal Feldmessungen. Wie zu Anfang ist es kalt und bewölkt. Ming will möglichst noch die Auswertung der Messungen von mir fertig haben. Völlig utopisch, schon allein, weil das R-Skript nicht sinnvoll funktioniert! Fany hat außerdem noch Geburtstag und ein feines Fresserchen wird abends dazu aufgetischt. Nur Christian verwundert mich stets erneut, wenn er immer wieder alles (vornehmlich von Fany) als „süß“ oder „goldig“ kommentiert. Einen Mann, der so redet, kann ich einfach nicht ernst nehmen.

 

Nebenfluss | Spiegelfluss | Mischfluss
Nebenfluss | Spiegelfluss | Mischfluss

17.07.2014:

Nun will auch noch Christian die Auswertung der Ebullition haben! Ich schaffe schon Ming’s Kammer-Setup-Graphen nicht, wie denn dann noch die Ebullition, zumal noch nicht mal ein Algorithmus dafür existiert? Das wäre am Ende meine gesamte Masterarbeitsauswertung an einem Tag, noch während der Feldmessungen, wofür die meisten (und selbst Christian) meinen, einen halbes Jahr würde nicht ausreichen. So: what?

 

Ein letzter Eindruck von Cherskij:

R    ustikal romantisch

U   nglaublich urig

S    agenhaft sibirisch

S    aumäßig süffig

I     rre improvisorisch

S    anft sergejewi(t)sch

C    haotisch cherskiisch

H   eldenhaft hammergeil!

 

So wird dieses Kapitel zugeschlagen und das nächste geöffnet. Dies war nun eine Geschichte über verrückte Krähen, die sich kaum auf den kümmerlichen Lärchenspitzen halten konnten, von redseligen Amerikanern, die immer locker drauf sind (besonders hervorzuheben ist Seth), von der Einsamkeit in einem Sumpfgebiet und diversen Bootsfahrten darin (teils mit bedenklich wenig Treibstoff in bedenklich verzweigten Kanallabyrinthen), und darüber, dass dort oben in der Wildnis alles nicht so eng gesehen wird – manches aber schon (z.B. die politische Entwicklung, dass Frauen Männerjobs erledigen oder dass kranke Hunde einfach erschossen werden). Man konnte in den einsam verlassenen Wäldern auch auf bauschaumversiegelte Regierungsgebäude stoßen oder auf merkwürdige Bärenfallen. Nicht zuletzt dadurch macht das darüber bewusst, unter welchen Umständen Menschen auf der Welt zu leben bereit sind, vor allem in den hier schier ewig anhaltenden Wintermonaten, in denen selbst bei -55 °C noch die Hunde ihre Welpen werfen.

 

Danksagung:

Trotz kleinerer Bemängelung, Kritiken und des einen oder anderen zwischenmenschlichen Problems geht mein Dank an die Gefährten der Reise:

Prof. Focken für die fachliche Vorbereitung durch seine Vorlesung und das Feldseminar in Lindenberg; Michael Gödecke für seine fachliche Betreuung, die Organisation der Reise, die finanzielle Unterstützung sowie seine Bereitschaft Christian und mich die Anreise bzw. Abreise mit der Transsib durchführen zu lassen; Ming für ihre fachliche und technische Unterstützung sowie für den Spaß an der Feldarbeit; Fany, Friedmann und Isa für die Begleitung bei den gemeinsamen Strapazen; und natürlich Christian für seine allgemeine Unterstützung, Reiseplanung und die Zugticketbuchung zur Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn, wie sie in einem folgenden Bericht erzählt werden wird…